Was bleibt nach dem Holocaust? Überlegungen anlässlich des Gedenktags am 27. Januar

Einblicke , Vorgestellt
Holocaust-Mahnmal in Berlin

78 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, mit dem Aussterben der Zeitzeugen und der Dominanz von Gegenwartskonflikten scheint die Erinnerung an den Holocaust in den Hintergrund getreten zu sein. Was bleibt von der deutschen Erinnerungskultur in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft? Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar ist ein Anlass, über den Zusammenhang von Gedenken und Erinnern an den Holocaust und Migration, Antisemitismus und Rassismus nachzudenken. Nancy Alhachem, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit zu Formen der Erinnerung an den Holocaust und Traumabewältigung im Kontext von Migration und Flucht.

Ihre Forschung befasst sich mit dem Aufeinandertreffen des Gedenkens an den Holocaust in Deutschland und Migranten mit Kriegserfahrungen – hauptsächlich Syrer, Kurden und Palästinenser. Bei Letzteren geht Alhachem davon aus, dass sie aufgrund des israelisch-palästinensischen Konflikts dem etablierten deutschen Gedenken gegenüber zurückhaltend sind. Solidarität mit den Palästinensern werde häufig als "importierter Antisemitismus" und als Unfähigkeit, mit den jüdischen Opfern des Holocausts zu sympathisieren, angesehen. Der Antisemitismus habe in Deutschland in den vergangenen Jahren zugenommen, könne aber nicht unabhängig vom allgemeineren Phänomen des Rassismus betrachtet werden.

Das allgemeine Phänomen Rassismus – der wahre ‚Elefant im Raum‘ – blieb unterbelichtet, als könnte tatsächlich der Antisemitismus (d. h.: Judenfeindschaft) als isoliertes Phänomen bekämpft werden" (Shimon Stein und Moshe Zimmermann)* – dieses Zitat dient als Leitfaden für die Überlegungen von Nancy Alhachem.

"In den vielen Jahren, in denen ich mich mit diesem Thema beschäftigt habe (umfangreiche Feldforschung, qualitative Interviews und Expertengespräche), habe ich festgestellt, dass sich die Erinnerung an den Holocaust durch das Engagement der Migranten verändert hat", sagt Nancy Alhachem. Dies sei vor allem auf individueller Ebene zu beobachten, wo Gedenkstätten Möglichkeiten für den affektiven Umgang mit dem eigenen Schmerz und dem Schmerz der anderen bieten.

Ihre Forschung hat eine historische und eine soziologische Dimension. Historisch gesehen waren die Rolle Nazideutschlands in der Levante und die Rezeption des Holocausts eng mit dem Entkolonialisierungskampf und der Nationenbildung verbunden. Das Verständnis historischer Entwicklungen ist wichtig, um die sozialen Probleme aufzudecken, die in einer postmigrantischen Gesellschaft auftreten, wobei Inklusivität und Zugehörigkeit neu verhandelt werden.

"Der Holocaust gab uns ein Vokabular an die Hand, um Gewalt und unaussprechlichen Schmerz auszudrücken. Es gibt selten Ereignisse in der Welt, die isoliert betrachtet werden können. Wenn wir aus der Vergangenheit lernen wollen, müssen wir den sozialen Charakter und die Erzählung (nach Erich Fromm) überdenken, die Gleichgültigkeit und ängstlichen Nationalismus erträglich machten. Wie der Krieg in Syrien, Afghanistan, dem Kongo und der Ukraine (und viele andere) uns daran erinnern, ist Massengewalt keine Sache der Vergangenheit. Wenn wir etwas vom Holocaust lernen können, dann, wie schnell Zusammenleben und Solidarität in Angst und Gewalt umschlagen kann."

Notwendig bleibt nach Ansicht von  Nancy Alhachem vor allem die Anerkennung der Leiden der Menschen in ihren Verstrickungen und ihrer Individualität sowie die gesellschaftliche und individuelle Verantwortung, einen Raum zu eröffnen, einen sicheren und resonanten Raum für wechselseitiges Hören und Verstehen.

* in: Benz, Wolfgang (Hg.). Streitfall Antisemitismus: Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Berlin, 2020 (hier Seite 20).

Weitere Informationen / Kontakt:

Nancy Alhachem
Nancy Alhachem
Doktorandin
(Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien)
Max-Weber-Kolleg (Steinplatz 2) / Raum 515 (4. OG)
Profile page