„Wir wollen ein Gespür dafür entwickeln, wie Unternehmen in Thüringen auf die neue globale Situation schauen“

Einblicke , Vorgestellt
Container im Hafen

Seit einigen Jahren ist immer wieder vom „Ende der Globalisierung“ die Rede. Und in der Tat scheint sich die immer weiter fortschreitende ökonomische Verflechtung der Welt zu verlangsamen. Geopolitische Loyalitäten einzelner Länder oder Machtblöcke treiben den Handel stärker an, neue Konkurrenzen entstehen – vor allem im Bereich der High-Tech und der kritischen Rohstoffe. Was bedeutet das für uns? Mit dieser Frage beschäftigt sich die neue Forschungsstelle für Geoökonomie (EFGEo) an der Universität Erfurt. Sie wird vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft im Rahmen der Thüringer Forschungs-, Technologie- und Innovationsförderung in den kommenden drei Jahren mit knapp 400.000 Euro gefördert und geht auf die hiesige „Forschungsgruppe Sicherheitskapitalismus“ zurück. „EFGEo“ soll interdisziplinäre Grundlagenforschung an der Schnittstelle von Internationaler Politischer Ökonomie, Rechtswissenschaften, Internationalen Beziehungen und Konfliktforschung sowie Public Policy betreiben und dies an die besondere Situation der europäischen, deutschen und thüringischen Wirtschaft rückbinden. Parallel zu dieser Forschungsstelle hat Anfang 2025 an der Universität Erfurt auch das neue Promotionskolleg „De-Globalisierung und Globale Entkoppelung“ (DeGlobE) seine Arbeit aufgenommen. Es wird bis 2029 mit elf Stipendien sowie weiteren 567.000 Euro von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Beide – Forschungsstelle und Promotionskolleg – bündeln also in den kommenden Jahren die Expertise zum Thema Geoökonomie und De-Globalisierung auf dem Erfurter Campus. Für unseren Forschungsblog „WortMelder“ haben wir einmal mit Madeleine Böhm, seit diesem Monat wissenschaftliche Koordinatorin des Promotionskollegs, und Jan Ickler gesprochen, der als Postdoc neu an Bord der Forschungsstelle „EFGEo“ ist…

Jan Ickler und Madeleine Böhm
Jan Ickler und Madeleine Böhm

Herr Ickler, werden Wirtschaft und Handel von den großen Staaten und Bündnissen nur noch als Mittel betrachtet, um ihre geopolitischen Ziele zu erreichen? Oder anders gefragt: Wird die neoliberale Globalisierung gerade von einem neuen „Zeitalter der Geoökonomie“ überholt?
Ickler: Wenn wir uns die aktuellen Entwicklungen und Krisenlagen in der Welt anschauen, entsteht dieser Eindruck. Die America-First-Politik in Trumps zweiter Amtszeit, das stärker werdende Gegengewicht der BRICS-Staaten sowie einzelne protektionistische Gegenversuche anderenorts zeigen gerade, dass eine auf Interdependenzen, gemeinsamen Handel und kulturellen Austausch sowie feste Institutionen basierende Weltordnung zumindest von manchen Akteuren in Frage gestellt wird. Trotzdem mag es etwas vorschnell sein, zu attestieren, dass Handel nur noch geopolitischen Maximen folge. 

Was wir sehen, ist eher eine Welle der Politisierung wirtschaftlicher Beziehungen und eine sich davon nicht unabhängig herausbildende neue geopolitische Ordnung. Wirtschaftsakteure wie Unternehmen sind dieser Entwicklung aber nicht hilflos ausgeliefert, sondern müssen als aktive Mitgestalter begriffen werden, die diese Dynamiken mitprägen. Wirtschaftliche Integration und Verflechtung finden also nach wie vor statt, jetzt allerdings unter einem anderen Vorzeichen. 

Im Zuge dessen werden sich Unternehmen und ganze Sektoren anpassen. Das Gleiche gilt wahrscheinlich auch für Staaten jenseits der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten. Für sie entstehen neue Risiken, aber auch Chancen, sich in dieser Umbruchsphase neu zu positionieren. Das markiert vielleicht das Zeitalter der Geoökonomie. Die Perspektive, die wir hier in Erfurt etablieren, fragt nach den Bedingungen dieses Wandels und versucht wirtschaftliche und politische Dynamiken von De-Globalisierungserscheinungen zusammenzudenken. Damit geraten auch gegenläufige Prozesse und Überlagerungen unterschiedlicher Logiken in den Blick, die sich allzu einfachen Deutungen versperren. 

Was sind die zentralen Treiber dieses Prozesses der „De-Globalisierung“?
Böhm: Die Treiber sind sicherlich zahlreich und auch miteinander verschachtelt; sie lassen sich also auch nicht so einfach auseinanderdividieren – weshalb wir uns freuen, dass wir uns diesem komplexen Thema im Rahmen eines Promotionskollegs widmen dürfen. Denn sowohl meine Arbeit als auch die der Doktorand*innen wird sich zwangsläufig mit den Treibern auseinandersetzen müssen.

Wir haben aber auch jeden Fall schon einige Indizien für jene Treiber, die Sie ansprechen und die auch andere – wie beispielweise Milan Babic – herausgearbeitet haben: So beobachten wir eine zunehmende Diversifizierung von Lieferketten bei gleichzeitig stärker werdender Regionalisierung. Dafür kann es viele Gründe geben, zum Beispiel das sich verändernde Machtgefüge durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, aber auch die Folgen der COVID-Pandemie, während der die Vulnerabilität von sehr stark vernetzten Lieferketten noch deutlicher wurde. Gleichzeitig sehen wir, dass Handels- und Investitionsbeziehungen zunehmend als Instrument verwendet werden, um politischen Druck zu erzeugen, wie dies beispielsweise Donald Trump durch die Ankündigung von neuen Zöllen und Zolldeals regelmäßig tut – wie dies ja auch schon Jan Ickler beschrieben hat. Die genaue Wirkung dieser und anderer Treiber, wie beispielsweise technologische Innovationen und die Monopolisierung intellektuellen Eigentums oder auch Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekte, gilt es genau zu analysieren.

Was bedeutet denn diese Neuausrichtung weg von ökonomischer Internationalisierung hin zur Abschottung für uns in Deutschland oder sogar in Thüringen? Welche Chancen und/oder Risiken sehen Sie?
Ickler: Zunächst stehen natürlich die Risiken für einheimische Unternehmen im Raum. Die deutsche Wirtschaft ist stark globalisiert: Exporte, gerade im Automobil- und im High-Tech-Sektor, kennzeichnen das deutsche Wachstumsmodell und sind für einen Großteil der Wertschöpfung verantwortlich. Gleichzeitig ist die deutsche Industrie auf den Bezug von Vorprodukten und natürlichen Ressourcen angewiesen. 

Eine Störung von Lieferketten oder wirtschaftlicher Protektionismus, wie wir es im Zuge von Trumps Zollpolitik oder nach der Invasion in der Ukraine erlebt haben, bedeutet enorme Unsicherheiten für diese Unternehmen. Sie müssen schnell reagieren, Risiken abschätzen und neue Strategien entwickeln. Die durch die dynamische geoökonomische Entwicklung entstehende Unsicherheit beeinflusst darüber hinaus die Zukunftsplanung in Unternehmen, deren Markterwartungen und Investitionen. In Zeiten gefährdeter Lieferketten und der Frage nach der Versorgungssicherheit mit kritischen Rohstoffen übersetzen sich also geopolitische und wirtschaftliche Umwälzungen auf globaler Ebene in konkreten Anpassungsdruck vor Ort. Hier kann Politik flankierend eingreifen und versuchen, positive Anreize zu setzen und Verlässlichkeit zu fördern.

Böhm: Zum einen ist wichtig, zu betonen, dass die ökonomische und politische Abschottung kein eindeutiger Befund ist. Ich habe ja schon Milan Babic erwähnt, der argumentiert, dass die Veränderung der Lieferketten und ihre Regionalisierung sogar eine intensivere Verflechtung nach sich ziehen könnten. Aber ich denke, dass schon klar ist, dass sich auch Thüringer Unternehmen umstellen müssen. Sie müssen sich von einem sehr lang geltenden Paradigma lösen: jenem, dass die Maxime mehr Globalisierung lautet und die vorrangige Aufgabe von Staaten (und Organisationen wie der EU) die Bereitstellung eines allgemeinen Rahmens für diese Globalisierungsprozesse sei. Vielmehr gilt es nun, komplizierte und sich in Veränderung befindende Situationen einzuschätzen und das eigene unternehmerische Handeln entsprechend anzupassen. Die Risiken dafür liegen natürlich auf der Hand: Es ist sicherlich nicht ausgeschlossen, dass Situationen falsch bewertet werden. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen ist es aber schwer, diese Entscheidungen gut zu treffen: Strategische Analyseabteilungen sind teuer, und es sind eben vor allem die großen Unternehmen, die sich Risikoanalyseabteilungen leisten können. Auf der anderen Seite stellen Thüringer Unternehmen aber sehr gute Produkte her, sind gut vernetzt und auch krisenerprobt. Das ist durchaus auch als Chance zu begreifen.

Welche Schwerpunkte setzen die beiden neuen Initiativen – Forschungsstelle und Promotionskolleg – nun in ihrer Forschung?
Ickler: Für die Forschungsstelle für Geoökonomie gilt es, geoökonomische Verwerfungen und Wandlungsprozesse in konkrete Risiken für deutsche und Thüringer Unternehmen zu übersetzen. Dabei reicht es nicht nur, „in den großen Linien zu denken“, sondern gerade die Situation zu verstehen. Wir wollen in den nächsten Jahren ein Gespür dafür entwickeln, wie die Unternehmen insbesondere in Thüringen auf die neue globale Situation schauen, wie sie Strategien entwickeln und – nicht zuletzt – was das für die Beschäftigten und den Freistaat allgemein bedeutet.

Böhm: Das Promotionskolleg „De-Globalisierung und Globale Entkopplung“ ist ja in der großartigen Situation, dass wir uns dem Thema ausgiebig und breit widmen können: Unsere elf Promovierenden arbeiten an ihren eigenen Forschungsprojekten, die jeweils in einem von vier Themenfeldern angesiedelt sind und die so engen thematischen Austausch mit gleichzeitiger breiterer Diskussion verknüpfen. Ganz konkret konzentrieren sich die Analysen zu De-Globalisierung und globaler Entkopplung zum einen auf das Themenfeld „Sauberer Umgang und grüne Technologien“, wo wir die Prozesse globaler Neuordnung im Zuge des Übergangs zu einem klimafreundlicheren Wirtschaften analysieren. Das Themenfeld „Lieferketten: Menschenrecht und nachhaltige Entwicklung“ wiederum vereint Arbeiten, die sich auf die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Menschenrechten konzentrieren, während das dritte Themenfeld, „Wertschöpfung und Sicherheitsapparate“, einen Fokus auf die Frage legt, wie Sicherheitsapparate genutzt werden, um Wertschöpfung zu steigern. Und das vierte Themenfeld, „Finanz-Infrastrukturpolitik“ fokussiert auf Finanzmarktdynamiken und untersucht hier potenzielle Prozesse der Re- und De-Globalisierung und globaler Entkoppelung. 

Und welche Rolle übernehmen Sie jeweils in diesen Projekten, was interessiert Sie persönlich dabei besonders?
Böhm: Meine Rolle ist primär die Koordination des Promotionskollegs und hier im Besonderen die Konzeption und Durchführung des (wissenschaftlichen) Begleitprogramms. Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit und die inhaltlichen Diskussionen mit den Promovierenden und werde daneben aber auch mein eigenes Forschungsprojekt vorantreiben, in dem ich mich mit geoökonomischen Dynamiken von Plattformunternehmen und deren Infrastrukturen beschäftige. Hier interessieren mich vor allem das Design und der Aufbau dieser Unternehmen und ihrer Architektur.

Ickler: Ich koordiniere die EFGeo und werde mich hauptsächlich um den Kontakt mit Thüringer Unternehmen und anderen Akteuren hier vor Ort bemühen. Mir geht es hier vor allen Dingen um einen lebendigen Austausch und ich freue mich darauf, von den Erfahrungen zu lernen. Mit den gesammelten Daten aus unserer Forschung hoffen wir auch, zu einem besseren Verständnis der Mikro-Makro-Dynamiken in geoökonomischen Fragen beizutragen und damit Ergebnisse zu Tage fördern, die auch über die Wissenschaft hinaus relevant bleiben. 

Da gibt es sicherlich einige Synergieeffekte. Welche konkreten Anknüpfungspunkte zwischen den beiden Initiativen sehen Sie?
Ickler: Obwohl sich die Ziele der beiden Initiativen unterscheiden, glaube ich, dass wir uns prima ergänzen. Für die EFGeo können wir zum Beispiel super viel von den Promovierenden und ihren jeweiligen Perspektiven und Forschungsergebnissen lernen. Gleichzeitig hilft die bei uns erhobene Empirie vielleicht auch dem einen oder anderen Promovierenden. 

Böhm: Ich freue mich, dass wir unsere unterschiedlichen Forschungsperspektiven und -schwerpunkte regelmäßig zusammenbringen können. Wir werden mit Sicherheit bei den Veranstaltungen der jeweils anderen Projekte anwesend sein und hier viel voneinander lernen können. Gleichzeitig ist das EFGeo-Projekt ein gutes Beispiel für unsere Promovierenden, wie empirische Forschung stattfinden kann, und die Erfahrungen aus dem Projekt können aktiv auch an diese herangetragen werden. So entstehen Lerneffekte und wir geben den Promovierenden direkt Einblicke in ein Forschungsprojekt. Außerdem würde ich schon sagen, dass wir einen Bereich haben, in dem durchaus hohe Synergieeffekte erzielt werden: Unsere wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Kommunikation profitiert ungemein von dem größeren Personenkreis, von den vielen thematisch einschlägigen Veranstaltungen und den Angeboten und wir erreichen mehr Menschen mit unserer Arbeit.

Welche Fragen sollen denn am Ende der Förderperiode beantwortet sein und inwiefern könnten diese Forschungsergebnisse auch ganz konkret in Thüringen dazu beitragen, die Herausforderungen, die die „De-Globalisierung“ mit sich bringt, zu meistern?
Ickler: Eine erste Frage betrifft sicherlich die Art der geoökonomischen Risiken, die die Thüringer Wirtschaft – die ja auch breit differenziert ist – direkt betreffen. Welche Regionen, Handelspartner und Rohstoffe sind entscheidend? Wie resilient sind Thüringer Firmen gegenüber Störungen in Lieferketten? Aber auch: Welche Erwartungen haben Unternehmen? Ein zweites Forschungsdesiderat der EFGeo ist herauszufinden, wie Unternehmen in Thüringen und Deutschland auf geoökonomische Risiken reagieren, sprich: wie sie ihre unternehmerischen Strategien anpassen und interne Prozesse und Strukturen aufbauen. Wir wollen also in die Unternehmen hineinzoomen und uns Kommunikationswege, Planungen und Abläufe anschauen – und dabei auch insbesondere auf Fragen der betrieblichen Mitbestimmung blicken. 

Böhm: Ich glaube nicht, dass wir Fragen zur De-Globalisierung und globalen Entkopplung ein für allemal beantworten können. Aber ich bin mir sicher, dass wir einen unschätzbaren Beitrag zur Analyse dieser Prozesse liefern: Was genau meint denn der Begriff De-Globalisierung? Und findet globale Entkoppelung tatsächlich statt? Wie buchstabieren sich die Prozesse dezidiert in den unterschiedlichen Bereichen aus? Und was sind die Folgen davon – für Arbeitnehmer*innen, Unternehmen und politische Entscheidungsträger? Ich bin mir sicher, dass wir hier interessante Antwortvorschläge liefern können und mir gleichzeitig auch sicher, dass diese dynamischen Prozesse auch wieder selbst viele neue Fragen aufwerfen werden.

Kontakt:

akademische Koordinatorin DeGlobE
(Willy Brandt School of Public Policy)
Postdoktorand Erfurter Forschungsstelle für Geoökonomie (EFGEo)
(Willy Brandt School of Public Policy)
C19 – Forschungsbau „Weltbeziehungen“ / C19.03.08
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