Der Weg der tschechischen katholischen Kirche nach 1989: Von einer europäischen zu einer identitären Kirche

Forschung & Wissenschaft
Blick auf die Altstadt von Prag

von Tomáš Petráček

Es handelt sich um Ausschnitte aus einem Vortrag, den der Verfasser am 5. Dezember 2023 digital für das Theologische Forschungskolleg an der Universität Erfurt gehalten hat. Den vollständigen Text lesen Sie hier: www.theologie-und-kirche.de/petraczek-kirche-tschechien.pdf

Die tschechische Kirche hat in den letzten 10 Jahren einen dramatischen Wandel durchgemacht. Während sie sich seit der demokratischen Revolution von 1989 zumindest in ihren Eliten und Grundeinstellungen als lokale Kirche in Westeuropa profiliert, setzt sie seit 2015 wie die katholische Kirche in Polen und der Slowakei auf einen konservativen Kurs. Wir werden über die Ursachen dieser Wende, ihre Folgen und die jetzt verfügbaren Optionen nachdenken.

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Neue Perspektiven nach 1989

Nach der demokratischen Revolution 1989 war das moralische Ansehen der katholischen Kirche hoch. Der Erzbischof von Prag, Kardinal Tomášek, erklärte im entscheidenden Moment, dass die Kirche auf der Seite der Nation stehe; viele Katholiken, zum Beispiel der Dissident und Priester Václav Malý, der die Massendemonstrationen in Prag moderierte, traten als Protagonisten des demokratischen Wandels auf. Die Hoffnungen wurden durch den Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. im Frühjahr 1990 noch verstärkt. Die Kirche stürzte sich voll und ganz in die Erneuerung ihrer Strukturen und Institutionen, kirchliche Schulen wurden wieder eröffnet und neue gegründet, die Caritas wurde wiederhergestellt, Orden konnten endlich ihre Tätigkeit legalisieren.

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Gestiegenes Selbstbewusstsein und die Erneuerung von Positionen führen leicht zu der Versuchung, wieder den Status einer nationalen Volkskirche anzustreben. Ohne größere innerkirchliche Diskussionen fand 1993 die Weihe der Nation an die Jungfrau Maria in Velehrad statt, was in einigen politischen Kreisen und in der Gesellschaft auf Widerstand stieß. Der anhaltende Trend der Entfremdung zwischen der Gesellschaft und der katholischen Kirche wurde beim zweiten Papstbesuch 1995 deutlich.

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Kurswechsel nach 2012

Der grundlegende Wandel kam nach 2012, als zunächst die Führung der katholischen Kirche den erfolgreichen Abschluss der Bemühungen um die Lösung der Frage des Kircheneigentums feierte, wo eine großzügige politische Lösung erreicht wurde, die auf der Vereinbarung von fast zwei Dutzend Kirchen über die Trennung von Staat und Kirchen beruht, damit die Kirchen eine Chance haben, für ihre materiellen Bedürfnisse zu sorgen. Aber: Die Rückgabe riesiger Vermögenswerte an die Kirche, einschließlich der unvermeidlichen Rechtsstreitigkeiten, und die jahrzehntelange finanzielle Entschädigung und dazu noch die Unterstützung durch den Staat haben eine große Welle antiklerikaler und antireligiöser Stimmungen ausgelöst, die von einigen politischen Parteien und Bewegungen genährt werden.

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Der zweite Anstoß für die Neuausrichtung eines großen Teils des tschechischen Episkopats war die Migrationskrise von 2015. In den Reden des Prager Erzbischofs Duka und seines wichtigsten Beraters und Sprechers Monsignore Piťha finden wir sehr scharfe Aussagen gegen Flüchtlinge, gegen den Islam, gegen die gesamte Migrationswelle, die als geplante muslimische Invasion nach Europa dargestellt wurde. Die Herrschaft des Islamischen Staates im Nahen Osten und in Nordafrika diente dann dazu, die Islamophobie zu verstärken. Teil einer gewissen moralischen Hysterie war die harte Kritik an den europäischen politischen Eliten, insbesondere an der deutschen Bundeskanzlerin Merkel und anderen Politikern, wegen Naivität, Versagen bei der Bewältigung der Migration und Bedrohung der europäischen Identität. Die Europäische Union als Ganzes, ihre Institutionen und ihr Kurs wurden scharf kritisiert.

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Neue Rhetorik und Kulturkämpfe

Duka macht sich hier eine militärische Rhetorik zu eigen, spricht von Krieg und Kampf und bewundert öffentlich Viktor Orbán und dessen Kritik an der liberalen Demokratie. Die meisten Diözesen veranstalten Seminare, in denen sorgfältig ausgewählte, aber meist sachlich inkompetente Leute Priester ideologisch ausbilden, um gegen die Istanbul-Konvention, Gender, die Ehe für alle und andere angeblich moderne Übel zu kämpfen. Zu diesem Zweck liefern sie immer mehr Material, das den Inhalt der Predigten der Bischöfe darstellt. In den Kirchen werden Petitionen gegen die „Ehe für alle“ unterstützt und unterzeichnet.

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Sie [Die Bischöfe] teilen nicht die Vision von Papst Franziskus über die Kirche, sie können keine eigene Vision schaffen. Deshalb sind sie beiden Organisationen dankbar, dass sie von Zeit zu Zeit Gottesdienste für eine größere Anzahl von Menschen leiten können, an „Massen“-Märschen teilnehmen können, bei denen die Massen zu ihnen als Generälen des ‚Kulturkampfes‘ aufschauen. Sicherlich muss es ein berauschendes Gefühl sein, als Verteidiger der traditionellen Ordnung der westlichen Zivilisation gefeiert zu werden.

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An einem Scheideweg

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 Die katholische Kirche in Tschechien steht wie in Polen und der Slowakei an einem Scheideweg: Soll sie den Trend zur Verteidigung der Werte, der Identitätsorientierung und der Versuchung, auf der Welle der konservativen und nationalistischen Politik zu reiten, fortsetzen oder einen offenen Kurs der Neuorientierung einschlagen, wie er von Papst Franziskus und – noch mutiger – vom deutschen Synodale Weg präsentiert wird? Die Katholiken, Gläubige wie Kleriker, sind zwischen den beiden Richtungen gespalten, und selbst innerhalb von Familien und Pfarreien gibt es viele Konflikte. Aber es handelt sich nicht um eine Stadt/Land-, Böhmen/Mähren-Kluft, sie geht quer durch das Land. Vieles wird von der Wahl der neuen Generation von Bischöfen abhängen, bis dahin werden Entscheidungen vertagt. Und natürlich von der Wahl des nächsten Papstes.