Nachgefragt: "Was bedeutete Wahlkampf in der Antike, Herr Professor Brodersen?"

Gastbeiträge
Prof. Dr. Kai Brodersen

Gerade wählen die Franzosen einen neuen Präsidenten, im Mai werden in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen neue Landesregierungen gewählt. Und im September stehen die Bundestagswahlen an. Es ist Wahlkampfzeit. Neu ist der Wettbewerb um die Wählergunst nicht – schon in der Antike wurde Wahlkampf betrieben. Hat er sich seit damals verändert – was ist neu, was hat Bestand? „WortMelder“ hat bei Kai Brodersen, Professor für Antike Kultur an der Universität Erfurt, nachgefragt…

Professor Brodersen, Wahlkämpfe gab es schon im Alten Rom. Können Sie uns an einem Beispiel zeigen, wie sie abliefen?
Gerne! Wir schreiben das Jahr 64 v. Chr. Fast die ganze Mittelmeerwelt ist von den Römern besetzt. An der Spitze des römischen Reichs stehen zwei in jedem Jahr neu gewählte Konsuln. Wer wird diese höchsten Wahlämter für das kommende Jahr erlangen? Sieben Kandidaten stehen zur Wahl, alle tragen sie anstelle der jeweils standesgemäßen Kleidung eine rein weiße Toga (toga candida), die sie als „Kandidaten“ präsentiert. Einer von ihnen ist Marcus Tullius Cicero aus dem italischen Landstädtchen Arpinum (heute Arpino), der gerade das Mindestalter für eine Kandidatur, 42, erreicht hat. Seine Wahlkampfreden sind zwar nicht erhalten, doch ist ein Werk seines Bruders Quintus Tullius Cicero überliefert, das Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf bietet.

Wer durfte denn seinerzeit zur Wahl gehen?
Wahlberechtigt waren alle freien erwachsenen römischen Bürger. Da die Wahl aber in Rom auf dem Marsfeld stattfand, waren es tatsächlich wohl vor allem Bewohner der Stadt Rom, denen eine Teilnahme möglich war, kaum Bürger aus anderen Reichsteilen. Die Bürger wurden in 193 „Zenturien“, nach den Vermögensklassen angeordnete Wählergruppen eingeteilt. Die einzelne Wählerstimme wurde nur innerhalb der jeweiligen Zenturie gezählt, die dort jeweils festgestellte Mehrheit bestimmte das Votum der Zenturie. Bei der Wahl hatte jede Zenturie dann genau eine Stimme; angesichts der Gesamtzahl der Zenturien betrug die für die Wahl entscheidende Mehrheit also 97 Stimmen. Die Zenturien stimmten in einer nach den Vermögensklassen absteigenden Reihenfolge ab war die Mehrheit erreicht, wurde der Wahlvorgang abgebrochen, weshalb die nachrangigen Vermögensklassen nur sehr selten überhaupt zum Abstimmungsergebnis ihrer Zenturien befragt wurden.

Worauf kam es dann im Wahlkampf an?
Der Kandidat musste möglichst viele Zenturien für sich gewinnen. Der einfachste und offenbar recht häufig beschrittene, freilich höchst illegale Weg zum Wahlerfolg war die Wahlbestechung, für die mancher Kandidat sein letztes Hab und Gut zu Geld machte oder sich mittels nicht minder illegaler Methoden Geld beschaffte. Wollte ein Kandidat das Wahlergebnis legal beeinflussen, musste er sich der Unterstützung möglichst vieler Zenturien versichern, insbesondere der Zenturien der oberen Vermögensklassen. Die Entscheidung in den Zenturien war dabei letztlich eine Persönlichkeitswahl. So verwundert es nicht, dass die Kandidaten einerseits bemüht waren, die Bürger – und hier insbesondere die in der Stadt Rom, die am ehesten zur Wahl kommen würden – für sich persönlich einzunehmen, und andererseits, ihre Konkurrenten persönlich zu diskreditieren.

Kam es also auf die Persönlichkeit der Kandidaten an?
Ja! Erst so versteht man, welchen Wert ein Kandidat auf die möglichst weite Bekanntheit der eigenen Person legen musste. Daher war besonders die tatsächliche „Sichtbarkeit“ des Kandidaten, gleichsam die gute „Show“ wichtig. Erreichen konnte ein Kandidat dies durch erfolgreiche öffentliche Auftritte als Redner vor Gericht (was die hohe Bedeutung der Rhetorik erklärt), erreichen konnte er dies durch Präsenz in den Stadtvierteln, Vereinen und Verbänden, erreichen konnte er es aber auch durch ein großes und sichtbares Gefolge, angefangen mit den Hausbesuchern, die ihm vor Morgenanbruch in seinem Haus die Aufwartung machten, weiter mit denen, die ihn durch die Stadt Rom und namentlich zum Forum Romanum begleiteten, und schließlich mit denen, die ihm ständig das Geleit gaben: Stets wurde so auch Fernstehenden vor Augen geführt, welche Bekanntheit, ja Beliebtheit der Kandidat hatte.

Dieser Drang in die Öffentlichkeit, die im Wahlkampf heute in Sportarenen oder auf Plätzen, vor allem aber in den Medien umgesetzt wird, gab es also schon vor 2000 Jahren?
Richtig. Und deshalb sind auch die Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf, die vor zwei Jahrtausenden Cicero seinem Bruder gab, beachtlich: „Durch drei Dinge werden die Menschen am ehesten zu Wohlwollen und Interesse an der Wahl geführt: durch erwiesene Wohltat, geweckte Hoffnung und spontane Sympathie“.

Kann man das alles auch irgendwo nachlesen?
Ja, Ciceros „Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf“ habe ich bei Reclam in einer zweisprachigen Ausgabe zugänglich gemacht.

Und – hat Cicero damals die Wahl gewonnen?
Ja, Marcus Tullius Cicero wurde zu einem Konsul für das Jahr 63 v.Chr. gewählt.

Kai Brodersen
Q. Tullius Cicero. Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf.
Reclam, Stuttgart 2013
ISBN 978-3-15-010924-3
7 EUR