Wenn das renommierte „European Journal of American Studies“ eine Sonderausgabe über Kinderliteratur veröffentlicht, dann ist das schon etwas Besonderes. Wenn es sich dabei auch noch um Nonsense-Literatur handelt, umso mehr, denn nicht nur steht Kinderliteratur in der literarischen Rangordnung weit unten, auch Nonsense wird selten mit Wert assoziiert. Gerade ist eine solche Sonderausgabe erschienen, die das Werk von Laura Elizabeth Richards beleuchtet, einer der produktivsten und beliebtesten Autorinnen von Kinderliteratur und Nonsense-Gedichten des 19. Jahrhunderts, die jedoch heute kaum noch bekannt ist. „Unser Ziel war es, sie wieder in den Blick zu rücken“, sagt Dr. Verena Laschinger, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, die das Heft zusammen mit ihrer israelischen Kollegin Dr. Etti Gordon Ginzburg herausgegeben hat.
Bereits seit 2006 durchforstet Verena Laschinger mit der „European Study Group of Nineteenth-Century American Literature“ die Archive, um Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts zu finden und ihnen neue Aufmerksamkeit zu schenken. Denn viele von ihnen seien zu Unrecht vergessen, sagt Laschinger. „Wenn wir an amerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts denken, fallen uns schnell Moby Dick oder die Abenteuer von Huckleberry Finn ein. Zweifellos tolle Romane, aber eben nicht die einzigen Texte, die Amerika im 19. Jahrhundert geprägt haben. Die Frauen waren in dieser Zeit als Schriftstellerinnen viel erfolgreicher. Dennoch wurden viele Autorinnen vergessen und im 20. Jahrhundert aus dem Kanon verdrängt. Die Themen wurden andere, es ging um Technik, um Krieg und nicht mehr um das Sentimentale, Häusliche. Der gesamte Diskurs veränderte sich, und so verschwanden die schreibenden Frauen des 19. Jahrhunderts aus dem Blickfeld. Sehr zu Unrecht, wie das Beispiel von Laura E. Richards zeigt.“
Heute würde man sie wohl als „Powerfrau“ bezeichnen: Sie war Mutter von sieben Kindern, kümmerte sich um die Familie und schrieb dabei auch noch jede Menge Texte. Darunter eine Biografie über ihre berühmten Eltern, Julia Ward Howe (1819–1910) und Samuel Gridley Howe (1801–1876), für die sie sogar mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Vor allem aber schrieb sie Poesie für Kinder. Texte, die für Kinder relevant sind, sie unterhalten und zugleich erziehen sollen – educating and entertaining. Charmant und voller Wortwitz, damit sie Kinder begeistern. Oft sind dabei Tiere die Protagonisten – beispielsweise in „Eletelephony“, dem Lieblingsgedicht von Verena Laschinger, in dem sich ein Elefant beim Telefonieren mit seinem Rüssel verheddert. „Solche Geschichten zeigen Kindern auf liebevolle Art und Weise, dass Missgeschicke eben passieren und kein Drama sind“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. Aber Richards schreibt auch über Freundschaft, Geschlechterfragen („My Japanese Fan“) und vieles mehr.
Das nun erschienene Sonderheft des „European Journal of American Studies“ ist in der Tat die erste Ausgabe überhaupt, die ausschließlich der Kinderliteratur von Laura E. Richards gewidmet ist und der Autorin wie ihrer Arbeit die (wissenschaftliche) Aufmerksamkeit schenkt, die sie aus Sicht der Herausgeberinnen absolut verdient, aber bislang nie erhalten hat. Dr. Gordon Ginzburg: „Die ernsthafte Auseinandersetzung mit Richards' Kinderliteratur (und Kinderliteratur im Allgemeinen), wie sie in dieser Sonderausgabe erfolgt, ist ebenso selten wie radikal. Wir hoffen dennoch, dass sie dazu dient, die traditionelle Trennung der Kinderliteraturforschung von der Literaturforschung allgemein zu hinterfragen sowie Laura E. Richards und ihr Werk wiederzuentdecken und neu zu bewerten.“ Mit dem Sonderheft wird die Autorin nun endlich auch einem breiten Publikum vorgestellt. Die darin enthaltenen neun Beiträge, die den literarischen Wert von Richards‘ Werken sowie ihre kulturelle Bedeutung neben Fragen zu Geschlecht, Genre und Kanonisierung untersuchen, ermöglichen es, Richards umfangreiches Werk in breiteren literarischen und kulturellen Kontexten ernsthafter zu bewerten. Darüber hinaus werden zwei ihrer Gedichte in vier weiteren Sprachen vorgestellt: Deutsch, Hebräisch, Italienisch und Polnisch, um das Werk der Schriftstellerin einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, das nicht nur Englisch spricht. Die Übersetzer, allesamt Expert*innen auf den Gebieten Linguistik, Übersetzungswissenschaft und Kinderliteratur, geben dabei kurze Einblicke in den Übersetzungsprozess und die Herausforderungen, die mit der Übersetzung von Nonsense-Gedichten und der Übersetzung im Allgemeinen verbunden sind.
„Mit unserer Arbeit streben wir nicht zwingend einen kanonischen Status für Laura E. Richards an“, sagt Laschinger. „Aber die Tiefe ihres Werks und sein Umfang sind sicherlich ein Hinweis auf das literarische und kulturelle Potenzial, das in der Untersuchung von Richards' Werk steckt.“ Die Autor*innen der Sonderausgabe sind sich einig: Laura E. Richards‘ Werke verdienen Aufmerksamkeit, weil sie den begrenzten Korpus der Nonsense-Literatur erweitern. Als amerikanische Frau, die in ihren sozialen Rollen als Ehefrau, Tochter und Mutter schrieb, – Positionen, die ihr Werk in vielerlei Hinsicht geprägt haben –, hat sie einen einzigartigen Beitrag geleistet.
Übrigens: Im Juni wird Dr. Etti Gordon Ginzburg, eine der Herausgeberinnen der Sonderausgabe zu Laura E. Richards, für eine Woche zu Gast an der Universität Erfurt sein. Dr. Verena Laschinger wird sie in ihre Lehrveranstaltungen einbinden und diese Veranstaltungen auch für andere Studierende an der Universität Erfurt öffnen. Die genauen Termine und Veranstaltungen geben wir rechtzeitig an dieser Stelle bekannt.