Prof. Dr. Jürgen Straub

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Fellow am Max-Weber-Kolleg
von Oktober 2016 bis Sepember 2017

  • Forschungsprojekt

Psychologische und psychoanalytische Religionskritik. Eine Bilanz fürs 21. Jahrhundert

Die im 19. Jahrhundert zur eigenständigen Disziplin gewordene Psychologie partizipiert seit ihren Anfängen an der öffentlichen Debatte über Religion bzw. Religiosität. Wie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, so finden sich auch in der akademischen Psychologie – bei allem Bemühen um Neutralität und unvoreingenommene empirische Zugänge zu den vielfältigsten religiösen Phänomenen – affirmative und kritische, wohlmeinende und wertschätzende sowie ablehnende und verurteilende Positionen. Man denke exemplarisch an die in vielerlei Hinsichten verschiedenen, ja konträren Auffassungen und Untersuchungen von William James und Sigmund Freud. Diese Polarität charakterisiert die Lage bis heute.

Das im Max-Weber-Kolleg verfolgte Forschungsprogramm und Buchprojekt widmet sich der dezidiert psychologischen Religionskritik, wie sie in wissenschaftlichen Kontexten ausgearbeitet wurde; als Startpunkt dienen Sigmund Freuds psychoanalytische Arbeiten, die zahlreiche Psychoanalytiker/inne/n aufgegriffen und fortgeführt haben (u.a. Theodor Reik, Wilhelm Reich, Alexander Mitscherlich, Tilmann Moser). Einbezogen werden auch Arbeiten von Autor/inn/en, die nicht der modernen Psychologie im Sinne einer eigenständigen akademischen Disziplin zugeordnet werden können, aber innerhalb und außerhalb der Psychologie enorm einflussreich waren (und mitunter noch sind). Dazu zählen etwa Friedrich Nietzsches einschlägige Schriften sowie aktuelle Arbeiten, die dessen radikale Kritik am Christentum aufnehmen, aber auch zurücknehmen und korrigieren oder aber fortführen und womöglich religionskritisch verallgemeinern. Ein derartiger Versuch aus unseren Tagen stammt etwa von Peter Sloterdijk. Berücksichtigt werden sollen nicht zuletzt psychologisch ausgerichtete bzw. gehaltvolle Forschungsarbeiten in naturalistischer Tradition, insbesondere solche, die evolutionsbiologische, kognitionswissenschaftliche oder neurowissenschaftliche Perspektiven einnehmen. Relevant sind solche Bemühungen auch dann, wenn sie gar keine (direkten) religionskritischen Absichten verfolgen, insofern viele dieser neueren Forschungen mit empirischen Befunden aufwarten, die von erklärten Gegnern (jeder Form oder bestimmter Formen) der Religion und Religiosität als Stützen ihrer Argumentationen herangezogen werden (z. B. von Daniel Dennett). Manchmal zehren die empirischen Arbeiten psychologisch ausgebildeter oder interessierter Evolutionsbiologen, Kognitions- und Neurowissenschaftler auch von einer krypto-normativen Einstellung, die bereits religionskritische Züge aufweist. Diesbezüglich sind nicht zuletzt Arbeiten aus dem Umfeld des sog. „Neuen Atheismus“ und verwandte religionskritische Schriften interessant (vgl. hierzu mein im Oktober 2016 erschienenes Buch).

Das Projekt ist an das pragmatisch motivierte Bemühen geknüpft, psychosoziale Implikationen und Konsequenzen, kurz: ‚Nutzen und Nachteil‘ religiösen Glaubens für das (Seelen-)Leben und das soziale Zusammenleben zu erkunden, wobei Gläubige in angemessener Weise ebenso ‚zu Wort kommen‘ sollen wie Ungläubige (Agnostiker, Atheisten, Indifferente oder sonstige ‚Andersdenkende‘). Auf einer derartigen Basis scheinen die häufig erwünschten oder geforderten interreligiösen Dialoge sowie Gespräche zwischen ‚Repräsentanten‘ religiöser und säkularer Lebensformen aussichtsreich. Dass solche Gespräche wissenschaftlich interessant sowie praktisch dringend geboten sind, ist unumstritten. Eine unvoreingenommene Rekonstruktion psychologischer Religionskritik ist heute von besonderem wissenschaftlichem und gesellschaftlichem bzw. globalem Interesse. Sie kann, so ist zu hoffen, zu einer Versachlichung der aktuellen Diskussion über ‚die‘ Religion bzw. Religiosität beitragen.