"In gewisser Weise ist es tatsächlich damit vorbei, das Zeitalter der Aufklärung als Erfolgsgeschichte zu betrachten"

Einblicke , Klimawandel und Energiewende
Aufruf Fridays for Future an Laternenmast

Die Auswirkungen der weltweiten Klimaveränderungen sind omnipräsent. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Nachrichten nicht über die Klimakrise berichten. Naturwissenschaftler, Ingenieure, Politiker diskutieren, wie sie, wenn schon nicht zu verhindern, dann doch wenigstens aufzuhalten ist. Aber auch in den Geisteswissenschaften kommt das Thema auf den Tisch. Am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt hat jetzt ein Workshop stattgefunden, der den Auftakt einer längerfristigen Beschäftigung mit der Klimakrise aus der Perspektive der Wissensgeschichte bilden soll. Die Wissenschaftler*innen fragen dabei konkret nach der Notwendigkeit einer Neujustierung von Philosophie und Ideengeschichte im Zeichen der planetaren Krise. "WortMelder" sprach darüber mit Prof. Dr. Martin Mulsow, dem Direktor des Forschungszentrums...

Prof. Dr. Martin Mulsow

Professor Mulsow, erst einmal ganz grundsätzlich: Was hat die Klimakrise mit den Geisteswissenschaften zu tun bzw. welche Konsequenzen hat sie für diese?
Der Umstand, dass die Erde sich erhitzt, mit Folgen, die wir jetzt schon zu spüren bekommen, die aber in 20, 50, 100 Jahren ungleich heftiger ausfallen werden, betrifft uns alle – denn dieser Prozess unterminiert die Grundlagen unseres Lebens. Auch die Wissenschaften, nicht zuletzt die Geisteswissenschaften, sind davon natürlich betroffen. Als Wissenschaftler gehen wir automatisch davon aus, Wissen zu produzieren, das auch in der Zukunft rezipiert wird, entweder indem es verifiziert und ergänzt oder indem es falsifiziert wird. Doch geben wir zu: Kaum einer von uns traut sich noch recht, sich Leser in 100 oder 200 Jahren vorzustellen, weil die Prognosen uns erschaudern lassen. Es kann gut sein, dass das eine Zeit von ständigen Naturkatastrophen, unerträglicher Hitze und Massenmigration sein wird. Ich nenne das das Schwinden des Zukunftshorizontes, und ich mache mir Gedanken darüber, was dieses Schwinden, das Zurückgeworfensein auf die Gegenwart, für die Weise unserer Wissensproduktion bedeutet.

Was interessiert Sie als Historiker, der sich vor allem mit der Frühen Neuzeit beschäftigt, an dem Thema und was können Sie bzw. was kann Ihre Fachrichtung dazu beitragen?
Der Historiker Dipesh Chakrabarty hat in seinem Buch "Das Klima der Geschichte" die These aufgestellt, dass das Anthropozän die herkömmliche Hermeneutik der Historiker auf den Kopf stellt. Denn jetzt gibt es sozusagen ein doppeltes Subjekt der Geschichte: den Menschen als autonomes Individuum und den Menschen als Spezies. Das Problem dabei ist: Wir Menschen erleben uns nie als Spezies. Wir müssen unser historisches Denken umstellen und nun auch die geologische Tiefenzeit mitbedenken, die wir als Spezies gerade verändern. Ich versuche diese These mit meiner Diagnose der Zukunftslosigkeit zusammenzubringen – aber so, dass nicht etwa Hoffnungslosigkeit dabei herauskommt, sondern ein Blick in die Zukunft, der die künftigen Schrecken nicht verleugnet und uns dennoch handeln lässt. Die Frühe Neuzeit, also die Zeit zwischen 1500 und 1800, spielt bei der neuen historischen Reflexion eine große Rolle, denn in dieser Zeit hat sich die Ausbeutung der fossilen Brennstoffe vorbereitet und angedeutet. Wir müssen jetzt überlegen, wie diese neue Perspektive, zu der wir durch die Klimakrise gezwungen werden, unseren Blick auf die vergangenen 500 Jahre verändert. Das gilt insbesondere für die Zeit der Aufklärung.

Stichwort Aufklärung: Kann man denn ihre Geschichte noch als Erfolgsgeschichte betrachten, wohlwissend, dass hier die Grundlagen des Zeitalters der Verbrennung fossiler Energien gelegt wurden, also des Zeitalters, das in naher Zukunft den Planeten Erde an die Grenzen seiner Bewohnbarkeit kommen lassen wird?
In gewisser Weise ist es tatsächlich damit vorbei, das Zeitalter der Aufklärung als Erfolgsgeschichte zu betrachten. Diese Unschuld hat die Aufklärung verloren. Eigentlich haben das schon Horkheimer und Adorno in der "Dialektik der Aufklärung" gesagt, aber ihre Warnung bezog sich noch auf den Bürokratismus und Totalitarismus der instrumentellen Vernunft. Heute kommen andere Aspekte ins Spiel. So hat Pierre Charbonnier davon gesprochen, die Aufklärung sei zweimal geboren worden. Einmal ideengeschichtlich im 17. Jahrhundert, als viele der modernen Konzepte entwickelt wurden, allerdings noch im Rahmen einer Vorstellung von begrenzender Natur. Um 1800, mit den ersten Dampfmaschinen und dem Freisetzen der fossilen Energien, sei dann aber ein "liberaler Pakt" entstanden, der Freiheit immer mehr an Überfluss gebunden habe, an die Steigerungslogik des Kapitalismus. Nimmt man diese Sicht ernst, müssen wir die Geschichte der Aufklärung neu schreiben, gewissermaßen doppelt – ohne dass bisher klar ist, was das für uns Historiker bedeutet. Natürlich gilt es, die Errungenschaften der Aufklärung zu bewahren – Kritik, Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte, Demokratie – aber wir haben die Kontexte neu zu reflektieren, in denen diese Ideen entstanden sind.

Also hat die Philosophie der Moderne Ideen wie Fortschritt und Freiheit keineswegs gänzlich unabhängig von den materiellen Gegebenheiten, in denen diese Ideen wirksam werden sollten, konzipiert?
Ja, genau. Es gibt eine materielle Unterseite der hehren Ideengeschichte, eine Unterseite, vor der wir bisher meist nichts wissen wollten. Wenn wir aber die Aufklärungsgeschichte als Doppelgeschichte schreiben wollen, kommen viele neue Fragen auf uns zu. Zum Beispiel: Gibt es unterschiedliche Geschwindigkeiten, die in diese Geschichte eingebaut sind? Es sieht ja fast so aus, dass das Lernen "der Menschheit" (wenn man diesen Kollektivsingular überhaupt benutzen darf) viel langsamer vor sich geht als die Zerstörungsgeschwindigkeit, mit der sie den Planeten traktiert. Wir erleben im Moment, wie Populismus, Autokratien und libertärer Autoritarismus uns bei der Transformation der Gesellschaft unnötig aufhalten, wie sie uns die Zeit kosten, die wir gar nicht mehr haben. Es gibt im 18. Jahrhundert bereits Ansätze, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten umzugehen; das schaue ich mir derzeit an, um zu sehen, ob wir daraus etwas lernen können. Es ist so ungeheuer schwierig, aus den seit 200 Jahren eingeübten Mustern des Überflusses wieder auszubrechen!

Wie wollen Sie sich am Forschungszentrum Gotha nun diesen Fragen bzw. diesem Thema widmen, was ist dabei das Ziel?
Unsere kleine Tagung im Juni war nur ein Auftaktworkshop, der uns helfen sollte, Fragen zu sortieren und erste Kontakte zu knüpfen. Zusammen mit meiner Kollegin Melanie Sehgal aus Wuppertal habe ich vor, in der ersten Hälfte des nächsten Jahres eine größere Tagung zu veranstalten, die dann die Probleme systematischer angeht und auch internationale Forscher und Forscherinnen einbezieht. Das Interesse an diesen Dingen hat ja inzwischen auch die Philosophie und die Ideengeschichte erreicht. Man spricht jetzt von "ökologischer Ideengeschichte", was nicht eine Ideengeschichte der Ökologie meint, sondern eine Ideengeschichte, die die Herausforderungen der ökologischen Krise in ihre Prämissen einbezieht. Bisher ist das aber ein bloßes Label, das erst noch mit Inhalten gefüllt werden muss. Es gibt viele junge Leute – das habe ich schon jetzt sehen können – die darauf brennen, es mit Inhalten zu füllen. Diesen Bestrebungen will ich einen Raum geben.