Katholische Schriftstellerinnen als Produkte und Produzentinnen „katholischer Weiblichkeit“?

DFG-Projekt

Laufzeit Phase 1: 1.9.2016 – 31.8.2019
Laufzeit Phase 2: 1.3.2021 – 31.8.2023

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Projektbearbeiterin

Dr. Antonia Leugers

Projektbeschreibung

Abbildung Kolb

Die neo-ultramontane und antimodernistische Phase des Katholizismus (zeitlich etwa Mitte des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts) war geprägt von normativ-katholischen Weiblichkeitszuschreibungen, wodurch die Pluralisierungsdynamik dieser Jahrzehnte meist verdeckt bleibt. Beharrung, Wandel und (un)gleichzeitige emanzipative Vorstellungen über eine katholische Geschlechterordnung sollen daher kirchenhistorisch anhand biographischer Quellen und literarischer Werke katholischer Schriftstellerinnen rekonstruiert werden. Als Vertreterinnen eines freien Berufs repräsentierten sie im Gegensatz zu Frauen aus dem Verbandskatholizismus eine ungebundene heterogene Gruppierung, die mit ihren Werken eine öffentliche Wirkung bei der Leserschaft erzielen wollte. Damit wurden sie zu Akteurinnen im Feld des literarischen Katholizismus. Das Bild, das katholische Schriftstellerinnen im Werk von „Weiblichkeit“ zeichneten, und die Korrelation dieses Bildes mit ihrem biographiegeschichtlich zu eruierenden Selbstverständnis zwischen Adaption, Modifikation und Überwindung katholischer Geschlechterordnung soll vertieft erforscht werden, ohne einem „biographistischen Zirkelschluss“ (S. Nieberle) zu erliegen. Damit kann die geschlechtergeschichtliche Erweiterung der Katholizismusforschung durch Bearbeitung eines weiteren Forschungsdesiderats eingelöst werden.

In einem dreifachen Analyseschritt soll „katholische Weiblichkeit“ – indirekt auch „katholische Männlichkeit“ – an Leben und Werk katholischer Schriftstellerinnen untersucht werden. (1) Die Auswertung der biographischen Eckdaten dieses Kollektivs erschließt, inwieweit es selbst eine Art typologisches „Produkt“ normativ katholischer Weiblichkeitszuschreibungen war. (2) Die Auswertung zentraler Prosawerke mit komplexen Wirklichkeitsbezügen (Roman, Erzählung, Novelle) erschließt, inwieweit die Schriftstellerinnen in Entsprechung zu oder in Absetzung von ihrem eigenen Lebensentwurf „katholische Weiblichkeit“ reflektierten und in ihren fiktionalen literarischen Figuren bzw. in Selbststilisierung „produzierten“. Dazu sollen auch autobiographische Werke mit herangezogen werden. (3) Die Auswertung von Ego-Dokumenten (Tagebuch, Brief) erschließt, inwieweit Diskrepanzen in der subjektiven Aneignung bestanden.

Die in interdisziplinärer Kooperation von Neuerer Kirchengeschichte, Katholizismusforschung, Germanistik und Informatik entwickelte relationale Datenbank zu den katholischen Schriftstellerinnen wird zur Nachnutzung bereit gestellt.

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Copyright Bay. Staatsbibliothek München

Den Untersuchungszeitraum zwischen katholischem Literaturstreit (1908) und Zweitem Vatikanum (1962) markieren zwei Werke katholischer Schriftstellerinnen.

Die deutsche Schriftstellerin Nanny Lambrecht (1868-1942), die bis zu ihrem Tod mit ihrer Partnerin Fanny Bierens zusammen lebte, bricht in ihrem 1909 erschienenen Roman „Armsünderin“ mit der normativ-katholischen „Tendenzliteratur“ und deren Weiblichkeitszuschreibungen. Ihre weibliche Hauptfigur, die von der katholischen Dorfgemeinschaft als Sünderin stigmatisierte ledige Mutter, fleht den Bischof als Vertreter einer Religion der Barmherzigkeit an:

„’Bischöfliche Gnaden! Jetzt wird mei Kind groß! Et wird frage, warum ich so verachtet sin; et sieht mich im Armsünderstuhl, mei unschul’ig Kind! Ich ho jo d a t nur! Nur d a t uff der Welt! Bischöfliche Gnaden! Soll mich auch mei Kind verachte lerne? Bischöfliche Gnaden! Dann will ich lieber sterwe! Dann will ich gottlos werde! Dann is kei Gott un kei Gerechtigkeit! Liewer Gott! Liewer Gott! Wenn sich jetzt niemand erbarme will – – !’“

Aus: Nanny Lambrecht, Armsünderin. Roman aus dem Hunsrück, Jos. Kösel’sche Buchhandlung, München und Kempten 1909, S. 496.

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Copyright Piper Verlag München

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926-1973), die damals mit dem Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) zusammen lebte, thematisiert in ihrer 1961 erschienenen Erzählung „Ein Schritt nach Gomorrha“ den Beginn einer lesbischen Beziehung. Die weibliche Hauptfigur, die verheiratete Charlotte, verliebt sich in die Studentin Mara. Ihre Loslösung von der binär festgelegten Geschlechterrolle spielt sie gedanklich in der Konsequenz bis zur biblischen Erzählung vom Sündenfall durch:

„Charlotte beugte sich über Mara, die jetzt, im Schlaf, keine Gefahr mehr war, küßte sie auf die Brauen, die schön geschweift und feierlich in dem fahlen Gesicht standen, küßte die Hand, die niederhing von dem Sessel, und dann, sehr heimlich, schüchtern beugte sie sich über den blassen Mund, von dem das Lippenrot im Lauf der Nacht verschwunden war.
Könnte dieses Geschlecht doch noch einmal nach einer Frucht greifen, noch einmal Zorn erregen, sich einmal noch entscheiden für seine Erde! Ein andres Erwachen, eine andere Scham erleben! Dieses Geschlecht war niemals festgelegt. Es gab Möglichkeiten. Die Frucht war nie vertan, heute nicht, heute noch nicht. Der Duft aller Früchte, die gleichwertig waren, hing in der Luft. Es konnten andre Erkenntnisse sein, die einem wurden. Sie war frei. So frei, daß sie noch einmal in Versuchung geführt werden konnte. Sie wollte eine große Versuchung und dafür einstehen und verdammt werden, wie schon einmal dafür eingestanden worden war.“

Aus: Ingeborg Bachmann, Ein Schritt nach Gomorrha, in: Das dreißigste Jahr. Erzählungen, Verlag Piper, München 1961, S. 166.

English Version

Female Catholic authors as product and producer of „Catholic femininity“?

Female Catholic authors as product and producer of „Catholic femininity“?

Catholicism’s neo-ultramontane and anti-modernist phase (around the middle of the 19th and middle of the 20th century) was characterised by normative Catholic attributions of femininity, through which the pluralisation dynamics of that decade remained largely hidden. Inertia, change and (un)simultaneous emancipatory conceptions regarding Catholic gender norms will be reconstructed along church-historical lines based on biographical sources and literary works by female Catholic authors. In contrast to women active in the Catholic associations, these writers, as representatives of an independent profession, strove through their works to elicit a public effect among their readership. In this way, they became actors in the field of literary Catholicism. The image that Catholic female writers drew of “femininity” and the correlation of this image with their historical-biographical self-understanding as they adapted, modified and overcame Catholic gender norms has been researched in-depth without succumbing to a “biographical circular argument“ (S. Nieberle). In this way, the expansion of Catholic research along gender history lines is being made possible through the analysis of a further research desideratum.

In a triple-layered analysis, “Catholic femininity” (and, indirectly, “Catholic masculinity”) are examined through the lives and works of Catholic female authors. (1) The evaluation of the biographical benchmarks of this collective reveals the extent to which it is, in itself, a kind of typological “product” of normative Catholic attributions of femininity. (2) The evaluation of central works of prose with complex links to reality (novels, narratives, short stories) reveals the extent to which the female authors reflected “Catholic femininity” either in correspondence with or in rejection of their own life plans and “produced” it in their fictional literary figures or in self-stylization. In addition, autobiographical works are included in this analysis. (3) The evaluation of ego-documents (diaries and letters) reveals to what extent discrepancies appear in their subjective appropriation.

The relational database on the female Catholic authors that was developed in interdisciplinary cooperation with modern church history, Catholic studies, German studies and computer science will be made available for subsequent use.

 

Tagung

Den Bericht zur Tagung: Literatur – Gender – Konfession. Katholische Schriftstellerinnen (I): Forschungsperspektiven, 19.1. - 21.1.2018, Erfurt, finden Sie unter:

Tagungsbericht, H-Soz-Kult, 05.03.2018,
www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7584

Tagung

Katholischer Literaturstreit als Zäsur. Anfragen an ein Forschungsnarrativ, 
2.-4. Dezember 2022 | Erfurt

Programm (PDF)

Publikationen (Phase 1)

Jörg Seiler (Hg.): Literatur - Gender - Konfession. Katholische Schriftstellerinnen 1: Forschungsperspektiven, Regensburg 2018.

Antonia Leugers, Literatur - Gender - Konfession. Katholische Schriftstellerinnen 2: Analysen und Ergebnisse, Regensburg 2020.