Ob beim Bewerbungsgespräch, vor Gericht, während der Psychotherapie, beim “Tratschen” oder in den Sozialen Medien – die permanente und explizite Selbstthematisierung ist fester Bestandteil unserer Alltagskultur. Ein Workshop unter dem Titel „Das Ich im Rampenlicht – Bedingungen und Kulturbedeutung moderner Selbstthematisierung“, den das Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt gemeinsam mit dem Institut Franco-Allemand de Sciences Historiques et Sociales (IFRA-SHS) in Erfurt veranstaltet hat, nahm jetzt historische wie gegenwärtige Formen von Selbstthematisierung unter die Lupe – von der kirchlichen Beichte bis hin zu Sozialen Medien. In diesem Beitrag für unseren Forschungsblog „WortMelder“ erklärt Steven Sello, Doktorand am Max-Weber-Kolleg und einer der Organisatoren, wie sich die menschliche Selbstdarstellung im Laufe der Zeit verändert und welche kulturelle Bedeutung sie in modernen Gesellschaften hat…
"Der Begriff der Selbstthematisierung umreißt ein weites Feld, das von hochgradig stilisierten Formen der öffentlichen Selbstdarstellung, wie etwa der Politikerbewerbung, bis hin zu Formen der stillen Selbstreflexion, z. B. dem Tagebuchschreiben, reicht. Im Kontrast zum soziologischen Prozessbegriff der Individualisierung macht der Fokus auf Selbstthematisierung den Blick auf verschiedene empirische Formen und ihre jeweilige Kulturbedeutung frei. Es gibt Formen der Selbstthematisierung, die nicht zu mehr Individualisierung führen, sondern die eher einen kollektivierenden Effekt haben. Dazu zählt beispielsweise die sowjet-kommunistische Selbstkritik. Die Beschuldigten mussten ihre Verfehlungen, sprich die Abweichung von der Parteilinie, öffentlich bekennen. Diese Selbstthematisierung zielte auf eine (Wieder-)Eingliederung in das Parteikollektiv.
Das autobiografische Sprechen, eine besonders bedeutsame Form der Selbstthematisierung, hat sich im Laufe einer langen Kulturgeschichte herausgebildet. So war zum Beispiel die kirchliche Beichte in der europäischen Geschichte eine zentrale Institution für autobiografisches Erzählen. Seit der Renaissance kam es zu einem zunehmenden Auftreten von schriftlichen Selbstzeugnissen, vor allem in Form von Tagebüchern und Briefen. Das wortreiche Reden und Schreiben über sich selbst wird zum Kennzeichen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Der Soziologe Alois Hahn spricht in diesem Zusammenhang von „Biographiegeneratoren“. Damit sind soziale Anlässe und Institutionen gemeint, die eine Selbstdarstellung einfordern oder nahelegen.
Die Ausweitung der Selbstthematisierung hing mit einer sich wandelnden Gesellschaftsstruktur zusammen. Die gesellschaftliche Stellung und der Lebensverlauf waren immer weniger durch die soziale und familiäre Herkunft vorherbestimmt. Wenn die Lebensgeschichte so oder auch ganz anders verlaufen kann, ergibt sich ein Bedarf, davon zu erzählen. Je mehr soziale Position, Lebensverlauf und Lebensentscheidungen als kontingent betrachtet werden, desto mehr wird das Selbst zum Thema. In diesem Zug entsteht in vielen Kontexten ein Rechtfertigungsbedarf, warum man so und nicht anders gelebt und gehandelt hat. Erfolg und Scheitern werden individuell zugerechnet und begründungsbedürftig.
Außerdem begünstigen die pluralistische Kontingenzkultur und der regelmäßige Verkehr einander unbekannten Menschen marktförmige Sozialverhältnisse. Heißt: Man muss sich entsprechend präsentieren und dabei gleichzeitig Passgenauigkeit und Authentizität signalisieren – beispielsweise in Job- oder Partnermärkten.
Besonders augenfällig ist die ausgeprägte Selbstthematisierung im Internet und in den Sozialen Medien. Die Dichte der Kommunikation und die Anzahl der Kommunikationspartner nimmt enorm zu und damit verschärft sich auch die Konkurrenz im Kampf um Aufmerksamkeit. Wenn man nur einmal die Merkmale Sozialer Netzwerke betrachtet – Kommunikation unter physisch Abwesenden; Kombination von Text, Bild und Video; zeitversetzte Kommunikation; die Überschneidung von sozialen Kreisen wie Freunde, Familie und Arbeitskollegen; die Bedeutung der Anzahl von Reaktionen (Likes); Langzeitspeicherung; das Algorithmen-gesteuerte Ausspielen von Inhalten usw. – dann ergibt sich im Zusammenspiel eine Kommunikationsform, die weitreichende soziokulturelle Folgen hat. Die Effekte bestehen unter anderem in einer Tendenz zum Expliziten (Ironie und Zwischentöne werden kaum verstanden); zur Aufregung (generiert mehr Reaktionen) und zur Vereinheitlichung von Darstellungs- und Kommunikationsmustern (für erhöhte Anschlussfähigkeit). Hier lässt sich ein gegenläufiger Prozess beobachten: Während sich einerseits die Kommunikationsmuster im globalen Maßstab angleichen, kommt es andererseits zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die klassischen Medien mit ihrer Funktion, Informationen zu filtern und einzuordnen, verlieren massiv an Bedeutung. Vor allem gibt es nicht mehr oder immer weniger die eine Öffentlichkeit, auf die sich alle berufen.
Die jeweiligen Formen der Selbstthematisierungen geben uns Auskunft über die Funktionsweise von Gesellschaften. Für ein umfassendes Verständnis braucht es den Austausch von Philosophie, Psychologie sowie von Geschichts- und Sozialwissenschaften. Dazu hat der Workshop am Max-Weber-Kolleg einen ersten Anstoß gegeben."