Deutschland hat gewählt. Wer ins Kanzleramt einzieht, ist jedoch noch unklar. Das Ringen um die Macht geht weiter. "WortMelder hat mit Prof. Dr. André Brodocz, Politikwissenschaftler an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt" gesprochen und ihn um ein Resümee gebeten...
Haben wir eine historische Bundestagswahl erlebt, Herr Professor Brodocz?
Das kann man sicherlich sagen und zwar in mehrfacher Hinsicht: Die CDU/CSU hat ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 eingefahren, umgekehrt haben die Grünen zuvor noch nie so viele Stimmen bei einer Bundestagswahl bekommen. Ebenso einzigartig ist, dass CDU/CSU und SPD zusammen noch nie so wenig Zustimmung bekommen haben, wie bei dieser Wahl. Das Zeitalter der sogenannten „Volksparteien“ geht jetzt sicherlich zu Ende. Aber nicht nur die Ergebnisse waren historisch. Auch der Umgang damit war außergewöhnlich. Die Union verliert fast neun Prozentpunkte, hat das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte, aber Armin Laschet denkt nicht an Rücktritt. Die Grünen gewinnen fast sechs Prozentpunkte dazu, keine andere Partei hat mehr dazugewonnen, aber alle sind eher enttäuscht. Schließlich bietet die FDP, die sich nur um einen Prozentpunkt steigern konnte, den Grünen an, dass sie zunächst unter sich abklären, was zusammen in einer Regierung möglich ist und erst danach auf SPD und Union zugehen – also den Parteien, die die Kanzlerschaft beanspruchen.
Ist die AfD die Gewinnerin im Osten? In Sachsen und Thüringen ist sie schließlich stärkste Partei geworden...
Blicken wir dafür zunächst auf die Union. Sie verliert im Osten mehr als zehn Prozentpunkte. Aber die AfD gewinnt über alle fünf ostdeutschen Länder nichts hinzu, sogar in Sachsen verliert sie Stimmen. Allein in Thüringen gewinnt sie gegenüber der letzten Bundestagswahl, aber auch nur ca. einen Prozentpunkt. Nach Zweitstimmen ist sie in Thüringen die stärkste Partei, nach Erststimmen ist dies allerdings die SPD. Stärkste Partei wird die AfD in Thüringen und Sachsen also nur, weil die CDU so viele Stimmen verliert; aber die gehen nicht an die AfD. Sie kann also von der Schwäche der CDU/CSU nicht profitieren.
Gibt es auch Verlierer, außer der CDU/CSU?
Unter den Parteien ist dies sicherlich die Linke. Hier setzt sich ein negativ-Trend der vergangenen Jahre fort, den allein die Landtagswahl in Thüringen unterbrochen hatte. Allerdings verliert die Linke bei der Bundestagswahl in Thüringen sogar noch mehr als im Bundesschnitt. Sie erreicht nur etwas mehr als elf Prozent, während sie bei den jüngsten Umfragen für die Landespolitik mehr als das Doppelte an Zustimmung bekommen hat. Dies macht deutlich, wie stark der Anteil von Bodo Ramelow bei den Landesergebnissen der Linken zu gewichten ist. Ein zweiter Verlierer sind die jungen Wählerinnen und Wähler unter 30 Jahren. 22 Prozent von ihnen wählten die Grünen, 19 Prozent wählten die FDP – dies sind die stärksten Parteien in der jungen Generation. Im Bundesergebnis sind jedoch CDU und SPD stärker, die beide zusammen von fast 70 Prozent der über 60-Jährigen gewählt wurden. Die Repräsentation der Jugend könnte als am Ende genau die Gemeinsamkeit sein, die FDP und Grüne in den kommenden Tagen suchen.