Eine Sammlung muss raus!

Einblicke
Leere Regale im Ostturm von Schloss Friedenstein Gotha

Sicher, man könnte ihn ein Sorgenkind nennen, den Ostturm von Schloss Friedenstein in Gotha: 1678 bei einem Großbrand zerstört, wiederaufgebaut mit einem abgerundeten Dach, das nicht zur Ursprungsarchitektur passte, als Sitz der herzoglichen Bibliothek bis heute mit massiven Statik-Problemen konfrontiert, die unter anderem nun dazu führen, dass die Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt (FBG) – Bewahrerin und Erforscherin der herzoglichen Büchersammlungen – den Turm räumen muss. Aber man kann ihn auch als eine Art Helden betrachten. Einer, der den Feuerfraß auf sich nahm, damit der Rest des Schlosses unversehrt bleibt, der bei seinem Wiederaufbau stilistisch mit der Zeit ging und so die asymmetrische und doch ikonische Silhouette von Schloss Friedenstein prägte. Einer, der über Jahrhunderte hinweg einer Büchersammlung an ihrem historischen Entstehungsort eine sichere Aufbewahrungsstätte war. Betrachtet man diese Facette, dann muss doch auch der Auszug der Forschungsbibliothek irgendwie mehr sein als ein notwendiges Übel, mehr als ein kräfte- und geldzehrender Akt, der sich auch noch ausgerechnet in das Jubiläumsjahr des 375-jährigen Bestehens der FBG gedrängelt hat. Und tatsächlich: Die zwingend notwendige Räumung zeigte nicht nur Probleme und Herausforderungen auf, sondern weckt auch so manche Zukunftsvision. In den letzten Zügen des anstrengenden Umzugstreibens schöpft da auch Direktorin Dr. Kathrin Paasch neue Hoffnung. Ein Besuch…

Bücher wurden in Umzugsportionen eingeteilt.

So viel Trubel gab es lange nicht mehr im Ostturm. Dessen Turmsaal im zweiten Obergeschoss war zwar als Schauraum bei Führungen begehbar, die anderen Geschosse blieben jedoch weitgehend nur für Bibliotheksmitarbeiter*innen zugänglich. Seit Anfang Juni, dem Umzugsbeginn, ist das anders. Bücherschränke auf Rollen werden durch die Gänge geschoben, Logistiker in Arbeitskleidung packen und schleppen Kisten, Journalistinnen und Journalisten wollen Einblicke in das Umzugsgeschehen erhaschen und Bibliotheksmitarbeiter*innen packen mit an und sehen nach dem Rechten. Am geöffneten Fenster verrichtet ein Außenaufzug seine Arbeit und transportiert die in Kisten verpackten Bücher nach draußen und unten, damit sie sicher im Umzugswagen verstaut werden können. „UP 63 is uffjemoppelt“ schallt es durch das historische Gebälk – heißt: Umzugsportion Nummer 63 ist verpackt, auf dem Transportroller fixiert und kann nun nach unten gefahren werden. Überall knarzt, knackt und vibriert es. „Bei solch einem Umzug spürt man das Gebäude“, lacht Kathrin Paasch und erklärt: „Es schwankt nicht, aber man hört es halt.“ Und wenn acht Regalkilometer Bücher umziehen, dann muss das auch so sein. Gute viereinhalb Regalkilometer davon werden in einem Ausweichdepot im Gothaer Umland untergebracht, der Rest – darunter vor allem stark nachgefragte Werke – soll im Turmsaal und im Perthes-Forum wieder eingeräumt werden. Während die unteren Geschosse bereits so gut wie leergezogen sind, zieht nach und nach auch im dritten Obergeschoss des Turmes Leere ein. Zurück bleiben eine Vielzahl von Standregalen im eigentlichen Geschoss und auf der in den 1970er-Jahren zusätzlich eingebauten Hängekonstruktion. Bald werden auch diese abgebaut sein. Kathrin Paasch schwankt zwischen Sorge und Zuversicht. Für sie und den Chefrestaurator der Forschungsbibliothek, Christian Kreienbrink, ist es bereits der vierte große Sammlungsumzug: 2002 zogen sie die Bibliotheca Amploniana in den damaligen Neubau der Universitätsbibliothek Erfurt, 2010 wurde die gesamte Sammlung Perthes in ein Ausweichdepot nach Erfurt gebracht, 2015 zog diese zurück ins Gothaer PERTHESFORUM. Am Ende hatte es sich immer gelohnt – für die Sammlungen selbst und für die Forscher*innen, die damit arbeiten. Trotzdem war die Nachricht, die FBG muss ausziehen, erst einmal ein Schock. „Anfang 2020 haben wir erfahren, dass der Ostturm laut den statischen Prüfungen, die im Zuge der Sanierungsmaßnahmen von Schloss Friedenstein gemacht wurden, stark überlastet ist und gesperrt werden muss“, erinnert sich Kathrin Paasch. „Die Sperrung dauerte ein halbes Jahr. In dieser Zeit wurden das Keller- und das Erdgeschoss gesichert, die Pfeiler haben Stahlkorsetts bekommen.“ Denn die Statik des Ostturms war ursprünglich nicht auf diese Büchermassen ausgelegt. Zudem haben die Statiker nun festgestellt, dass nach dem Ausbrennen des Turms im 17. Jahrhundert beim Wiederaufbau und dem Einziehen von neuen Geschossen eine Wand eingezogen wurde, die nicht direkt auf den Pfeilern im Kellergeschoss stand. „Die Statiker befürchteten, dass der Turm irgendwann einfach in sich zusammenfallen könnte. Solche Beispiele gab es ja auch schon z.B. in Italien.“ Die Forschungsbibliothek musste also raus, um den Turm zu entlasten und Baufreiheit für die Sanierung zu schaffen.

Behutsamer Abtransport mit Außenaufzug

...die gesamte Sammlung nach Formaten getrennt.

Umziehen mussten somit insgesamt 300.000 gedruckte Bücher aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Damit die Bücher am Ankunftsort auch wieder sinnvoll aufgestellt werden können, bedurfte es einer guten Vorbereitung. Eineinhalb Jahre dauerte sie. „Wir haben zunächst eine Kartierung des Gesamtbestandes vorgenommen. Das heißt, wir haben ganz genaue Listen angefertigt und darin vermerkt, welche Bücher in welchem Regal stehen“, erzählt Paasch. Auf dieser Grundlage stellte Christian Kreienbrink Berechnungen und Überlegungen für den gesamten logistischen Umzugsvorgang an. Eine der Herausforderungen dabei waren die verschiedenen Formate der Bücher. „Im Ausweichdepot haben wir, anders als in der Forschungsbibliothek, fahrbare Regale, erläutert Christian Kreienbrink. „Fahrbare Regale sind tonnenschwer und wenn ein Buch da nur ein Stück überschaut und die Regale treffen aufeinander, wird es geschädigt.“ Im nächsten Schritt haben die Bibliotheksmitarbeiter*innen deshalb in jedem Regalfach Buch für Buch vermessen und die Bücher mit einem roten Fähnchen versehen, die zu tief oder zu hoch für die fahrbaren Regale sind. Sie wurden herausgezogen und an ihre Stelle wurde ein Platzhalter gestellt, auf dem das Format und der eigentliche Ort des Werkes vermerkt wurde. „Wir haben also zunächst die gesamte Sammlung nach Formaten getrennt. Anschließend haben wir sie so unterteilt und gekennzeichnet, dass die Umzugsfirma die Bücher mit schnellen Handgriffen verpacken und dann am Außenstandort auch wieder in der richtigen Reihenfolge auspacken und einräumen kann“, sagt Kreienbrink. So wurden Umzugsportionen geschaffen, deren Beginn mit einem grünen und deren Ende mit einem roten Zettel markiert wurden. Dazwischen noch Sprungzettel, falls eine Umzugsportion nicht der eigentlichen „Von-links-nach-rechts-und-von-oben-nach-unten-Logik“ folgte. Als die Sammlung schließlich umzugsbereit war, lauerte jedoch schon die nächste Herausforderung: Damit der Turm nach und nach gleichmäßig entlastet wird, musste er in einer bestimmten Reihenfolge leergezogen werden. Das war jedoch nicht auf jeder Etage möglich. Mit den Statikern wurde deshalb ein Entnahme-Konzept entwickelt, auf dessen Grundlage die Packer der Umzugsfirma jeden Tag eine Vorgabeliste bekamen, an die sie sich strikt halten mussten. Mit dieser guten Vorbereitung wurden Logistiker und Bibliothekare schnell ein eingespieltes Team. „Unser Anspruch war es“, so Kathrin Paasch, „den Umzug mit vielen Mitarbeiter*innen in kurzer Zeit geballt durchzuziehen und die Bibliothek trotzdem für die Nutzung geöffnet zu lassen. Das war eine enorme Kraftanstrengung, die uns durch die gute Vorbereitung aber erleichtert wurde.“

Auch für die Bücher selbst ist solch ein Umzug eine Belastung. Deshalb wurden sie für ihren Transport behutsam verpackt und gepolstert. Am Zielort verweilten sie dann einige Stunden in ihren Kisten bevor sie ausgepackt wurden, um sich erst einmal an die veränderten klimatischen Bedingungen im Ausweichdepot zu gewöhnen.

Leere Regale im Ostflügel von Schloss Friedenstein

Platz für alle wird es nicht mehr geben.

Wie lange die Bücher dort bleiben müssen und wann und vor allem wie viele von ihnen wieder zurückkehren können an ihren Bestimmungsort im Gothaer Schloss, ist noch unklar. Fest steht aber, Platz für alle wird es nicht mehr geben. „Im besten Fall werden wir nach den Ertüchtigungsmaßnahmen an den Wänden im dritten Obergeschoss des Ostturms wieder Regale aufstellen können, vielleicht auch einzelne auf der Grundfläche. Aber bei weitem nicht alle. Und auch im Erdgeschoss, das aus Denkmalschutzgründen nicht weiter ertüchtigt werden darf, können nicht so viele Bücher wie geplant unterkommen. Der gesamte Bestand kann also definitiv nicht zurück“, weiß Paasch und bekräftigt: „Deshalb brauchen wir einen Neubau – für die Bücher, die nicht mehr zurück in den Ostturm können!“ Bis zum Jahr 2031/2032 sollen die Räumlichkeiten der Forschungsbibliothek saniert sein. Es werde die Aufgabe sein, so die Bibliotheksdirektorin, diese Zeit zu nutzen, um einen Neubau zu schaffen, in dem Teile des bisherigen Bestandes sowie Neuerwerbungen unterkommen. „Das ist einfach eine Notwendigkeit für den Fortbestand der Forschungsbibliothek Gotha.“ Christian Kreienbrink stimmt ihr zu: „Es gibt auch kein Gebäude in der Nähe des Schlosses, das dafür umgebaut werden könnte. Wir brauchen fahrbare Regalanlagen und die bedürfen einer sehr hohen Lasttragfähigkeit der Geschossdecken.“ Dass ein Neubau in der Nähe des Schlosses oder in der unmittelbar angrenzenden Altstadt sein muss, auch da sind sich die beiden einig. „Den Reiz unserer Bibliothek machte immer schon aus, dass die Nutzer*innen im historischen Ambiente, in der Aura des Schlosses mit den Originalbeständen arbeiten können. Das wollen wir beibehalten und ausbauen. Wir planen, den Turmsaal zu einem Studienzentrum umzubauen, das eine großzügige Möglichkeit schafft, mit den Originalen auch in Gruppen zu arbeiten. Die Benutzungssituation soll sich deutlich verbessern.“ Und dazu soll auch ein Neubau beitragen. Der wäre dann aber nicht nur Magazinbau, sondern im Idealfall auch Begegnungsstätte, zum Beispiel mit Café und Veranstaltungsräumen. Die Forschungsbibliothek würde damit noch stärker in die Stadt hineinwirken können. „Das wäre unsere Vision“, sagt Kathrin Paasch hoffnungsvoll. „Die Bibliothek und der Ostturm gehören seit mehr als 300 Jahren zusammen. Diese Symbiose müssen wir nun aus Gründen des baulichen Denkmalschutzes aufgeben. Doch die Bücher sind ebenso Kulturgut ersten Ranges. Mit dem Neubau könnten wir die Bibliothek wieder gestalten und sie weiterentwickeln.“

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(Forschungsbibliothek Gotha)
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