Weihnachten steht vor der Tür – bereits die Adventszeit und natürlich auch die Weihnachtsfeiertage sind verbunden mit vertrauten Ritualen, Lichtern, Musik und Märkten. Doch was macht dieses Fest eigentlich so erstaunlich widerstandsfähig? Der Religionswissenschaftler Prof. Dr. Jörg Rüpke zeigt in seiner jüngsten Publikation „Weihnachten in der Stadt“, dass das Fest immer im Wandel war: geprägt von städtischen Räumen, verschiedenen Akteur*innen, Konsumpraktiken und überraschenden globalen Verflechtungen. Ein Blick auf Weihnachten als urbanes Ritual, das religiöse Tradition, materielle Kultur und gesellschaftliche Werte auf besondere Weise verbindet.
In Ihrem Buch betonen Sie, dass sich Weihnachten historisch immer wieder dramatisch verändert hat. Welche Akteure haben diesen Wandel denn vorangetrieben?
In der langen Rückschau ist es gerade die Vielzahl der Akteure, die so überrascht. Je komplexer das Fest geworden ist, um so mehr Ansatzpunkte bot und bietet es, dass sich Menschen mit je eigenen Interessen einklinken: Musikerinnen, Einzelhändler, Kirchenreformer oder zivilgesellschaftliche Akteure. Besonders überraschend fand ich den Widerstand von polnischen Darstellerinnen und Darstellern von Weihnachtsspielen gegen ihren „Rausschmiss“. Als Folge aufklärerischer Kritik innerhalb der Katholischen Kirche Ende des 18. Jahrhunderts wurden in Kleinpolen die weihnachtlichen Puppenspiele aus den Kirchen verbannt. Daraufhin bauten die Darstellenden ihre eigenen Krippen-Bühnen und auch Puppen, die sie auf Märkten an Familien verkauften oder sogar Auftritte spezialisierter Puppentheater-Spielender vermittelten.
Gibt es globale Transformationen des Festes, die Sie selbst überrascht haben oder Veränderungen, die bisher von der Forschung unterschätzt werden?
Die massive Bedeutung von Materiellem und Objekten hat man vor allem im Weihnachtsbaum gesehen. In meinen Forschungen hat sich aber gezeigt, dass die Bedeutung solcher Gegenstände und die damit verbundenen Praktiken – sei es beim Essen oder anderen Formen des Konsums – noch viel weiter geht.
Sie sprechen es gerade an – denken wir an Weihnachten, spielt nicht selten auch Konsumkritik oder -müdigkeit mit („In diesem Jahr schenken wir uns wirklich nichts.“). Sie schreiben, dass die Kommerzialisierung des Festes es bisher nicht geschafft hat, Weihnachten als Ritual zu zerstören oder zu beschädigen, es im Gegenteil eher prägt. Wie ist das möglich? Wie schaffen es Konsum, Lebkuchen bereits Ende August im Supermarkt, die Werbung, die Wunschlisten und Einkäufe, das Ritual zu stärken?
Abstrakt formuliert: Die ganzen materiellen Praktiken verbreitern die Zahl der Stakeholder: Je mehr Menschen, ja Berufsgruppen – ob Produzent*innen oder Händler*innen, Hauptamtliche oder Ehrenamtliche – Weihnachten zu ihrem „Ding“ machen können, desto mehr Personen sind positiv an all den Symbolen, Begehungen und Events interessiert. Im Spektrum christlicher Feste hat es nur das Osterfest geschafft, einigermaßen mitzuspielen. Fast alles andere bleibt eher regional oder eine Angelegenheit von religiösen oder wenigen kulturellen Spezialist*innen.
Trotz des großen historischen Wandels des Weihnachtsfestes bleiben religiöse Rituale erhalten, auch in urbanen Stadträumen (Stall bzw. Krippe werden prominent ausgestellt) und ohne dass es den Leuten vielleicht bewusst wäre, worauf einige der Traditionen zurückzuführen sind. Welche typischen Weihnachtspraktiken konnten sich bis heute erhalten und worin haben sie ihren Ursprung?
Wichtig ist, dass man „typisch“ nicht als „ursprünglich“ missversteht. Gerade die rituellen Begehungen verändern sich, werden exportiert und importiert. Die ganze „Geburtsfeier“ beruht bspw. auf einer von der römischen Kaiserfamilie propagierten lokalen Entwicklung in Palästina. Die musikalische Thematisierung, das Singen und immer wieder Neuerfindung von Weihnachtsliedern hält sich im westeuropäischen Raum jetzt schon fast ein Jahrtausend und ist immer noch eine enorme Quelle von Inspirationen, wie man das Fest begehen soll – von Bachs Weihnachtsoratorium über die Musik aus den Lautsprechern der Weihnachtsmärkte.
Einige feiern nach christlicher Tradition am 25. Dezember Weihnachten, andere erst am 6. Januar. Wie kommt das?
Das ist eine ganz alte Doppelung: Der 25. Dezember als Tag der „unbesiegbaren Sonne“, ob diese nun in christlicher Lichtsymbolik oder als Festtag des Gottes Mithras verstanden wurde, war der eine Anknüpfungspunkt: Die Wintersonnenwende. Der andere, vor allem im östlichen Mittelmeerraum gepflegte Termin ist das „Fest der Erscheinung des Herrn“: Gottes Menschwerdung wird allen Menschen (einschließlich den Machthabenden) sichtbar.
Die beiden genannten Termine liegen zudem unmittelbar vor bzw. nach dem Jahresende, also um den Jahreswechsel herum – wie sehr hat diese besondere Zeit (emotionale, spirituelle Intensität, Neujahrsbräuche) das Fest in der Vergangenheit geprägt und bemerken wir das noch heute?
Der Jahreswechsel im römischen Kalender ist selbst mit der Sonnenwende verbunden und hat so die Terminlage mitbestimmt. In den Details muss man aber genau hinschauen. Der 31.12./1.1. ist ja nur einer von vielen Jahreswechsel-Terminen, selbst in christlichen Gesellschaften, und dominiert erst seit dem späten Mittelalter. Weihnachten hatte da seinen Aufstieg schon begonnen. Auch hier ist das Regionale wichtig: Je weiter es nach Norden geht (nach Süden geht es zumeist gar nicht so weit), umso mehr spielt natürlich die abnehmende Tageslänge und die Beschränkung von außerhäuslichen Tätigkeiten eine Rolle. Aber: Das Interessante ist gerade, dass faktisch Weihnachts- und Neujahrsbräuche fast unverbunden nebeneinanderstehen. Der Versuch, Neujahr als „Hochfest der Gottesmutter“ auch als kirchlichen Feiertag zu etablieren, ist ja nicht sonderlich erfolgreich gewesen.
Und wodurch erklären sich die Phänomene vermehrter wohltätiger Aktionen und die erhöhte Spendenbereitschaft? Welche historischen Vorbilder aus der Weihnachtszeit prägen uns da mitunter noch heute?
Hier kommt beides zusammen: Eine (ganz lange Zeit dünne) Tradition von Nikolaus- oder Weihnachtsgeschenken verband sich mit Textinterpretationen (das nackte Jesulein, die armen Hirten) und dem festlichen Konsum zu einer höchst erfolgreichen Mischung von Spendenmarketing.
Weihnachten scheint aus religionsgeschichtlicher Sicht ein beständig umkämpftes, aber dennoch erstaunlich resilientes Ritual zu sein – von mittelalterlichen Debatten bis zu puritanischen Verboten. Warum nimmt Weihnachten im öffentlichen wie privaten Raum, in Städten und Medien so viel Platz ein und warum bspw. auch mehr Platz als das theologisch eigentlich zentralere und von Ihnen schon erwähnte Osterfest?
Genau das scheint mir die Folge der Materialität – und das heißt auch: der Konsumkomponente – des Festes zu sein.
Welche Entwicklungen zeichnen sich für die Zukunft des Weihnachtsfestes ab, insbesondere in urbanen Gesellschaften? Prägen dort nicht eher das Hin- und Herreisen der Kinder, Verwandten und das Aufteilen auf verschiedene Familien den Ablaufplan als die Fantasie oder Erwartung an ein harmonisches Beisammensein?
In Ostasien ist es bspw. gerade die fehlende traditionelle Verortung des Weihnachtsfestes, die es so populär macht: Ein großes Fest, für das man gerade nicht zu den Verwandten reisen muss, sondern mit seinen „peers“, mit Freund*innen und Bekannten feiern kann. Insofern glaube ich: Das Weihnachtsfest wird noch viele Überraschungen für uns bereithalten!
Prof. Dr. Jörg Rüpke ist seit 2008 Fellow für Religionswissenschaft und seit 2013 stellvertr. Direktor des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.
Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Religions- und Ritualtheorie, historisch in der antiken Religionsgeschichte. Darüber hinaus hat er sich der Frage einer globalen Religionsgeschichtsschreibung zugewendet. Er ist Verfasser von mehreren hundert Aufsätzen und über zwanzig Monografien, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.