Nachgefragt: Kann die Ausweitung von Tempo-30-Zonen in der Stadt das Leben leiser machen, Herr Stahl?

Gastbeiträge
PD Dr. Heiner Stahl

Immer wieder fordern Umweltverbände und Vertreter*innen von Kommunen die Ausweitung von Tempo-30-Zonen in Städten und Dörfern. Das Recht erlaubt die Einrichtung solcher Beschränkungen aber nur in bestimmten Fällen. Doch was würden stärkere Geschwindigkeitsbeschränkungen überhaupt bewirken? Welche positiven – oder negativen – Effekte könnten entstehen? Könnten die Beschränkungen die Feinstaubemission verringern, Unfälle vermeiden und den Lärm in der Stadt verringern? Besonders Letzteres hat PD Dr. Heiner Stahl von der Universität Erfurt untersucht. Er wohnt selbst an einer viel befahrenen Straße, kennt den „Sound von 7 Uhr morgens in Erfurt“ ziemlich gut und forscht seit vielen Jahren über das Thema Lärm. „WortMelder“ hat bei ihm einmal nachgefragt…

Diese Frage hat verschiedene Dimensionen. Deshalb würde ich hier zunächst auf die rechtlichen Aspekte einer solchen Geschwindigkeitsbeschränkung eingehen wollen. Dafür muss ich etwas ausholen: Die Straßenverkehrsordnung ist am 1. Oktober 1934 in Kraft getreten. Die ursprüngliche Fassung vom 28. Mai 1934 beendete einen langwierigen Abstimmungsprozess zwischen verschiedenen Ministerien. Die juristischen Vorarbeiten reichen in die Weimarer Republik und bis ins Deutsche Kaiserreich zurück. Es geht um die Auseinandersetzung darum, wer im städtischen Raum Vorfahrt und Vorrecht genießt. Das nationalsozialistische Regime bevorzugte eindeutig den Automobilverkehr und beschränkte dafür das Recht von Fußgänger*innen und Radfahrer*innen. Diese rechtswissenschaftliche Auslegung der damals gesetzten Normen prägt das Verkehrsgeschehen bis in die Gegenwart: Sie belohnt Geschwindigkeit und ermöglicht schnelles Fahren. Umwelt oder Gesundheit waren damals eben keinen Kategorie, die irgendwelche Bedeutungen hatten. 

Kreis-, Landes- und Bundesstraßen genießen einen Vorrang. Dort können Kommunen keine Tempo-30-Zonen einrichten, auch dann nicht, wenn diese Straßen das Stadtgebiet durchkreuzen. Das möchte der Städte- und Gemeindetag inzwischen ändern und anpassen. Der Weg dorthin ist aber noch sehr lang. Vor Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen lassen sich dagegen Bereiche ausweisen, die nur mit verringerter Geschwindigkeit befahren werden dürfen. Die Regularien des Straßenverkehrs und die Befahrung von Innenstädten sind beides Nachwirkungen davon, wie im 20. Jahrhundert Stadtraum und Landschaft auf die Befahrung durch das Kraftfahrzeug getrimmt worden sind. Dabei übernahmen die Einen die Festlegungen der Anderen und schrieben sie fort.

Aber zum Heute: Was gewinnen wir als Menschen, als Bewohner*innen einer Stadt oder Gemeinde, wenn wir mit Pkw oder Motorrädern innerhalb der Ortschaften und des Stadtgebietes langsamer fahren? Kurz gesagt: 

Wir sparen erstens Geld, denn die Fahrzeuge nutzen sich weniger ab. Dadurch fallen Reparaturen auch erst später an. Zweitens verringern sich die Verlärmung des Straßenraumes und die Menge der Abgase, die sich darin sammelt und anhäuft. Wir atmen drittens weniger schädliche Luft ein und sind von plötzlich auftretenden Geräuschen sowie dem Hintergrundrauschen schwerer Fahrzeuge und Reifen weniger gestresst.

Um die Frage in Gänze zu beantworten, ist es sicherlich ratsam, unsere Lebensweise – mit allem Wunsch nach Bequemlichkeit, Tempo-Freiheit und Fahrspaß – gegen Lärm und Umweltschutz und geltendes Recht abzuwägen: das heißt alle Faktoren zu berücksichtigen und eben nicht nur manche, die einem in den Kram und die eigene Argumentation passen.  Ich verstehe Menschen, die auf ihren Pkw angewiesen sind. Sie üben damit ihre Tätigkeiten aus, kommen von A nach B und erreichen damit ihre Arbeitsplätze und Büroschreibtische. Wir als Gesellschaft fördern das Pendeln durch steuerliche Begünstigungen und rechnen die Belastungen von Gesundheit und Umwelt eben nicht dagegen. 

Fakt ist gleichwohl, dass die Einführung von Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet die günstigste Lösung für eine Stadtverwaltung ist, Verschmutzungen der Umwelt und des Stadtraumes drastisch und auf einen Schlag zu verringern. 

Für Kraftfahrer*innen lässt sich beobachten: Wer langsamer fährt, steht weniger und weniger lange im Stau, die Anzahl von Unfällen nimmt ab. Geschwindigkeitsbegrenzungen bewirken in Dörfern und Städten, Landstraßen und Autobahnen, dass wir gesünder leben können und weniger Belastungen am eigenen Körper erfahren. Und, wie oben schon genannt und das wiederhole ich gern, gibt es auch monetäre Effekte: Wer weniger oder zumindest langsamer fährt, muss seltener in die Werkstatt. Die Straßenoberflächen werden weniger abgenutzt und gehen später kaputt. Das wiederum verringert die Ausgaben für die Instandhaltung der Straßen. Und ganz wichtig scheint vor allem der gesundheitliche Aspekt zu sein: Abgase, Reifenabrieb, Mikroplastik und Geräuschbelastung erzeugen Herz-Kreislauf-Leiden und Atemwegsbeschwerden. Das betrifft vor allem Menschen, die Anwohner*innen von Haupt- und Durchgangsstraßen sind. Darin steckt soziale Ungleichheit. Wer arm ist, wohnt dort, wo es billig ist. Dort ist es halt eben auch laut, verdreckt und die Luft stinkt. 

Wer solche Ungleichheiten bekräftigen will und wem es egal ist, ob der Straßenraum im Sommer immer heißer wird, der macht weiter wie bisher. Ich selbst besitze ein Auto. Allerdings laufe ich nur noch zu Fuß durch Erfurt oder nehme das Fahrrad. Das ist ebenfalls ein Privileg. Ich weiß das wohl und schätze es!

Aber wie sieht es nun ganz konkret mit dem Lärm aus? Lärm ist nicht gleich Lärm. Weil die Geräusche in einer Stadt vielschichtig und vielfältig sind, gibt es verschiedene Regularien und Grenzwerte. Man kann diese zugunsten des Verkehrs oder der Industrie auslegen oder die Gesundheit der Menschen als höchste Priorität ansehen. Irgendwo dazwischen entstehen Formelkompromisse, die zumindest für einen bestimmten Zeitraum tragfähig erscheinen.

In der Anhäufung und Überlagerung von Geräuschen steckt meiner Ansicht nach die Gefährdung. Sie bleibt, auch wenn wir glauben, uns an die Emissionen von Lärm und die Immissionen als Ganzes im Stadtraum gewöhnen zu können. Letztlich müssen die Fraktionen in Stadtparlamenten mit sich und anschließend mit den Dezernaten der Stadtverwaltungen aushandeln, welchen Stellenwert die Gesundheit der Bevölkerung und die Umweltbelastung im Verhältnis zum Verkehrsgeschehen und den oben genannten und gern verteidigten Privilegien einnimmt. In Erfurt jedenfalls – das ist meine Beobachtung – wird Automobilverkehr ermöglicht und begünstigt – und zwar deshalb, weil es immer schon so war.