Welche Bedeutung hat die Thüringer Landtagswahl 2024 für die Bundespolitik und die Bundestagswahl 2025? "WortMelder" hat bei André Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt, nachgefragt. In loser Folge schreibt er hier über die Landtagswahl am 1. September – in Teil 3 über die Auswirkungen der Landtagswahl auf die Bundespolitik.
Für das Wahlergebnis im Bund ist der Einfluss Thüringens allein vom Stimmengewicht her betrachtet sehr gering. In Thüringen leben 1,7 Millionen von ungefähr insgesamt 60 Millionen Wahlberechtigten, die bei der Bundestagswahl an die Wahlurnen dürfen. Selbst wenn man die weiteren ostdeutschen Bundesländer zusammennimmt, leben im Osten vergleichsweise wenig Wahlberechtigte. Insgesamt sind es in den fünf ostdeutschen Bundesländern ca. 10 Millionen Wahlberechtigte, davon in Mecklenburg-Vorpommern 1,3 Millionen, in Thüringen 1,7 Millionen, in Sachsen-Anhalt 1,8 Millionen, in Brandenburg 2 Millionen und Sachsen in 3,2 Millionen. Im Osten gibt es also bei der Bundestagswahl insgesamt nur ca. 17% von 100% Wahlstimmen zu gewinnen. Das bevölkerungsreichste Bundesland, Nordrhein-Westfalen, hat allein schon mehr Wahlberechtigte als alle fünf ostdeutschen Bundesländer zusammen. Denn in Nordrhein-Westfalen leben 12,8 Millionen stimmberechtigte Bürgerinnen und Bürger, weshalb bei der Bundestagswahl mehr als 20% aller Wahlstimmen von dort kommen.
Das Thüringer Leichtgewicht auf der Waage des Bundestagswahlergebnis
Wie gering sich die Stimmenanteile im Osten auf das Ergebnis der Bundestagswahl auswirken, lässt sich gut erkennen, wenn man bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 die Ergebnisse im Osten und die im Westen mit dem Gesamtergebnis vergleicht. Die CDU/CSU gewann im Westen 34,1%, insgesamt waren es 32,9%. Die SPD erreichte im Westen 21,9% und 20,5% insgesamt. Die Grünen wählten im Westen 9,8% der Wählerinnen und Wähler, insgesamt waren es 8,9%. Bei der FDP waren es im Westen 11,4%, insgesamt 10,7%. Für die AfD stimmten im Westen 10,7%, insgesamt 12,6%. Und die Linke erzielte im Westen 7,4%, insgesamt 9,2%. Bei jeder Partei wich das Ergebnis im Westen vom bundesweiten Gesamtergebnis somit weniger als zwei Prozentpunkte ab. Betrachtet man also allein das Ergebnis im Westen, dann ist es dem bundesweiten Ergebnis bereits sehr nahe. Das Ergebnis im Osten gibt einen solchen Hinweis nicht. Allein das Ergebnis der FDP im Osten kam 2017 ihrem Ergebnis insgesamt mit ca. drei Prozentpunkten Abstand noch vergleichsweise nah. Vier bis sieben Prozentpunkte war das Ergebnis im Osten dagegen schon bei der CDU (27,6% im Osten, insgesamt 32,9%), bei den Grünen (5% im Osten, insgesamt 8,9%) und der SPD (13,9% im Osten, insgesamt 20,5%) entfernt. Sogar acht bis zehn Prozentpunkte betrug der Unterschied bei der AfD, die im Osten 21,9% und insgesamt 12,6% erreichte, und den Linken, für die im Osten 17,8% votierten, insgesamt 9,2%.
Bei der Bundestagswahl 2021 zeigte sich ein ähnliches Bild. Auch hier sind die Ergebnisse, die die Parteien im Westen erzielten, den Ergebnissen insgesamt sehr nahe. Bei allen betrug der Unterschied zwischen dem West- und dem Gesamtergebnis weniger als drei Prozentpunkte. Im Osten war dies wieder bei der FDP und diesmal auch bei der SPD der Fall. Vier bis sieben Prozentpunkte betrug er dagegen bei der CDU, den Grünen und der Linken. Noch größer war er mit ca. neun Prozentpunkten erneut bei der AfD. Die Ursache für diese Ungleichheit zwischen Ost und West im Hinblick auf das gesamtdeutsche Wahlergebnis liegt dabei in der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger. Da jede Stimme im Osten wie im Westen gleich viel wiegt, sind bevölkerungsschwache Bundesländer wie Thüringen bloß ein Leichtgewicht auf der Waage des Bundestagswahlergebnis. Dennoch ist der Osten für die Parteien interessant, weil sie die Bürgerinnen und Bürger weniger eng an eine Partei gebunden wahrnehmen. Denn Parteimitgliedschaften sind im Osten weitaus seltener als im Westen. So erwarten die Parteien im Osten auch deshalb mehr Wechselwählerinnen und -wähler. Hier lassen sich Stimmen womöglich noch bis Herbst 2025 kurzfristiger Stimmen zugewinnen, genauso drohen hier aber auch bis dahin noch kurzfristige Verluste.
Das Schwergewicht bundespolitischer Themen im Landtagswahlkampf
Das Gewicht, das bundespolitischen Themen in diesem Wahlkampf zukommt, steht dem arithmetisch geringen Stimmgewicht, das die Wählerinnen und Wähler aus Thüringen bei der Bundestagswahl auf die Waage bringen, geradezu diametral entgegen. Ein Außenstehender muss den Eindruck haben, dass hier in Thüringen über Krieg und Frieden in der Ukraine entschieden würde, ebenso über Migrationsbewegungen nach Europa oder über die zukünftige Klima- und Energiepolitik in Deutschland. Dem ist nicht so. Auf diesen Politikfeldern geht nichts ohne die Bundes- oder gar die Europapolitik. Werden die Wählerinnen und Wähler also getäuscht? Diese Bewertung würde voraussetzen, dass die Wählerinnen und Wähler nicht wüssten, dass dies keine Themen sind, über die allein auf Landesebene entschieden werden kann. Das mag für einige so sein, andere sind sich darüber aber durchaus im Klaren. Für sie sind dies grundsätzliche, alle gleichermaßen ansprechende und emotional wirkende Themen, an denen sich die Haltung einer Partei zeigt. An diesen Themen entscheidet sich, ob man sich den Politikerinnen und Politikern als Personen anvertrauen will – und zwar vor allem für zukünftig schwierige, jetzt vor der Wahl noch nicht absehbare Situationen wie zuletzt die Covid-19-Pandemie oder der aktuelle Krieg in Europa. Diese Erwartungen greifen die Parteien auf und machen dazu ein Angebot. Parteien dienen solche Themen außerdem dazu, insbesondere politisch eher uninteressierte Bürgerinnen und Bürgern überhaupt erst einmal für die Wahl zu mobilisieren und das so geweckte Interesse auf die Partei und ihr weiteres Programm zu lenken.
Einträge ins Geschichtsbuch der Bundespolitik
Historisch gesehen wird die Thüringer Landtagswahl 2024 dennoch Akzente setzen. Denn mit ihr könnten für die Geschichte der Bundespolitik wieder einmal Einträge verbunden sein, die es bisher so nicht gegeben hat. Zwei erscheinen dabei bereits schon jetzt absehbar: Zum einen war noch nie eine junge Partei nur wenige Monate nach ihrer Gründung so erfolgreich bei Landtagswahlen, wie es sich derzeit in den Umfragen für das Bündnis Sahra Wagenknecht abzeichnet. Zum anderen wird die AfD mit sehr großer Wahrscheinlichkeit erstmals die stärkste Partei in einem deutschen Landtag werden, auch wenn sie weiterhin weit von einer Mehrheit entfernt bleiben wird. Nicht auszuschließen ist zum Dritten, dass die SPD erstmals aus einem Landtag ausscheidet. Zuletzt erhielt sie bei den Umfragen nicht mehr als 7%. Das könnten am Wahltag auch noch etwas weniger als 5% werden. Dann würde die SPD zum ersten Mal an der Fünf-Prozent-Sperrklausel scheitern (vgl. Teil 2), was nicht ohne Folgen für die Bildung einer neuen Landesregierung bliebe (vgl. Teil 1).