Erfurt durchzieht ein 62 km langes Netz von Bahntrassen, 13 km davon sind stillgelegte Flächen. Die alte Bahnstation Györer Straße, gern auch als „Riethschleuder“ bezeichnet, ist eine von ihnen. An der Umgestaltung der ehemaligen Haltestelle haben Studierende der Universität und der Fachhochschule Erfurt entscheidenden Anteil: Im Rahmen eines von der Stadt Erfurt ausgerufenen Ideenwettbewerbs haben sie am Montag ihre Ideen für ein Erholungsgebiet präsentiert, das zugleich dem Artenschutz und der Umweltbildung zugutekommen soll. Exemplarisch stellen wir euch auf unserem Blog eine studentische Projektidee vor.
Einst hielten an der Györer Straße die Züge auf ihrer Fahrt vom Erfurter Hauptbahnhof zur Berliner Straße in Erfurt Nord. Heute ist die Haltestelle kaum noch zu erkennen. Die Bahnsteige sind stillgelegt und lange verwildert, Gestrüpp und ein Hain haben sich ihren Weg gebahnt – ideale Bedingungen für Insekten, Vögel, Amphibien und kleine Reptilien. Um diese Artenvielfalt auch im urbanen Raum zu erhalten, erforscht und prüft das Umwelt- und Naturschutzamt Erfurt, wie die inzwischen ungenutzte Bahntrasse so umgestaltet werden kann, dass die natürlichen Strukturen erhalten bleiben und die Mieter*innen der angrenzenden Hochhaussiedlung im Wohngebiet Rieth die Fläche auch gern in ihrer Freizeit aufsuchen.
Als sich Emmi von der Universität Erfurt, Johanna und Amely von der FH Erfurt im April 2025 bei einer Rallye zum ersten Mal mit der 17.000 m² Fläche rund um die ehemalige Haltestelle Györer Straße vertraut gemacht haben, fanden sie „ziemliche Verwüstung und viel Schmutz“ vor, erinnert sich Amely. Ihre gemeinsame Aufgabe im Wintersemester bestand darin, ein Konzept zu entwickeln, um diesen Streifenabschnitt samt den Schienen in einen einladenden Naherholungsbereich umzugestalten, der langfristig mit einem möglichst geringen Pflegeaufwand erhalten werden soll und von dem auch die Anwohner*innen etwas haben. Als interdisziplinäres und hochschulübergreifendes Seminar trafen die studentischen Expertisen des FH-Studiengangs der Landschaftsarchitektur auf die der Primarpädagogik der Universität Erfurt. In den Räumen der universitären Lernwerkstatt haben sie nach zufälliger Teamzusammensetzung als eines von insgesamt acht Projektgruppen überlegt, getüftelt und gestaltet.
Dabei herausgekommen sind zwei Rundwege, die an vier verschiedenen Stationen entlangführen, die je unterschiedliche Sinne ansprechen. „In unserem Landschaftsplan haben wir versucht, das Ganze im Bereich der Straße noch mit Nährgehölzen für Vögel zu ergänzen, auch als besseren Schutz vor dem Straßenlärm“, erklärt Amely von der FH. Um den Bahnsteig für neue Zwecke aufzuwerten und für möglichst viele nutzbar zu machen, war ihnen eine barrierefreie Nutzung besonders wichtig. Rampen auf den Wegen ermöglichen Menschen mit Rollstuhl und Kinderwagen die Begehung trotz der Höhenunterschiede.
Für den konzeptionellen Bildungsanteil war Emmi als eine der zwei beteiligten Lehramtsstudierenden der Uni Erfurt verantwortlich. Als Zielgruppe setzen sie bei ihrer Idee auf Grundschüler*innen. Unter dem Motto „Haltestelle Zukunft – Natürlich mit Sinn!“ möchten sie an der Györer Straße einen „außerschulischen Lernort für den Sachkundeunterricht schaffen, in dem“, so betont Emmi, „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) auch ein wichtiges Thema ist.“ Gemeint ist damit eine Bildung, die Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigt, indem jede einzelne Person versteht, welche Auswirkungen ihr eigenes Handeln auf die Welt hat.
Vier Stationen (Sehen, Hören, Riechen, Tasten) sollen dabei helfen, Zusammenhänge zwischen den menschlichen Sinnen und den BNE-Zielen herzustellen. Emmi wird bei ihrer Aufzählung sehr konkret: „Beim Sehen ist es z. B. die Artenvielfalt. Da sollen die Kinder beobachten, welche Tiere besonders gut zu welchen Pflanzen passen. Auch beim Hören dreht sich alles um die Artenvielfalt und die Laute von Vögeln und Insekten. Hier sollen die Kinder unterscheiden, welche Geräusche menschlich erzeugte sind und welche von Tieren stammen. Beim Riechen geht es um den Lebensmittelkonsum. Kräuter, die man riechen (und natürlich auch selbst anbauen) kann, sollen in einem Quiz verschiedenen Nutzungsoptionen zugeordnet werden. Beim Tasten schließlich geht es um Rohstoffe und Materialien, die zu erfühlen sind. Diese Erfahrung soll anregen, darüber zu diskutieren, welche Materialien für welchen Nutzen am besten geeignet sind. Welche etwa lassen sich gut abbauen, welche lassen sich gut gewinnen oder recyclen?“ Und auch die Füße dürfen Natur erspüren. Unterschiedliche natürliche Materialien im Gleisbett der Schienen laden ein, den Barfußpfad zu erkunden.
Begeistert von der schieren Freude und Motivation, mit der die Studierenden beider Erfurter Hochschulen ihre Konzeptideen entwickelt und damit Verantwortung für die Gesellschaft übernommen haben, zeigte sich Andreas Tränkner vom Umwelt- und Naturschutzamt Erfurt im Anschluss an die Projektvorstellungen. Bei allen sei aber auch „das Ringen erkennbar gewesen zwischen wilder Kreativität und dem Wissen des späteren Berufsfeldes“, so Tränkner. Lob gab es auch von den beiden Lehrenden Prof. Dr. Sandra Tänzer, Inhaberin der Professur für Pädagogik und Didaktik des Sachunterrichts, an der Universität Erfurt, und Dr.-Ing. Cindy Völler, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Landschaftsarchitektur, Gartenbau und Forst an der FH Erfurt.
Alle acht am Montag vorgestellten studentischen Projekte reichen in diesen Tagen ihre Konzepte für die Flächengestaltung ein, bestehend aus Plänen, Detail- und Perspektivzeichnungen sowie Texterläuterungen des pädagogischen und des Gesamtkonzepts. Eine Fachjury aus Vertreter*innen der Stadtverwaltung und des Umweltausschusses beraten und stimmen dann über den Gewinnerentwurf ab, dabei steht ihnen das Gartenamt sowie das Umwelt- und Naturschutzamt beratend zur Seite. Auch die Anwohner*innen werden über ihre Wohngesellschaft aufgefordert, in Kürze online über ihre Favoriten abzustimmen. Die Umsetzung erfolgt anschließend über ein Planungsbüro. Die Konzepte der Studierenden bilden eine sehr gute Grundlage für die Ausgestaltung der Mehrfachnutzung für Naturschutz und Naherholung, verspricht Andreas Tränkner, der Projektleiter des Erprobungs- und Entwicklungsvorhabens (E+E) ist, das vom Bundesamt für Naturschutz gefördert wird. Im Zentrum des E+E-Vorhabens stehen die innerstädtischen Bahntrassen als vernetzte Lebensräume für Pflanze, Mensch und Tier. Die Fläche um die ehemalige Haltestelle Györer Straße wurde vor der Ausrufung des Ideenwettbewerbs untersucht. Dabei wurden mehr als 100 Pflanzen- und Tierarten erfasst, die für die Stadt Erfurt eine besondere Verantwortung haben, weil sie hier heimisch sind.
Die in dem Wettbewerb eingereichten Arbeiten können jetzt in einer Umfrage der Stadt Erfurt eingesehen und bewertet werden. Diese Online-Bewertung sowie mögliche Anmerkungen fließen anschließend in die Gesamtwertung mit ein.
Die Ergebnisse des Ideenwettbewerbs sind zudem vom 23. Juli bis 13. August im Stadtteil Rieth ausgestellt. Schauen Sie sich alle Projektideen an und stimmen Sie über Ihren Favoriten ab!