"Die Engführung des Dschihad-Begriffs auf die Anwendung von Gewalt spiegelt sich in einer Vielzahl von Medien wider"

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Blog-Teaserbild Druckfrisch mit Dr. Christoph Günther

In ihrem neuen Sammelband “Disentangling Jihad, Political Violence and Media” greifen die Herausgeber Simone Pfeifer, Robert Dörre und Christoph Günther ein hochaktuelles und zugleich unglaublich komplexes Thema auf. Wir sprachen darüber mit Dr. Christoph Günther vom Seminar für Religionswissenschaft an der Universität Erfurt…

Herr Dr. Günther, was genau meint Dschihad eigentlich im Wortsinne und worin unterscheiden sich großer und kleiner Dschihad?
Das arabische Wort Dschihad bezeichnet zunächst eine individuelle oder kollektive Bemühung. Im Koran taucht der Begriff in der Mehrzahl der betreffenden Textstellen im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen der jungen muslimischen Gemeinschaft mit anderen Gruppen auf. Diese Auseinandersetzungen werden zwar religiös gerahmt und eine Teilnahme daran gilt als besonders verdienstvoll, sie erscheinen jedoch vielmehr als weltliche Praxis, da die exilierte muslimische Gemeinschaft in einer neuen Heimat mit begrenzten Ressourcen eine vulnerable Position hatte und Raubzüge also vor allem der Selbsterhaltung dienten. Zugleich werden diejenigen, die den Dschihad unternehmen, im koranischen Text nicht als religiös in besonderer Weise qualifizierte Personen herausgestellt und es entwickelt sich in der islamischen Geistesgeschichte auch keine konsensfähige Position, die Dschihad im Sinne der Anwendung von Gewalt – gleich ob defensiv oder offensiv – als individuelle Pflicht aller Muslime kennzeichnet. Gleichwohl bleiben der Begriff und seine durch den koranischen Text geprägten Konnotationen Teil der muslimischen Geistesgeschichte und bezeichnen weiterhin besondere und verdienstvolle Bemühungen um des Islams willen. Da kriegerische Auseinandersetzungen zudem im Laufe der Zeit in der Lebenswelt des Großteils der Muslim*innen keine Rolle spielten, entwickelte sich in mystisch orientierten Kreisen muslimischer Gelehrter eine Unterscheidung zwischen dem 'kleinen' Dschihad, der eine nach außen gerichtete und mit Gewalt verbundene Bemühung meint, und dem dementgegen 'großen' Dschihad, der auf eine spirituelle Reinigung abzielt und das Selbst und die eigenen Begierden fokussiert.

Nun wird der Begriff aber allgemein sehr oft mit politischer Gewalt assoziiert – warum ist das so und wie kam es dazu?
(Politische) Gewalt ist ein Bezugspunkt des Begriffs Dschihad und dieser Bezugspunkt ist in der gesamten islamischen Geistesgeschichte vor dem Hintergrund ganz spezifischer soziopolitischer Verhältnisse von bestimmten Akteuren immer wieder reaktiviert worden. Der innermuslimische Diskurs dazu entsteht also nicht im luftleeren Raum und hat auch mit  religiöser wie politischer Autorität, Deutungsansprüchen und Interessen zu tun. Die von Ihnen angesprochene allgemeine Assoziation ist ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts und wahrscheinlich auch eine allgemein nicht-muslimische. Das heißt, dass die Engführung des Begriffs auf eine religiös inspirierte Anwendung von Gewalt zum einen Ausdruck einer Suche nach Bewältigungsstrategien für krisenhafte Erfahrungen ist, in der muslimische Akteure Dschihad als gewaltvolles Mittel zur Lösung von Problemen anbieten und anderslautende Stimmen kaum mehr wahrgenommen werden. Zum anderen zeigen viele der Aufsätze in unserem Buch, dass dieses enge Verständnis auf Resonanz bei einer Reihe politischer, juristischer und gesellschaftlicher Akteure in Europa und den USA (aber nicht nur dort) stößt. Diese haben einen maßgeblichen Anteil an der weiten Verbreitung des engen Verständnisses von Dschihad und seiner Verankerung in unserem Sprachgebrauch.

Der Titel des von Ihnen mitherausgegebenen neuen Buches nimmt noch einen dritten Begriff hinzu – die Medien. Welche Rolle spielen sie in Dschihad?
Medien aller Art spielen vor allem in der Vermittlung dessen, was als Dschihad begriffen wird, eine Rolle. Ganz allgemein formuliert ist unser Blick auf und unsere Auseinandersetzung mit der Welt auch von den Medien geprägt, die unser Wissen über diese Welt formen. Auf sehr differenzierte Weise verweist beispielsweise die künstlerische Arbeit von Kader Attia „The Culture of Fear/an Invention of Evil“, die auf dem Titelbild des Bandes im Hintergrund zu sehen ist, darauf, wie bereits die Wahrnehmung des Konzeptes in historischen Zeitschriften aber auch auf den Titelbildern aktueller Forschungsliteratur ein stereotypes Bild von Dschihad reproduziert, das eng mit Gewalt und Terror verbunden ist. Wenn also in europäischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts der Kampf arabischer Muslime gegen die französische Kolonialherrschaft als Dschihad betitelt und mit Bildern von Gewalt versehen wird, hat dies ebenso einen Einfluss auf die  Wahrnehmung des Konzeptes durch Leser*innen, wie die Übernahme von Hochglanzbildern des selbst-erklärten 'Islamischen Staates' auf den Zeitungstitelblättern im 21. Jahrhundert. Dies sind nur zwei Beispiele, die im Buch durch eine Reihe weiterer ergänzt werden, die nicht nur die inhaltliche Rahmung durch Medien in den Blick nehmen, sondern auch auf die Funktionslogiken und Aufmerksamkeitsökonomien spektakulärer Gewaltdarstellungen in audiovisuellen Medien verweisen. Zusammengenommen lässt sich sagen, dass die oben beschriebene Engführung des Dschihad-Begriffs auf die Anwendung von Gewalt sich in einer Vielzahl von Medien widerspiegelt. Zum einen beeinflusst dies augenscheinlich das von Ihnen angesprochene allgemeine Verständnis in Europa und den USA und geht mit einer vermeintlichen Beschränkung der Handlungsoptionen aller beteiligten Akteure einher. Zum anderen ist mediale Kommunikation eben nie unilinear, sondern Menschen setzen sich in unterschiedlicher Weise mit einem eng gefassten Dschihad-Begriff auseinander und nutzen dafür ebenfalls eine Reihe von Medien. Unser Buch liefert dafür eine ganze Reihe von Beispielen. Wenn z.B. muslimische Aktivist*innen ihre Bemühungen um die Sauberkeit ihres Viertels in einer englischen Stadt als Dschihad bezeichnen und in den Videoaufnahmen militante Organisationen verspotten, ist dies ein gutes Beispiel für kreative und subversive Auseinandersetzungen mit einem dominanten Diskurs.

Die Autor*innen des neuen Sammelbandes versuchen nun, die Begriffe Dschihad, politische Gewalt und Medien zu entflechten und hinsichtlich ihrer Konsequenzen füreinander zu ergründen. Mit welchem Ziel?
Zunächst ist das Ziel des Sammelbandes, mit einem spezifischen Fokus auf Europa und die USA in der Gegenwart nicht nur die Verflechtungen dieser drei Elemente aufzuzeigen und deren Reproduktion – auch in wissenschaftlichen Kontexten – kritisch zu reflektieren, sondern auch darauf zu verweisen, welche Auswirkungen diese Verbindungen insbesondere für Muslim*innen haben. Indem die Autor*innen diese Verbindungen in Feldern wie Jurisdiktion, Strafverfolgung, Militär, Politik, Kunst, (akademischer) Bildung herausarbeiten und den Umgang einzelner Akteure mit diesen Verbindungen analysieren, eröffnen sie einen Blick auf die jeweils wirksamen Komponenten. Dies geschieht z.B. in der Betrachtung der Erwartungen junger Muslime, die aus Frankreich nach Syrien ausreisen, um sich dort militanten Gruppen anschließen; in einer Analyse orientalistischer Tropen in Wahlplakaten der AfD; durch die Auswertung von Gerichtsprotokollen, in denen die Assoziierung von humanitärer Hilfe mit Gewalthandeln zu strafrechtlichen Konsequenzen führt; sowie in der Auseinandersetzung mit der Rolle akademischer Wissensproduktion in der Setzung politisch wirksamer Begrifflichkeiten.

Welche sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Ihre Publikation liefert?
Der Band zeigt vor allem, dass Debatten und Wissensproduktion zur Bedeutung des arabischen und durch den koranischen Text mitgeprägten Begriffs Dschihad keine Angelegenheit muslimischer Theologie ist, sondern vielmehr von einer Vielzahl an Akteuren in der 'westlichen' Welt mitbestimmt wird – z.T. mit gravierenden Folgen für das Leben von Muslim*innen auf der ganzen Welt.  In 16 Fallstudien reflektieren die Autor*innen die Gleichsetzung von Dschihad mit politischer Gewalt, thematisieren die akademische, juristische, politische und öffentliche Wissensproduktion zu diesem Thema, untersuchen die ästhetischen Formationen, die an der Vermittlung und Bekräftigung dieses engen Verständnisses beteiligt sind, erforschen die Erfahrungswelten von Menschen, deren Ideen und Handlungen als gewalttätiger Dschihad etikettiert werden und beleuchten die institutionellen und medialen Kontexte (z.B. von Archiven), in denen eine Verschränkung von Dschihad und politischer Gewalt mit tiefgreifenden Folgen wirksam wird.

Wer sollte das Buch lesen und warum?
Als Sammelband wenden sich die im Buch kompilierten Aufsätze an alle Menschen, die die zeitgenössische medialisierte Wissensproduktion zu Dschihad und politischer Gewalt und ihre Konsequenzen für unterschiedliche Lebenswelten verstehen und kritisch beleuchten möchten – jenseits von dominanten wissenschaftlichen Perspektiven wie Terrorismus- und Dschihadismusforschung. Der interdisziplinäre Sammelband bietet spannende Einblicke in die Produktion von Wissen über Dschihad in den Feldern Jurisdiktion, Strafverfolgung, Militär, Politik, Kunst, und (akademische) Bildung. Zudem gibt die Einleitung einen Überblick über zeitgenössische Verwendungen des Begriffs Dschihad in Europa und den USA. Der Band richtet sich also sowohl an ein breites akademisches Publikum, als auch an Personen mit bestimmten Fachspezialisierungen, z.B. der Sozial- und Kulturanthropologie, Medienwssenschaft und Islamwissenschaft.