Kalender und Almanache sind typische Zeugnisse der Buch- und Verlagskultur des 18. Jahrhunderts, die ein adeliges und zunehmend auch bürgerliches Publikum unterhalten, belehren und informieren wollten. Als sich das Herzogtum Gotha im 18. Jahrhundert zu einem überregional ausstrahlenden Verlagsort entwickelte, erschienen auch hier die ersten Kalender. Anlässlich des 1250-jährigen Jubiläums der Stadt Gotha erzählt die Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt in diesem Jahr nun erstmals in einer Ausstellung die Geschichte des „GOTHA“, des berühmten Hofkalenders, in der Zeit von 1763 bis 1944. In unserem Forschungsblog „WortMelder” geben wir einen ersten Einblick in diese Geschichte…
1740 verlegte Andreas Reyher erstmals einen „Neu verbesserten Gothaisch-genealogischen und Schreib-Calender“, der das Programm des späteren Hofkalenders vorwegnahm. 1764 veröffentlichte Johann Christian Dieterich erstmals den „Almanach de Gotha contenant diverses connoissances curieuses et utiles, pour l’Année MDCCLXV“. Er enthielt außer einem Kalender eine kurze Genealogie der europäischen Fürsten, die Stammtafel des sächsischen Hauses, das chronologische Verzeichnis der deutschen Kaiser, zahlreiche Mitteilungen aus Wissenschaft, Handel und Kunst. 1765 folgte sein deutsch-sprachiges Pendant unter dem Titel „Gothaischer Hofkalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1765“. Damit begründete sich eine Folge, die bis 1944 ununterbrochen fortgesetzt wurde. Fortan kamen jährlich je ein französisch- und ein deutschsprachiger Kalender auf den Markt. Darin finden sich einerseits immer wiederkehrende und andererseits alljährlich wechselnde Artikel. Zu den ständigen Inhalten zählten genealogische Verzeichnisse, die Tabellen der europäischen Herrscher und Statistiken zu Bevölkerungszahlen, Territorien, Heeresstärken und Staatsausgaben sowie Maß-, Münz- und Gewichtstabellen.
Zu den variierenden Inhalten gehörten unterhaltsame und informative Aufsätze. Illustriert wurden die Kalender mit Kupferstichen namhafter Künstler. 1776 übernahm Carl Wilhelm Ettinger den Hofkalender. Ettinger war einer der bedeutendsten Thüringer Verleger seiner Zeit. Die beständige Ausweitung seines Geschäftes veranlasste ihn, einige seiner Verlagsprodukte zu verpachten. So übertrug er 1785 „die Verlagsbesorgung sowohl als auch den Vertrieb“ des Hofkalenders „auf eine gewisse Reihe von Jahren […] dem Herrn Justus Perthes“. Johann Georg Justus Perthes, der 1778 nach Gotha gekommen und als Kompagnon in die Ettingersche Verlagsbuchhandlung eingestiegen war, wagte damit den Schritt in die Selbstständigkeit. Fortan waren Perthes und der Hofkalender über 150 Jahre untrennbar miteinander verknüpft. Diese Symbiose wird allerdings auf dem Titelblatt des „Gotha” erst 1816, im Todesjahr von Justus Perthes, sichtbar, als der Pachtvertrag mit Ettinger auslief. Ab sofort bildete der Hofkalender mit den zeitgleich einsetzenden geografisch-kartografischen Publikationen die beiden wichtigsten Säulen des Perthes Verlages und ließ ihn zu einem global agierenden Unternehmen werden. Die jährlich erscheinenden Ausgaben des „Gotha” wurden zu einer beliebten Weihnachts- und Neujahrsgabe. Sie etablierten sich in adeligen und bürgerlichen Haushalten, in Amtsstuben, Kontoren, Konsulaten und Ministerien. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts modernisierte sich der „Gotha” und behauptete sich so als einziger Kalender der Aufklärungszeit dauerhaft am Markt.
Allmählich verschwanden die unterhaltsamen und populären Texte zugunsten statistischer, diplomatischer und chronologischer Informationen. Zugleich gewannen die Adelsgenealogien immer breiteren Raum, sodass man schließlich eigenständige genealogische Taschenbücher auskoppelte, die sich an den Rangstufen des Adels orientierten. Die Folge eröffneten 1825 die „gräflichen“, ihnen folgten die „freiherrlichen“ (1848), die „uradeligen“ (1900) und zuletzt die „briefadeligen“ Taschenbücher (1907). Für die Aktualität der Einträge hatten die Familien selbst zu sorgen.
So erreichten die Gothaer Redaktion des Hofkalenders täglich Briefe, in denen Geburten, Taufen, Hochzeiten, Auszeichnungen und Todesfälle angezeigt wurden. Neben den genealogischen Taschenbüchern, die zu einem Standardwerk der europäischen Adelsgesellschaft avancierten, profilierte sich der Hofkalender/Almanach zu einem statistisch-diplomatischen Handbuch der Staatenwelt des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Redaktion bediente sich dabei eines weitgespannten Korrespondentennetzes aus Diplomaten, Konsuln und Beamten. 1928 entfiel dann das ursprüngliche Herzstück des Hofkalenders: das Kalendarium. Am Ende waren der Hofkalender und die ihm angeschlossenen genealogischen Taschenbücher auf eine stattliche Reihe von zehn Bänden im Jahr angewachsen. Im Laufe seiner Geschichte geriet der „Gotha” immer wieder in den Strom des historischen Geschehens. Napoleon ließ die Ausgabe auf das Jahr 1808 einziehen und zensieren. In den 1930er-Jahren gelangte der Hofkalender in den Sog der nationalsozialistischen Rasssenideologie und nahm nur noch den „reinblütigen“ Adel auf, der keine jüdischen oder farbigen Vorfahren nach 1750 nachwies. 1944 erschienen der Almanach de Gotha und sein deutschsprachiges Gegenstück letztmalig. Die genealogischen Taschenbücher hatten schon zwei Jahre zuvor aufgrund kriegswirtschaftlich bedingten Papiermangels ihr Erscheinen eingestellt. Angesichts der Verstrickung in das nationalsozialistische Regime war nach dem Zweiten Weltkrieg an eine Wiederaufnahme des „Gotha”, noch dazu in der sowjetischen Besatzungszone, nicht mehr zu denken. 2013 erwarb die Vereinigung der Deutschen Adelsverbände e.V. die Namensrechte des „Gotha“ vom Ernst Klett Verlag, dem Rechtsnachfolger des Perthes Verlages. Seit 2015 erscheinen die neuen Ausgaben des „Gotha“ im Verlag des Deutschen Adelsarchivs. Die historische Überlieferung des „Gotha”, darunter das Archiv und die Arbeitsbibliothek der Redaktion, ist heute Teil der Sammlung Perthes, die 2003 vom Freistaat Thüringen mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erworben und von der Forschungsbibliothek Gotha bewahrt und betreut wird. Darunter befinden sich repräsentative historische Schränke zur Präsentation des Hofkalenders auf Verkaufsmessen und eine nahezu vollständige Sammlung der Belegexemplare des „Gotha” und seiner Vorläufer, die fast 700 Bände umfasst und weit über 20 laufende Meter einnimmt.
(Text: Sven Ballenthin)
Wer jetzt neugierig geworden ist, dem sei die von Dr. Petra Weigel und Sven Ballenthin kuratierte Jahresausstellung der Forschungsbibliothek Gotha unter dem Titel „ADEL MACHT STAAT“ empfohlen. Sie ist vom 7. September bis zum 2. November im Spiegelsaal auf Schloss Friedenstein zu sehen. Dazu gibts ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Gesprächsformaten, Lesungen, Führungen und dem “Tag der offenen Perthes-Sammlung”.