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Ein Plädoyer für die Impfpflicht – jetzt also doch?

Im Rahmen des COVID-19 Snapshot Monitorings (COSMO), einem Gemeinschaftsprojekt von Universität Erfurt, Robert Koch Institut, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Leibniz-Institut für Psychologie, Science Media Center, Bernhard Nocht Institut für Tropenmedizin und Yale Institute for Global Health, fühlt ein Expertenteam der Uni Erfurt seit Beginn der Corona-Pandemie Bürgerinnen und Bürgern "auf den Zahn". Die Studie befragt sie nach ihrem Wissen rund um Corona, ihrer Riskowahrnehmung, ihrem Vertrauen in die Politik und ihrem individuellen Verhalten beispielsweise hinsichtlich des Impfens oder des Trages einer Maske uvm. Die Ergebnisse werden regelmäßig veröffentlicht – auch werden Handlungsempfehlungen für Wissenschaft und Politik daraus abgeleitet. Heute veröffentlichte das Team ein neues Papier, das für manche überraschend ist:

"Wir setzen uns für gute Gesundheitskommunikation und evidenzbasierte Entscheidungen ein und bislang haben wir eine Impfpflicht abgelehnt", erklärt Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Uni Erfurt und Leiterin des COSMO-Teams.

Die aktuelle Lage führt aber auch bei uns zu einer Neubewertungstellen dieser Frage. Wir haben die Gründe für und gegen eine Impfpflicht in den Kontext der aktuellen Situation gestellt und plädieren nun dafür, die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht schnellstens zu prüfen."

Trotz aktuell steigender Impfbereitschaft unter den Erstimpfungen sei derzeit nicht abzusehen, dass die vom Robert Koch Institut (RKI) geforderten Impfquoten für die künftige Kontrolle des SARS-CoV-2 Virus mit den bisherigen Maßnahmen zur Steigerung der Impfbereitschaft erreicht werden können, heißt es in dem nun vorgelegten Papier. Die Wissenschaftler*innen führen darin zunächst die Vorteile und Nachteile einer Impfpflicht auf:

Vorteile einer Impfpflicht:

  • Eine Impfpflicht ist sozial und stärkt das Gemeinwohl.
  • Eine Impfpflicht kann effektiv sein.
  • Eine Impfpflicht gegen COVID ist aktuell akzeptiert.
  • Eine Impfpflicht kann sich positiv auf die Gesellschaft auswirken.
  • Eine Impfpflicht kann Vertrauen stärken.

Nachteile einer Impfpflicht:

  • Eine Impfpflicht entbindet nicht von der Aufklärung.
  • Eine Impfpflicht kann psychologische Nebenwirkungen haben.
  • Eine zielgruppenspezifische Impfpflicht könnte die Gesamt-Impfquote negativ beeinflussen.
  • Eine Impfpflicht könnte “impffaul” machen.
  • Eine Impfpflicht braucht begleitende Maßnahmen zur Stärkung der Akzeptanz.

Bislang hatten die Wissenschaftler*innen aus Psychologie und Gesundheitskommunikation aus den letztgenannten Gründen eine Impflicht – nicht nur mit Blick auf Corona – nicht grundsätzlich befürwortet, sondern sich viel mehr für eine informierte, evidenzbasierte Impfentscheidung eingesetzt. "Aufgrund der zu erwartenden hohen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Kosten und Belastungen, die das Fehlen einer Impfpflicht und damit eine zu niedrige Impfquote mit sich bringt, empfehlen wir jedoch nun, umgehend Beratungen über das Design, die Umsetzung, die rechtliche Grundlage und die Abfederung möglicher Folgen zu beginnen", sagt Cornelia Betsch. Hierfür, so die Empfehlung, solle nun ein interdisziplinär besetztes Expertenteam herangezogen werden, in dem auch Sozial- und Verhaltenswissenschaftler*innen sowie Bürger*innen vertreten sind.

Hintergrund:
Bei 8 bis 9 von 10 Ansteckungen ist mindestens eine Person ohne Impfschutz involviert – entweder als Ansteckende*r, als Angesteckte*r oder meistens beides. Die Infektionszahlen sind vor allem in Regionen Deutschlands sehr hoch, in denen die Impfquote niedrig ist. Die Impfbereitschaft der noch ungeimpften Personen ist in diesen Teilen Deutschlands auch geringer als in den Regionen mit bereits hoher Impfquote (siehe COSMO #56). Zwar steigt aktuell die Impfbereitschaft auch unter Ungeimpften minimal, jedoch ist über die Hälfte der aktuell Ungeimpften “auf keinen Fall” zu einer Impfung bereit (COSMO #56). "Selbst wenn sich alle bislang nicht geimpften Personen sofort impfen ließen, würde es aktuell zu lange dauern, um die vierte Welle effektiv zu brechen", heißt es in dem vorgelegten Papier. Andere Maßnahmen würden hier notwendig und auch nach der vierten Welle sei eine hohe Impfquote erforderlich, um weitere Wellen zu verhindern.

Politiker*innen vieler Parteien haben sich öffentlich bereits früh in der Pandemie gegen eine Impfpflicht ausgesprochen und mögen ein Umschwenken jetzt als Wortbruch wahrnehmen. "Jedoch haben sich inzwischen viele Aspekte in der Pandemie geändert. Eine Anpassung der eigenen Haltung zeigt Stärke und kann auch verlorengegangenes Vertrauen wieder erhöhen", heißt es in dem Papier weiter. Bereits geimpften Personen haben laut der COSMO-Studie aktuell noch ein höheres Vertrauen in die Politik als ungeimpfte Personen. Durch langsames Handeln bei rasant steigenden Fallzahlen sinke aber auch deren Vertrauen (COSMO #56). "Die Einführung einer effektiven Infektionsschutzmaßnahme könnte also bei dieser großen Gruppe, der Mehrheit, das beschädigte Vertrauen wieder reparieren."

Cornelia Betsch ist durchaus selbstrefleketiert: "Viele der Forschungsarbeiten aus unserer Arbeitsgruppe haben bislang ebenfalls eine ablehnende Haltung zur Impfpflicht unterstützt. So haben wir beispielsweise kritische Stellungnahmen zur Masernimpfpflicht verfasst und uns auch in der Corona-Pandemie bislang kritisch zu einer möglichen Impfpflicht geäußert. Als inhaltliches Hauptargument gegen die Impfpflicht haben wir auch die psychologischen Nebenwirkungen einer Impfpflicht aufgeführt: nämlich, dass eine Impfpflicht bei Personen, die Impfungen ablehnen, zu 'Trotzverhalten' führen und sich so auch negativ auf andere (freiwillige) Impfentscheidungen auswirken kann. Wir verfolgen aber in jedem Fall mit großer Überzeugung das Ziel der guten Gesundheitsaufklärung und die Unterstützung einer informierten, autonomen und wissenschaftsbasierten Entscheidung. Die aktuelle Lage – hohe Fallzahlen, zu niedrige Impfquote, hoher Anteil von Personen, die sich nicht impfen lassen wollen, – führen jedoch auch bei uns zu einer Neubewertung, weswegen wir im vorliegenden Papier Gründe für und gegen eine Impfpflicht in den Kontext der aktuellen Situation stellen, um sie so der öffentlichen Diskussion und Entscheider*innen zur Verfügung zu stellen. Alle bisherigen, meist digitalen Kampagnen – #ärmelhoch,  #impfenschützt, #allesindenarm – konnten trotz der Aufrufe berühmter Personen, aufklärenden Videos von Youtuber*innen und trotz des Informationsmaterials in vielen Sprachen nicht zu einer ausreichenden Erhöhung der Impfbereitschaft beitragen. Auch zeitweise niedrigschwellige Angebote durch Impfzentren, Impfbusse, mobile Impfteams und Impfaktionen an ungewöhnlichen Orten haben möglicherweise für ein schnelleres Erreichen eines Plateaus, nicht aber eine ausreichende Erhöhung der Impfquote gesorgt."

Deshalb halten die Wissenschaftler*innen um Cornelia Betsch nun die mit einer Impfpflicht verbundene Einschränkung der individuellen Entscheidungsfreiheit aus den oben genannten  Gründen "für gerechtfertigt": Dennoch entbinde auch eine Impfpflicht nicht von der Notwendigkeit einer guten und gesicherten Aufklärung. So sollten Ansätze der Massenkommunikation (z.B. Informationen auf Webseiten) um Ansätze der interpersonellen Kommunikation ergänzt werden. In der Massenkommunikation sollten dabei nicht nur Regierungskanäle und regierungsnahe Sprecher*innen eingesetzt werden. Denn Empfehlungen, Informationen und Aufrufe zur Impfung müssen in allen Gesellschaftsschichten ankommen. Deshalb sollten Medien nach Ansicht der Wissenschaftler*innen verstärkt über Falschinformationen aufklären, regelmäßig neue Empfehlungen vermitteln und erklären und einen Fokus auf die Krankheit legen. Täglich sterben hunderte Menschen und Berichte über Schicksale von Hinterbliebenen und oder Ärzt*innen/Pflegepersonal seien immer noch rar. Der Fokus vieler Presseberichte liege auf Querdenker*innen und Berichten über unerwünschte Nebeneffekte von Impfungen. Dabei gerate der Blick weg von der Krankheit und das dramatische Ausmaß der eigentlichen Katastrophe rücke in den Hintergrund.

Weitere Informationen / Kontakt:

Inhaberin der Professur für Gesundheitskommunikation
(Philosophische Fakultät)
Weltbeziehungen / C19.01.27