Nachgefragt: Was hat es mit der „Offensive“ gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche auf sich?

Einblicke , Gastbeiträge
orthodoxe Kirche in der Ukraine

Die ukrainische Regierung um Präsident Selensky geht aktuell massiv gegen die russisch-orthodoxe Kirche seines Landes vor, u.a. indem „Mietverträge“ für Kirchengebäude gekündigt werden. So berichten es aktuell zahlreiche Medien. Ausgerechnet am Weihnachtstag, der in der Ukraine am 7. Januar gefeiert wird, habe diese "Offensive" einen Höhepunkt erreicht. "WortMelder" hat bei Ernest Kadotschnikow (Doktorand) und Sebastian Rimestad (Privatdozent) von der Religionswissenschaft an der Universität Erfurt nachgefragt und sie um Einschätzung gebeten: Was hat es mit diesen Maßnahmen gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche auf sich?

Herr Rimestad, wie ist das, was in den Medien berichtet wird, zu verstehen?
Sebastian Rimestad: Der ukrainische Staatspräsident Volodymyr Selensky hat schon Anfang Dezember 2022 strenge Maßnahmen gegen die größte religiöse Organisation des Landes, die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), angekündigt. Diese Kirche habe zu starke Verbindungen zum russischen 'Feind', was sich im Laufe mehrerer Razzien in Gemeindekirchen, Klöstern und Pfarrhöfen bestätigt habe. Dort seien feindliche Propaganda, russische Pässe und andere belastenden Materialien gefunden, die diese Maßnahmen rechtfertigen würde. Darunter waren allerdings auch katechetische Kinderliteratur und Gebetssammlungen, deren politischer Bezug zu Russland fragwürdig ist. Um dieses Vorgehen richtig einzuordnen, sind einige Hintergrundinformationen nötig: Zunächst ist die UOK nur eine der beiden orthodoxen Kirchen in der Ukraine, und zwar diejenige, die bis Mai 2022 mit voller inneren Autonomie dem Patriarchat von Moskau geistlich unterstellt war. Ende Mai vergangenen Jahres haben sich die Bischöfe dieser Kirche aber darauf geeinigt, die Verbindung zur russischen Kirche offiziell zu kappen – ohne den kirchenrechtlichen Begriff „Autokephalie“ zu benutzen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Kirche allerdings, trotz mehrfaches Bemühen das Gegenteil zu beweisen, die „russische Kirche“ der Ukraine geblieben. Genau das zeigt sich jetzt auch auf der Staatsebene, wenn die Kirche der Illoyalität beschuldigt wird.

Das Religionsrecht in der Ukraine kennt aber rein formal keine Kirchenkörperschaften. Lediglich Gemeinden und Klöster sind juristische Personen, die sich dann als zugehörig zu der einen oder anderen übergeordneten Kirche erklären. Deshalb kann der ukrainische Staat rein rechtlich gar nicht gegen die UOK als solche vorgehen, sondern nur gegen einzelne Gemeinden und Klöster. Es ist die Aufgabe des „Staatlichen Amtes für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit“, die Beschuldigungen im Einzelfall zu prüfen. Die Leiterin dieses Amtes wurde Anfang Dezember ausgetauscht, scheinbar, weil sie zu UOK-freundlich gewesen ist. Ihr Nachfolger, der Religionswissenschaftler Viktor Jelensky, hat sich in der Vergangenheit mit deutlicher Kritik an der UOK hervorgetan. Ob er diese kritische Sicht auch im neuen Amt beibehalten wird, bleibt abzuwarten. Drittens ist es natürlich ein gewagter Schritt, die bisher größte Religionsgemeinschaft der Ukraine so eindeutig direkt anzugreifen. Das ist „gefundenes Fressen“ für Putins Propaganda, die ja davon ausgeht, dass die „Nazis“ in der ukrainischen Regierung gegen „die wahren religiösen Werte“ verstoßen. Es ist daher nicht ganz eindeutig, wie viel von der Berichterstattung tatsächlich schon die Umsetzung der angekündigten Maßnahmen darstellt und wie viel davon Teil der russischen Propaganda ist. Es gibt selbstverständlich viele Ukrainer, die sich stark mit der UOK identifizieren, aber die Mehrheit der gläubigen Ukrainer würde sich als „einfach orthodox“ bezeichnen und den Kirchenstreit den Bischöfen und Theologen überlassen. Solange es eine Gemeinde in ihrer Nähe gibt, die den Gottesdienst nach gewohntem Ritus feiert, sind ihnen die theologischen und kirchenrechtlichen Spitzfindigkeiten der Kirchenleitungen unwichtig.

Gleichzeitig spielt die feindliche Haltung der ukrainischen Regierung gegenüber der UOK der anderen orthodoxen Kirche des Landes in die Hände. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), die 2019 durch Vermittlung des Patriarchen von Konstantinopel gegründet wurde, sieht sich als die wahre Kirche einer unabhängigen Ukraine. Sie versammelt vor allem die Bischöfe, die keine Verbindung zur russischen Kirche wünschen und ist deutlich patriotischer als die UOK. Seit Gründung der OKU lässt sich in der Ukraine ein stetiger Strom Gemeindeübertritte von der UOK verzeichnen. Während sich 2018 noch über 12.000 Gemeinden der UOK zuordneten, waren es laut offizieller Statistik am 20. Oktober 2022 nur noch knapp über 9000. Die OKU ist aber immer noch um einiges kleiner mit „nur“ 5100 Gemeinden. Dabei ist natürlich auf die üblichen Probleme der Statistik hinzuweisen, besonders in Kriegszeiten. Darüber hinaus sagt der Begriff „Gemeinde“ auch nichts über die zahlenmäßige Größe aus. Eine Gemeinde kann mehrere tausend aktive Kirchgänger umfassen oder eben eine ziemlich leere Kirche. Deshalb ist die Symbolpolitik auch in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Zu Weihnachten, das die Mehrzahl der Gemeinden sowohl der UOK als auch der OKU immer noch nach dem julianischen Kalender am 7. Januar feiern, wurde somit ein Kirchencoup gelandet: Das berühmte Kyjiwer Höhlenkloster, das bisher immer ein Juwel der UOK gewesen war, wurde in diesem Jahr von der OKU „bespielt“. Das war möglich, weil die architektonisch wichtigsten Kirchengebäude der Ukraine dem Staat gehören, der sie den Gemeinden zur Nutzung freigibt. Somit konnte der Staat die UOK von der Nutzung ausschließen, um stattdessen die „patriotischere“ OKU an den geschichtsträchtigen Stätten Weihnachten feiern zu lassen.

Handelt es sich also reine Symbolpolitik ohne konkrete Auswirkungen?
Ernest Kadotschnikow: Ich selbst habe an einem Priesterseminar der UOK studiert. Es gab unter meinen Kommilitonen recht viele Anhänger der kirchenrechtlich verbrieften Selbständigkeit (Autokephalie). Die meisten hatten gemäßigte Ansichten. Was aber die Anhänger der „russischen Welt“ anbetrifft, so waren sie eine verschwindend geringe Minderheit. Und das lange vor der Annexion der Krim 2014 und dem Donbass-Konflikt, von dem russischen Überfall auf die Ukraine ganz zu schweigen. Mein gesamtes Netzwerk in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche ist völlig schockiert von dem russischen Überfall und sieht in Russland nichts als einen „blutrünstigen Feind“. Diese Leute mit ihrem Feind zu assoziieren und als Teil der russischen Kirche abzustempeln und somit als „Russen“, ist ihnen gegenüber mehr als ungerecht. Es gefährdet sie nicht nur moralisch, es gefährdet auch ihr Leben.

Warum dann der fehlende Konsens? Warum kein Griff nach der Autokephalie, wenn man sich schon auf dem Landeskonzil im Mai 2022 unabhängig von der russischen Kirche erklärt hat?
Ernest Kadotschnikow: Wir sprechen von einer Kirche, die immer nach dem Prinzip: „nur nichts kirchenrechtlich Unerlaubtes machen!“ existiert hat. Keine Autokephalie ohne dass die Mutterkirche diese von sich aus gewährt, sonst verliert man die Kanonizität (also die legitime Kirchlichkeit) und es gibt dann keine Gnade, keine Gnadenmittel, keine gültigen Sakramente und kein Seelenheil mehr in der nunmehr schismatischen Gemeinschaft, in der kein Heiliger Geist mehr weht. Das wurde in dieser Kirche, die immer noch die meisten Gottesdienstbesuce in der Ukraine verzeichnet, immer gepredigt. Damit hat sie sich definiert, damit wurde eine Generation von Gläubigen sozialisiert. Und dieser Glaube wurde auch tatsächlich gelebt.

Für die Gläubigen der UOK ist es also keinesfalls nur Symbolpolitik. Im Falle des Weihnachtsfestes etwa, hat die Regierung den Vorsteher der OKU, Metropolit Epiphanius, die Liturgie im Kyjiwer Höhlenkloster feiern lassen. Damit  hat man sich über die dort sehr zahlreiche Mönchsgemeinschaft hinweggesetzt, ihr Gotteshaus entweiht und sie das viel gescholtene „Gräuel der Verwüstung an der heiligen Stätte“ sehen lassen. Denn nichts anderes erkennen sie in dem für ihre Augen schismatischen Kirchenmann. Das ist keine Bagatelle, finde ich. Falls sie das Hausrecht in der Kirche wiedererlangen sollten, werden sie den Kirchenraum neu weihen müssen!

Wie wird diese Episode Ihrer Meinung nach ausgehen?
Sebastian Rimestad: Inwiefern dieses Vorgehen taktisch klug gewesen ist und die ukrainische Position stärken wird, kann ich nicht voraussagen. Die lauten Klagen seitens russischsprachiger Quellen über eine Verletzung der Religionsfreiheit sind meines Erachtens verfrüht und übertrieben. Es handelt sich um eine Ausnahmesituation, die Ukraine ist mitten im Krieg, und noch gibt es keine bestätigten Fälle von Anordnungen, die direkt gegen die Religionsausübung an sich gerichtet sind. Es ist im Interesse der russischen Kriegspropaganda, das Vorgehen gegen die UOK als illegitim darzustellen, aber es ist im Interesse eines großen Teils der intellektuellen ukrainischen Bevölkerung, dass der als patriotischer wahrgenommenen OKU eine größere öffentliche Rolle zugesprochen wird. Es ist zu früh, um ein abschließendes Urteil zu bilden, aber die Hoffnung bleibt, dass sich die Situation nach dem Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine wieder normalisieren kann. Eine Lösung der Kirchenspaltung in der Ukraine setzt aber voraus, dass die weltweite orthodoxe Kirchenspaltung zwischen den Patriarchaten von Konstantinopel und Moskau aufgelöst wird. Das kann erst passieren, wenn die russische Kirche sich von ihrem ungesunden Nationalismus löst, was aber in Kriegszeiten nicht passieren wird. Somit ersehnt auch die orthodoxe Welt ein Ende des blutigen Krieges gegen die Ukraine.

Ernest Kadotschnikow: Mir wäre es zunächst wichtig, zu betonen, dass Präsident Selensky sich wiederholt dagegen gestemmt hat, gegen die UOK vorzugehen. Sein Sieg bei den Wahlen 2019 bescherte ihr geradezu eine Verschnaufpause. Dies nicht, weil er diese Kirche bevorzugte, sondern weil er eine Spaltung in der Gesellschaft zu vermeiden suchte. Jetzt aber, angesichts des Krieges, erscheint es dem Präsidenten nicht mehr opportun, sich für eine Glaubensgemeinschaft einzusetzen, die mit dem Feind assoziiert wird. Auch wenn dies zu Lasten der Religionsfreiheit geht und vor allem gegen viele Ukrainer gerichtet ist, die gegen ihren Willen und ihre Überzeugung zu Russen erklärt werden. Mit der heutigen Stimmung unter seinen Wählern, die Feindbilder suchen, ist ein Vorgehen gegen die UOK wiederum opportun und der Präsident folgt dieser Agenda.

Wenn der Kollege Rimestad davon spricht, dass „die russische Kirche sich von ihrem ungesunden Nationalismus löst“, müssen wir beachten, dass die OKU und ihre Vorgängerkirchen noch schärfer in ihrer nationalistischen Rhetorik, aber vor allem viel gewalttätiger in ihrem Vorgehen waren, denn sie haben der UOK mit Gewalt Kirchen weggenommen und niemals umgekehrt. Unter den Orthodoxen gab sich in den vergangenen Jahrzehnten übrigens gerade die UOK dezidiert nicht nationalistisch – und das vor dem Hintergrund aller orthodoxen Kirchen – freilich, weil es in ihrem Fall gerade opportun war. Kurzum, der Nationalismus von der neugeschaffenen OKU ist mindestens genauso ungesund wie der von der Russischen (aber auch der Griechischen, Serbischen, Rumänischen usw.) Orthodoxen Kirche. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund zur Hoffnung auf eine Besserung, eher umgekehrt – dank Putins Angriff.

Ich lese recht aktiv mit, was die anderen Religionsgemeinschaften in Russland zur Sache der „Spezialoperation“ vermelden. Es sieht zumeist genauso schlimm aus wie im Falle der orthodoxen Kirche. Das Verhalten der russischen Kirchenleitung angesichts des Krieges wird nicht dadurch bestimmt, wie sie aufgestellt ist, sondern die gesamte russische Gesellschaft mitsamt ihren Religionsgemeinschaften wird gleichgeschaltet. Ich sehe kein Fortschritt in der gegenwärtigen Entwicklung in der Ukraine. Es gibt keine einfache Lösungen, weder in Bezug auf den innerukrainischen Kirchenstreit noch auf der Ebene der Gesamtorthodoxie. Und  dabei ist das staatliche Vorgehen gegen die UOK nicht gerade hilfreich.