Nachgefragt: "Welchen Einfluss hatte und hat Rosa Luxemburg auf die Imperialismusdebatte, Herr Prof. Ettrich?"

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Rosa Luxemburg via Wikimedia Commons

Am 5. März 1871 wurde Rosa Luxemburg geboren. Die Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands vertrat zeitlebens die Ideen des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels, folgte diesen aber nicht blind, sondern setzte sich stets kritisch damit auseinander, dachte sie weiter und gründete ihre eigenen Theorien auf deren Grundlage. 1913 erschien ihr Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“, in dem sie ihre Imperialismustheorie entwickelte – und mit dem sie auch heute noch Einfluss auf Diskussionen über Kolonialismus und Imperialismus nimmt. „WortMelder“ hat bei Frank Ettrich, Professor für Strukturanalyse moderner Gesellschaften an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt, nachgefragt: „Welchen Einfluss hatte Rosa Luxemburg auf die Imperialismusdebatte ihrer Zeit und hat das heute noch Auswirkungen?“

„Heute vor 150 Jahren wurde Rosa Luxemburg als fünftes und jüngstes Kind des Holzhändlers Edward Luxenburg und seiner Frau Lina Löwenstein in der Kleinstadt Zamoćź als Rozalia Luxenburg geboren. Zamoćź gehörte zu diesem Zeitpunkt zu 'Kongresspolen' und damit zum russischen Zarenreich. Von diesem zufälligen biografischen Faktum führt zwar kein direkter Schritt zu oben genannterer Frage, aber man sollte bei Rosa Luxemburg immer im Auge behalten, dass mit dieser Repräsentantin der 'Goldenen Zeit des Marxismus' (etwa 1890–1914) eine Frau in die zentralen Konflikte und Debatten der westeuropäisch, ja deutsch-dominierten sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Bewegungen ihrer Zeit eingriff, die zeitlebens ein besonderes Verhältnis zur 'polnischen Frage' und zu den Entwicklungen in Ostmittel- und Osteuropa hatte. Das zaristische Russland war ein Imperium und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sprach man von 'Imperialismus', wenn man ein durch herausgehobene personale Herrschaft sehr lose integriertes 'Vielvölkerreich' meinte, das von seinen Gegnern als 'Vielvölkergefängnis' denunziert wurde. Mit dem 'proletarischen Internationalismus' meinte Luxemburg es so ernst, dass sie einen polnischen Nationalstaat als Nahziel sozialistischer Politik in Abrede stellte (was man ihr in der Republik Polen gerade heute verübelt, weshalb die gegenwärtige PIS-Regierung auch die Gedenktafel an ihrem Geburtshaus 2018 entfernen ließ).

Vom Wintersemester 1889/90 an studierte Rosa Luxemburg an der Universität Turicensis in Zürich. Die Schweiz kennt zwar erst seit 1971 das Frauenstimmrecht, aber studieren konnten Frauen im Unterschied zu deutschen Universitäten bereits seit 1840, weshalb auch überproportional viele Frauen aus dem Zarenreich in Zürich ihren Wunsch nach akademischer Bildung verwirklichten. Mit einer Dissertation zum Thema 'Die industrielle Entwicklung Polens' (1898) beendete sie 1897 ihre Studien an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, um ihre steile Karriere als politische Publizistin und sozialistische Politikerin zu beginnen.

Luxemburgs Lebenszeit war nicht nur die Hochzeit der marxistischen Arbeiterbewegung, es war eben auch das Zeitalter des modernen Imperialismus. Anfang des 20. Jahrhunderts setzten dann Debatten ein, die die offensichtlichen Phänomene imperialistischer Politik zu kohärenten Deutungen der Trends in den nationalstaatlich und kapitalistisch verfassten Gesellschaften des globalen Nordens theoretisch zu verdichten suchten. Angesichts des zweiten Burenkrieges 1899–1902 veröffentlichte der linksliberale und freihändlerisch gesinnte politische Publizist Johann Atkinson Hobson (1858–1940) 1902 seine Studie 'Imperialism', die vom bolschewistischen Theoretiker W. I. Lenin in seiner einflussreichen Schrift 'Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß' (1916/17) genutzt wurde. Die Lenin‘sche Imperialismustheorie bildete im Grunde 70 Jahre den Kern der Imperialismus- Konzeption des Marxismus-Leninismus. 1910 erschien von dem österreichischen Marxisten Rudolf Hilferding die klassische Untersuchung 'Das Finanzkapital', in der der Imperialismus erstmals als neue Entwicklungsphase des Kapitalismus analysiert wurde. 1918/19 veröffentlichte der österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter den äußerst einflussreichen Aufsatz 'Zur Soziologie der Imperialismen', mit dem die in der Imperialismusdebatte dann durchgehende Frontstellung von marxistischen und nichtmarxistischen Imperialismusdeutungen Konturen gewann. Die Liste einflussreicher und breit diskutierter Beiträge ließe sich noch lange fortsetzen und umfasste am Ende gerade in den sozialistischen Strömungen der Zeit nahezu alle bedeutenden Theoretiker oder 'politischen Köpfe' von V. Adler, O. Bauer, N. Bucharin über K. Kautsky bis hin zu Rosa Luxemburg. An ihrem Beitrag zur Imperialismus-Diskussion ist im historischen Rückblick zunächst bemerkenswert, dass er gerade in den eigenen Reihen, in der deutschen Sozialdemokratie, auf teilweise erbitterte Kritik und Gegenwehr stieß. Als 1913 ihr ökonomisches Hauptwerk 'Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus' erschien, veröffentlichte einzig Franz Mehring, eher als Partei- und Kulturhistoriker und weniger als Ökonom in der SPD anerkannt, eine positive Rezension und ließ diese über das heute unvorstellbar dichte sozialdemokratische Zeitungsnetz verbreiten, was ihm eine Rüge des Parteivorstandes einbrachte.

Prof. Dr. Frank Ettrich
Prof. Dr. Frank Ettrich

Was machte Rosa Luxemburgs 'Imperialismustheorie', entstanden kurz vor dem Epochenbruch des Ersten Weltkrieges, so inakzeptabel für ihre sozialdemokratischen Mitgenoss*innen? Auf den ersten Blick handelt es sich bei 'Die Akkumulation des Kapitals' ganz in der Tradition des post-marx'schen 'Marxismus' der Zeit um eine (heute vermutlich schwer lesbare) Marx-Interpretation, die sich allerdings argumentativ auf den zweiten (von Marx selbst nicht vollendeten) Band des 'Kapitals' konzentriert. Im zweiten Band seines Hauptwerkes wollte Marx eine Darstellung des Reproduktionsprozesses des 'Gesamtkapitals' geben. Wie im gesamten Publikationsprojekt argumentiert Marx auch im Fall der 'einfachen Reproduktion' und der 'erweiterten Reproduktion' (Akkumulation) des Kapitals modelltheoretisch (idealisierend) und zeigt im Grunde, dass sich das Kapitalverhältnis 'auf erweiterter Stufenleiter', also durch ökonomischen Wachstum reproduzieren kann. Luxemburg wiederum nimmt die Annahmen dieses 'geschlossenen Systems' eines 'reinen Kapitalismus' und zeigt gewissermaßen ebenfalls modellimmanent, dass dies nicht möglich ist. Bestimmte Teile des erzeugten Mehrwertes sind in einem 'reinen Kapitalismus', also einer weitestgehend durchkapitalisierten Volks- oder auch Weltwirtschaft nicht realisierbar (Realisationsproblem). Die Details dieser sehr esoterisch anmutenden Argumentation mit den Marx‘schen Reproduktionsschemata sollen hier nicht weiter interessieren. Ohnehin sind es die Konsequenzen dieser Argumentation Luxemburgs, die die Orthodoxie der Sozialdemokratie und des Marxismus zur erbitterten Gegnerschaft reizten. Die erste Schlussfolgerung ist offensichtlich: Die kapitalistische Mehrwertproduktion ist ohne Austauschprozesse mit einer (noch) nichtkapitalistischen Umwelt nicht realisierbar. Das aber hieß im Umkehrschluss für Luxemburg, dass eine friedliche oder gar demokratische Machtergreifung durch das 'Proletariat', wie sie seit der von Eduard Bernstein angestoßenen Revisionismus-Debatte in der deutschen und in Teilen der europäischen Sozialdemokratie angestrebt wurde, die äußeren typischen Erscheinungen der imperialistischen Periode in Kauf nehmen und akzeptieren musste – den Wettkampf der kapitalistischen Staaten um Kolonien und Interessensphären, um Anlagemöglichkeiten für das europäische Kapital, das internationale Anleihesystem, Militarismus, Hochschutzzoll, vorherrschende Rolle des Bankkapitals und der Kartellindustrie in der Weltpolitik.  Für Luxemburg war dies ein definitiver Verrat am „proletarischen Internationalismus“ und ein Wechsel zum 'ökonomischen Nationalismus', der die moralischen und politischen Karten im weltpolitischen Machtspiel anders als im klassischen 'Marxismus' verteilte. Weitaus verständlicher und auch polemischer formulierte Rosa Luxemburg ihre Grundthese in der erst nach ihrer brutalen Ermordung am 18. Januar 1919 veröffentlichten Antikritik 'Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marx‘schen Theorie gemacht haben'. Sie besagt, dass 'die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muss', da der Imperialismus 'nichts anderes als eine spezifische Methode der Akkumulation' sei.

Als am 4. August 1914 eine eher knappe Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion in Deutschland der Bewilligung der Kriegsanleihen und damit dem Ersten Weltkrieg zustimmte, konnte die für politische Kompromisse wenig begabte Rosa Luxemburg dies nur als eine Bestätigung ihrer Imperialismus-Analyse und – wie der Titel ihrer wirkungsmächtigsten Publikation dieser Zeit lautete – als grundstürzende 'Krise der Sozialdemokratie' (Junius-Broschüre, 2016) interpretieren: 'Der Weltkrieg hat die Resultate der 40-jährigen Arbeit des europäischen Sozialismus zunichte gemacht, indem er die Bedeutung der revolutionären Arbeiterklasse als eines politischen Machtfaktors und das moralische Prestige des Sozialismus vernichtet, die proletarische Internationale gesprengt, ihre Sektionen zum Brudermord gegeneinander geführt und die Wünsche und Hoffnungen der Volksmassen in den wichtigsten Ländern der kapitalistischen Entwicklung an das Schiff des Imperialismus gekettet hat' (Entwurf zu den Junius-Thesen).

Im stalinistischen Sozialismus und im Marxismus-Leninismus galt der 'Luxemburgismus' als eine besonders gefährliche Häresie von der machtstützenden Lehre. Der bis zur Halsstarrigkeit von Luxemburg zeitlebens vertretene Internationalismus war für den 'Sozialismus in einem Lande' schwer verdaulich. Hinzu kam, dass sie bei der Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Sozialismus eine Position vertrat, die die Demokratie von den Rechten der Minderheiten her zu denken versuchte (Freiheit als 'Freiheit des Andersdenkenden').

Luxemburgs Imperialismustheorie ist bis heute eine Quelle in den jeweils aktuellen Debatten über Kolonialismus, Militarismus und Imperialismus und spielt auch in den aktuellen Diskussionen über die historischen und gegenwärtigen Interdependenzen von 'globalem Norden' und 'globalem Süden' eine prominente Rolle. Rosa Luxemburg dachte – das sehe ich als den herausragenden Teil ihres Erbes – internationalistisch und damit eben der Tendenz nach nicht-eurozentrisch. In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion zur Kapitalismuskritik ist ihre Schrift 'Die Akkumulation des Kapitals' ebenfalls eine Inspirationsquelle. Ich darf nur darauf verweisen, dass an der FSU Jena im Zuge der Forschungen zu 'Postwachstumsgesellschaften' vor allem der Kollege Klaus Dörre mit dem sogenannten 'Landnahme-Theorem' eine über die neuere Imperialismusdebatte (David Harvey) vermittelte soziologische Luxemburg-Interpretation vorgelegt hat.

Einen unverkennbaren und nachhaltigen Fußabdruck hat Luxemburgs Imperialismustheorie im Werk Hannah Arendts hinterlassen, die sich im Imperialismus-Teil ihrer Totalitarismus-Analyse 'Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft' (1951) auch kritisch auf Luxemburgs Vorgaben bezieht und die politische Imperialismusdiskussion theoretisch von der ökonomischen Engführung befreit, die diese bei Luxemburg aufweist.

Über das besondere, keinesfalls unkritische Verhältnis, das Hannah Arendt zu ihrer Vorgängerin als herausragende politische Denkerin des 20. Jahrhunderts pflegte, informiert ihr schöner Essay 'Rosa Luxemburg 1871–1919', den man in Arendts Sammlung 'Menschen in finsteren Zeiten' findet.“

Abb. Rosa Luxemburg: via wikimedia commons

Inhaber der Professur für Strukturanalyse moderner Gesellschaften
(Staatswissenschaftliche Fakultät)
Lehrgebäude 1 / Raum 0141