"Alle diese Ereignisse wären ohne den politischen Wandel in der damaligen Sowjetunion nicht vorstellbar gewesen"

Gastbeiträge
Berliner Mauer

30 Jahre deutsche Einheit: Hermann-Josef Blanke, Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europäische Integration an der Universität Erfurt, wirft in unserem Gastbeitrag einen Blick darauf - aus verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Perspektive...

Die ureigene deutsche „friedliche und demokratische Revolution“ der Menschen auf den Straßen und in den Kirchen vieler Städte der DDR, wie sie sich im Herbst 1989 ereignete und zunächst zum Untergang des maroden und antiliberalen SED-Regimes und sodann zur deutschen Einheit führte, konnten die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht vorhersehen. Doch hatten sie anlässlich ihrer im September 1948 aufgenommenen Beratungen im Parlamentarischen Rat in der Präambel des Bonner Grundgesetzes in einem appellativen Stil formuliert, dass das „gesamte Deutsche Volk […] aufgefordert [bleibt], in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“.

Der politische Umbruch in der DDR ereignete sich unmittelbar nach ihrem 40-jährigen Gründungsjubiläum am 7.10.1989. Vorausgegangen waren nach einem Wandel der politischen Verhältnisse in Polen und Ungarn Demonstrationen auch in vielen Städten der DDR sowie dramatisch gestiegene Fluchtbewegungen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Schließlich folgte die Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich mit der Genehmigung der freien Ausreise aller seit dem 10.9.1989 aus der DDR geflohenen Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland durch den ungarischen Außenminister Guyla Horn sowie die nachfolgende Erlaubnis zur Ausreise der sogenannten Botschaftsflüchtlinge durch die seinerzeitige Tschechoslowakei.

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“

Alle diese Ereignisse wären aber kaum vorstellbar gewesen ohne den politischen Wandel in der damaligen Sowjetunion im Gefolge der Machtübernahme Michail Gorbatschows am 11.3.1985. Sein Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ wurde zu einem Schlüsselwort für den weiteren Aufbruch der Bürgerinnen und Bürger der DDR und den Zusammenbruch des diktatorischen und korrupten SED-Regimes. Die Protestdemonstrationen wuchsen in der Stadt Leipzig auf bis zu eine Million Menschen an („Wir sind das Volk – Wir sind ein Volk“). Am 9.11.1989 wurden die Mauer und andere Grenzübergänge geöffnet. Die alten Machtstrukturen lösten sich unter dem von der Volkskammer neu gewählten Ministerpräsidenten Modrow auf. Sogenannte „runde Tische“ gewannen Einfluss auf die weitere politische Entwicklung. Sie verfolgten teilweise das Ziel, einen „Dritten Weg“ einzuschlagen und die Vision eines demokratischen Sozialismus zwischen Markt- und Planwirtschaft politische Realität werden zu lassen. Ohne die Sehnsucht der Bürgerinnen und Bürger nach besseren wirtschaftlichen Verhältnissen klein zu reden, die sie sich von einem Regimewechsel erhofften, waren es in diesem annus mirabilis, 200 Jahre nach der Französischen Revolution, jedenfalls zugleich die Idee der Menschenrechte und die großen verfassungsgestaltenden Prinzipien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozial- und Bundesstaatlichkeit, die die kommunistischen Machthaber kapitulieren ließen.

Die rechtliche Einordnung der Friedlichen Revolution

Georg Jellineks Wort von der „normativen Kraft des Faktischen“ spielt für die rechtliche Einordnung dieser Revolution – wie bereits 1918 – eine bedeutsame Rolle. Auch 1989 wurden Tatsachen mit rechtlichen Folgewirkungen geschaffen, verfassungsgestaltende Grundentscheidungen getroffen, die anlässlich der ersten freien und geheimen Volkskammerwahl vom 18.3.1990 ihre Anerkennung, ihre plebiszitäre Legitimation fanden. 30 Jahre später liegen die politischen Verhältnisse in Deutschland komplizierter, weil eine im Bundestag und in allen deutschen Länderparlamenten vertretene rechtspopulistische Partei anlässlich des Wahljahres 2019 von sich behauptet hat, die deutsche Einheit vollenden zu wollen.      

Der anfänglich ins Auge gefasste Konföderations- oder Vertragsgemeinschaftsplan zwischen der „alten“ Bundesrepublik Deutschland und der DDR wurde nicht weiterverfolgt. Eine große Mehrheit der Abgeordneten der Volkskammer drängte anlässlich der Beratungen am 17.6.1990 zur raschen staatlichen Einheit, also an dem über Jahrzehnte hinweg in der Bonner Republik mit Blick auf die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR im Jahr 1953 begangenen „Tag der deutschen Einheit“. Die Präambel des am 31.8.1990 zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossenen „Einigungsvertrags“ brachte zum Ausdruck, dass die Vertragsparteien entschlossen sind, die Einheit Deutschlands „alsbald“ herzustellen und sie „nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ herbeizuführen. Diese Bestimmung der am 23. Mai 1949 verkündeten deutschen Verfassung ermöglichte es den nach dem Ländereinführungsgesetz von Juli 1990 wiedererstandenen fünf ostdeutschen Ländern, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Nach dem Einigungsvertrag war dies der 3.10.1990. Mit dem Beitritt ging die DDR als Völkerrechtssubjekt unter, Berlin wurde wie das übrige Deutschland wiedervereint. Vorausgegangen waren der Vertrag zwischen den beiden Staaten über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 – mit der Einführung der D-Mark in der DDR zum 1.7.1990 – sowie der Wahlvertrag vom 3.8.1990.

Das historische Zeitfenster erwies sich als klein

Die andere Option, die das Grundgesetz eröffnete, nämlich im Wege einer neuen gesamtdeutschen Verfassung nach Artikel 146 GG zur Einheit zu gelangen, blieb ungenutzt. Dies wird bis heute auch von namhaften Verfassungsrechtlern kritisiert, weil so die Chance verpasst worden sei, eine gesamtdeutsche Identität kraft einer „gemeinsamen“ Verfassung und damit einen gesamtdeutschen Verfassungspatriotismus (D. Sternberger, 1970/1982) zu stiften. Der Vorteil des Beitritts nach Artikel 23 GG lag darin begründet, dass mit dem Staatsvertrag ein Bundesgesetz verbunden ist, das das Grundgesetz in den beigetretenen Ländern und damit für das gesamte Deutsche Volk „in Kraft gesetzt“ hat. Damit konnten viele Probleme der Wiedervereinigung gesetzlich geregelt und so der nicht zuletzt angesichts der desolaten Wirtschafts- und Finanzlage der Sowjetunion günstige Zeitpunkt (Kairos) ergriffen werden, um die Chance einer zügigen Herstellung der Einheit – auch durch die Übernahme von Stationierungskosten der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen in Höhe einer Zahlung von 12 Mrd. DM an die UdSSR – zu nutzen. Das „historische Zeitfenster“, in dessen Rahmen die deutsche Einheit realisierbar war, erwies sich in der Tat als klein. Der Putsch am 19.8.1991 in Moskau beendete die politische Karriere Gorbatschows, des Schöpfers von Glasnost und Perestroika.

Umrahmt wurden die innerdeutschen Verträge von den parallel laufenden Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der beiden deutschen Regierungen mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Sie verfolgten das Ziel der Beendigung der alliierten Vorbehaltsrechte in Bezug auf Deutschland, den Rückzug der russischen Truppen aus Deutschland, verbunden mit Obergrenzen der deutschen Streitkräfte und der Zugehörigkeit des vereinigten Deutschlands zur NATO. Gorbatschow gestand dem wiedervereinigten Deutschland zu, über die Zugehörigkeit zu einem kollektiven Verteidigungsbündnis seiner Wahl zu entscheiden. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der am 15. März1991 in Kraft trat, markiert das Ende der Nachkriegszeit. Die Deutschen haben mit internationaler Unterstützung, namentlich der damaligen Europäischen Gemeinschaften, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.“

Die Einheit Europas und die Einheit Deutschlands entwickelten sich als zwei Seiten eines politischen Prozesses. Mit der Einheit Deutschlands fiel die große und seit 1952 inmitten Deutschlands verlaufende blutige Trennlinie durch Europa, der Eiserne Vorhang. Die Wiedergeburt eines sich auch im Osten selbstbestimmenden Europas wurde 45 Jahre nach der Konferenz von Jalta Wirklichkeit. Doch ist inzwischen die 1990 angestrebte Freundschaft zwischen der NATO und dem untergegangenen Militärbündnis des Warschauer Paktes (1955-1991) einem „Kalten Frieden“ (H. Teltschik) im Verhältnis zu Russland gewichen.

Prof. Dr. Hermann-Josef Blanke

Der Autor, Hermann-Josef Blanke, ist Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europäische Integration an der Universität Erfurt.

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