Anfang Dezember jährt sich der Beginn des sogenannten „Busboykotts“ in Montgomery von 1955 zum 70. Mal. Der Beginn der Bürgerrechtsbewegung wurde in der DDR sehr genau wahrgenommen. Die Bürgerrechtler*innen, allen voran Martin Luther King, Jr., wurden als Repräsentanten des „anderen Amerika“ angesehen, die als Kämpfer gegen Kapitalismus und Imperialismus gedeutet wurden. Sie selbst waren durch ihren christlichen Glauben motiviert und die Schwarzen Kirchen waren das organisatorische Rückgrat des Boykotts. Martin Luther King besuchte im September 1964 Berlin und hielt auch in Ost-Berlin zwei Ansprachen. Die beiden Kirchen waren überfüllt, obwohl der Besuch nicht angekündigt war. Kings Botschaft von der Würde aller Menschen hat viele berührt. Sowohl durch den SED-Staat als auch in der evangelischen Kirche wurden King und die Bürgerrechtsbewegung weiter wahrgenommen. Inwiefern die Rezeption des aktiven gewaltfreien Widerstandes hierzulande auch in den entstehenden Friedensgruppen aufgenommen wurde und die friedliche Revolution 1989 beeinflusste, darüber schreibt apl. Prof. Dr. Michael Haspel vom Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt in diesem Gastbeitrag…
King war auf Einladung von Willy Brandt, des damaligen Regierenden Bürgermeisters in Berlin (West) zur Eröffnung der Berliner Festwochen. In der Waldbühne hielt er im Beisein von Brandt und Bischof Dibelius eine Predigt vor 20.000 Menschen. King war auch von der Ost-CDU in die Hauptstadt der DDR eingeladen worden. Auch andere Vertreterinnen und Vertreter des Schwarzen Freiheitskampfes wurden immer wieder in die DDR eingeladen – und kamen auch. Etwa Paul Robeson, Angela Davis und später auch Ralph Abernathy. King hatte diese Einladungen jedoch immer abgelehnt, um nicht für staatlich-kommunistische Propaganda benutzt zu werden. Das war auch bei diesem Besuch die größte Angst der US-Behörden, so dass sie seinen Pass bei der Einreise nach West-Berlin einbehielten. Jedoch fuhr King während seines Besuches und außerhalb des offiziellen Programms auf kirchliche Einladung hin in den Ostteil der Stadt.
Als amerikanischer Staatsbürger hatte King das Recht, alle Sektoren Berlins zu betreten. Allerdings hätte er dafür einen Ausweis gebraucht. Den hatten die US-Behörden ja genau aus diesem Grund einbehalten. Der DDR-Grenzbeamte am Checkpoint Charlie aber erkannte King und ließ ihn nach Rückfrage bei seinem Vorgesetzten mit seiner American Express-Karte – von Grenzbeamten im Bericht als „Scheckausweis der USA“ bezeichnet – als Ausweisdokument passieren. Obwohl nicht öffentlich für Kings Reden in Ost-Berlin geworben wurde, war die Marienkirche bereits vor seiner Ankunft überfüllt. Die Menschen wurden in die nahegelegene Sophienkirche geschickt, wo King im Anschluss die Rede noch einmal vor einem großen Publikum hielt.
Im Grunde war es dieselbe Predigt, die er in der Waldbühne gehalten hatte. An einigen Stellen pointierte er sie aber im Hinblick auf die besondere Situation. Nach der Einleitung mit dem Hinweis auf seinen Namensgeber überbringt er Grüße auch von den Schwestern und Brüdern in West-Berlin und denen aus den USA und unterstreicht dies mit einem Zitat aus dem bekannten Kirchenlied „In Christus gilt nicht Ost, noch West, es gilt nicht Süd, noch Nord“. Damit hat er den Kontext erschlossen und den Christinnen und Christen hinter dem Eisernen Vorhang Mut zugesprochen. Diese haben sich mit den Unterdrückten in den USA angesichts des anti-kirchlichen Kurses des SED-Regimes drei Jahre nach dem Mauerbau identifiziert. In einem kurzen Verweis auf die Erfahrung in der Bürgerrechtsbewegung in den USA, betont er, dass es „ein Freiheitskampf in den Vereinigten Staaten auf der Basis christlicher Freundschaft“ ist. „Deshalb kämpfen wir mit den Mitteln der Gewaltfreiheit und Liebe“, erläutert King. Dann geht er auf die besondere Herausforderung in der geteilten Stadt ein: „Auf beiden Seiten der Mauer sind Gottes Kinder und kein menschengeschaffenes Hindernis kann diese Tatsache auslöschen.“ King führt weiter aus, dass unabhängig von Ethnie, Herkunft, Glauben, Weltanschauung und Nationalität die Menschheit als eine Einheit verbunden ist: „Es ist eine gemeinsame Menschlichkeit, die uns empfindsam macht für die jeweiligen Leiden der anderen. Und für viele von uns, ist es ein Gott, ein Glaube und eine Taufe, die uns miteinander zu einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Berufung und einer gemeinsamen Hoffnung auf die Rettung der Welt verbinden.“
Auch wenn King betont, dass er zu wenig von der Situation vor Ort weiß, werden viele seine Ausführungen genau auf diesen Kontext bezogen haben, wenn er von der Verheißung der Versöhnung spricht und berichtet, dass sich die Schwarzen im Süden der USA die „Freiheit genommen haben anzunehmen, dass sie als Arbeiter für Gottes Versöhnung dienen.“ Und da Berlin der Ort ist, an dem die Gegensätze im Kalten Krieg aufeinandertreffen, ist hier auch die Aufgabe der Versöhnung besonders gegeben.
Nachdem er die verschiedenen Stationen der Bürgerrechtsbewegung abgeschritten hat, gibt King einen Ausblick auf die Zukunft. Seine Zukunftsvision „Wir werden Schulbeamte wählen, die unsere Kinder fair erziehen“ wird bei den Zuhörenden besondere Aufmerksamkeit hervorgerufen haben, nachdem in den Jahren zuvor die kirchliche Jugendarbeit direkt vom SED-Staat angegriffen und verfolgt worden war. In der Schule wurde nicht nur das sogenannte „wissenschaftliche Weltbild“ vermittelt, sondern christliche Schülerinnen und Schüler, die zur Christenlehre, in den Konfirmationsunterricht oder zur Jungen Gemeinde gingen, wurden verunglimpft. Die Entscheidung zwischen Konfirmation und Jugendweihe war für viele eine Gewissensfrage, denn die Verweigerung der Jugendweihe konnte erhebliche Nachteile bringen. Für Eltern und Kinder war das eine große Herausforderung.
King endet mit der Ermutigung, dass der Glaube zur Freiheit führen wird: „Dies ist ein Glaube, den ich Euch Christinnen und Christen hier in Berlin empfehle. Ein lebendiger, aktiver, kraftvoller öffentlicher Glaube, der den Sieg Jesu Christi über die Welt bezeugt, egal ob eine östliche Welt oder eine westliche Welt. […] Mit diesem Glauben werden wir in der Lage sein, aus einem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu formen […] Mit diesem Glauben sind wir in der Lage, gemeinsam für die Freiheit aufzustehen, denn wir haben die Gewissheit, dass wir eines Tages frei sein werden.“
Die Reaktion der Menschen in der Marienkirche und anschließend in der Sophienkirche war überwältigend. Für manche wurde Kings Auftritt ein bleibender Impuls für ihr ganzes Leben. Etwa für Markus Meckel, den späteren Bürgerrechtler und letzten Außenminister der DDR, der als Jugendlicher selbst anwesend war, oder auch für Joachim Gauck, den späteren Bundespräsidenten, dessen Onkel Gerhard Schmitt als Superintendent King begrüßte. Vieles von dem, was King sagte, wurde von ihnen auf ihre Situation bezogen. Da es in den 1950er- und 1960er-Jahren eine zum Teil aggressiv kirchenfeindliche Politik der SED gab, ist es durchaus verständlich, dass die Christinnen und Christen sich mit den Unterdrückten und ihrer Sehnsucht nach Freiheit identifizierten. Diese beiden Reden hatte eine enorme Wirkung für die evangelische Kirche in der DDR, die ihren Ort in der sozialistischen Gesellschaft noch finden musste. Dies war die erste, unmittelbare Phase von Kings Wirkung. Die Botschaft vom gewaltfreien Einsatz für Freiheit und Gerechtigkeit sprach unmittelbar in die Situation der Christ*innen in der DDR. Da er vom Staat als Kämpfer gegen den Imperialismus hofiert wurde, konnten sich auch die Kirchen auf ihn berufen – wenn auch ganz anders. So gibt es eine offizielle King-Rezeption bis zum Ende der DDR, die vor allem an den Kapitalismuskritiker erinnerte, und eine Rezeption in der Kirche und in kirchlichen Gruppen, die vor allem seinen gewaltfreien Kampf für die Freiheit wahrnahm.
Eine nächste Phase dürften die 1970er-Jahre gewesen sein, also nach Kings Ermordung. Seine Texte wurden gelesen und seine Botschaft von Gewaltfreiheit und Versöhnung wurde auch in den zunehmenden Spannungen des Kalten Krieges wichtig. Eine besondere Rolle spielte dabei auch die Musik. Der Theologe Christhard Wagner erinnert sich: „Martin Luther King war mit dem in der DDR erschienenen Buch ‚Warum wir nicht warten können‘ für uns in der Jungen Gemeinde Anfang der 70er ausgesprochen wichtig – auch im Hinblick auf unsere eigene Situation. Wir sangen damals viele Gospelsongs. In vielen Regalen stand Pete Seegers Platte mit ‚We shall overcome‘. Wir haben dieses Lied geliebt, aber selten selbst gesungen. Es erschien uns unangemessen – wir Amateurdissidenten und das große Lied. Zum ersten mal sangen wir es mit Überzeugung und Begeisterung, dass es jetzt zu uns passt, im Rahmen der Friedensgebete 1989 (für mich in Eisenach). Wir liebten Joan Baez, das American Folk Blues Festival und Mahalia Jackson. Wir fremdelten mit der verordneten Solidarität für Angela Davis und verehrten Martin Luther King.“
Eine weitere Phase der Rezeption setzte in den 1980er-Jahren ein, indem Kings Atom-Pazifismus und sein Ansatz des aktiven gewaltfreien Widerstandes und sein Bild vom „Welt-Haus“, in dem alle friedlich zusammenleben müssen, in der entstehenden Friedensbewegung im Raum der ev. Kirchen in der DDR als Impulse aufgenommen wurden. Es gab Trainings zur Gewaltfreiheit, deren Methoden dann in die entstehenden alternativen kritischen Gruppen der 1980er-Jahre bis hin zur Friedlichen Revolution fortgewirkt haben. Pfarrer Hardy Rylke besuchte schon als Jugendlicher das Friedensseminar Königswalde und erinnert sich: „In vielen Friedens- und Basisgruppen wurden Kings Gedanken lebendig gehalten. Sein Satz ‚Wenn wir es nicht lernen, als Schwestern und Brüder miteinander zu leben, werden wir als Narren miteinander untergehen‘ gehörte zu den geflügelten Worten jener Zeit. Das Friedensseminar in Königswalde entwickelte sich zu einem Ort, an dem pazifistische Überzeugungen Raum bekamen und gewaltfreie Lebensentwürfe ernst genommen wurden. Die Verweigerung des Waffendienstes, die Diskussionen über die KSZE-Schlussakte von Helsinki und sogar die Debatte um Totalverweigerung waren hier Themen, die mutig, offen und mit großer Ernsthaftigkeit verhandelt wurden.“
Auch für Landesbischof Kramer, Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland, spielte King schon früh eine Rolle – etwa bei der Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern: „Martin Luther King spielte für mich schon als Jugendlicher in Wittenberg eine große Rolle, da sich mit dem Namen Luthers hier eine konsequente Idee der Gewaltlosigkeit zeigte. Und die Geschichte, dass jeder zur Demo seine Zahnbürste mitnehmen soll, weil man vielleicht in den Knast kommt, war in der Christenlehre eine Geschichte, die mich sehr beeindruckt hat. Und so hat King für viele Bausoldaten für die Begründung der Waffenverweigerung eine Rolle gespielt und auch für den späteren Mut auf die Straße zu gehen in der DDR und für die friedliche Revolution. Allerdings hatte ich dann doch nie eine Zahnbürste dabei.“
Georg Meusel, Wehrdienstverweigerer und Bürgerrechtler, gehörte ebenso zum Königswalder Friedensseminar und wurde in den 1990er-Jahren zum Mitbegründer des Martin-Luther-King-Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage e.V. Es fanden Konfirmandentage zu Kings Ideen statt, der Film „Dann war mein Leben nicht umsonst“ wurde in vielen Gemeindehäusern und Kirchen vom Filmdienst gezeigt. Weite Verbreitung fand das Lied „Das ist die Story vom kleinen Jonny“, auch, wenn nicht besser bekannt unter „Hast du deine Zahnbürste dabei…“. Es wurde 1967 von Fritz Müller geschrieben. Er war als Chorsänger 1964 beim Besuch Kings in Berlin dabei. Es nimmt einen Bericht auf, nach dem King 1963 eine Gruppe von Schüler*innen, die an den Demonstrationen teilnahmen, fragte, ob sie auch ihre Zahnbürsten dabei hätten. Dies war das Symbol dafür, dass sie bereit waren, ins Gefängnis zu gehen. Vor Kurzem erzählte mir nach einer Lesung ein DDR-Bürgerrechtler, er habe auch immer eine Zahnbürste dabeigehabt. Darüber hinaus noch eine Seife und ein Zigarettenetui.
Bei den Friedensgebeten und Demonstrationen 1989 wurden Texte von King gelesen, auf Transparente gemalt und „We shall overcome“ gesungen. Der Aufruf „Keine Gewalt!“ hatte seine Wurzeln auch in Kings Botschaft der Gewaltfreiheit. So gibt es eine Verbindungslinie vom aktiven gewaltfreien Widerstand vor 70 Jahren in Montgomery bis in die friedliche Freiheitsrevolution 1989!
Im Dezember 2025 jährt sich der „Montgomery Bus Boycott“ zum 70. Mal. Was war am 1. Dezember 1955 und den folgenden Tagen passiert und warum markiert dieses Ereignis den Beginn der Bürgerrechtsbewegung in den USA?
Die USA waren damals von Rassismus und systematischer Ungleichbehandlung der schwarzen Bevölkerung geprägt. In Bussen beispielweise waren die vorderen Sitzplätze nur der weißen Bevölkerung vorbehalten, sogenannte „Übergangsplätze“ mussten bei Bedarf für Weiße geräumt werden. Am 1. Dezember 1955 saßen die politisch aktive Rosa Parks und drei weitere Schwarze nach der Teilnahme an einer Kundgebung gegen rassistisch motivierte Morde auf eben diesen Plätzen. Für ihre Weigerung ihren Platz zu räumen, wurde Rosa Parks verhaftet. Für den Tag ihrer Gerichtsverhandlung plante die neu gegründete Montgomery Improvement Association (MIA) am 5. Dezember 1955 den Montgomery Bus Boycott. Anstatt den Bus zu nehmen, gingen die schwarzen Bewohner*innen an diesem Tag zu Fuß zur Arbeit oder organisierten sich in Mitfahrgelegenheiten. Auch die 18 von Schwarzen geründeten Taxi-Unternehmen unterstützen den Boykott mit verbilligten Fahrten. Der ursprünglich für einen Tag geplante und v.a. friedliche Boykott dauerte am Ende 381 Tage und wurde zu einer der größten Massenbewegungen der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Mit verheerenden finanziellen Folgen für die Busgesellschaften. Trotz massiver Drohungen gegen Parks und die schwarze Bevölkerung von Montgomery zeigte der Boykott Erfolg: Am 20. Dezember 1956 erklärte der Oberste Gerichtshof die Rassentrennungspraxis für verfassungswidrig und hob so die Rassentrennung in den Bussen auf. Am Folgetag endete der Boykott.