Kirche in Transformation – und die Liturgie?

Forschung & Wissenschaft
Nahaufnahme von Kirchenbänken
Prof. Dr. Benedikt Kranemann
Prof. Dr. Benedikt Kranemann

Die katholische Kirche befindet sich – nicht nur – in Deutschland in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Schon die Diskussionen, die auf und um den Synodalen Weg geführt werden, dokumentieren das. Selbstverständnis von Kirche, Umgang mit Missbrauchsopfern, Fragen von Inhalten und Praxen des Glaubens, Rollen von Frauen, Amt und Partizipation der Getauften – man könnte und müsste die Reihe der Themen in der aktuellen Debatte lange fortsetzen. Was manchmal übersehen wird: Auch die Liturgie ist mit allen Facetten von diesem Transformationsprozess betroffen. Sie ist für die katholische Kirche kein Nebenschauplatz, sondern ein ganz zentrales Handlungsfeld. Das wird in kirchlichen Dokumenten immer wieder betont und ist theologisch herausgearbeitet worden: Liturgie ist ein wesentlicher „Grundvollzug“, ein „Identitätsmarker“ von Kirche. Deshalb gehen die Krisen und ihre Szenarien, die kirchliches Leben radikal verändern, an der Liturgie nicht spurlos vorüber.

Fasst man neuere Umfragen zur Liturgie zusammen, erkennt man eine insgesamt sehr schwierige Lage und entsprechende Tendenzen: Die Zahl der Feiernden der Sonntagseucharistie, aber ebenso anderer Liturgien ist rückläufig und wird mit großer Wahrscheinlichkeit weiter sinken. Liturgie geht oftmals an den Erwartungen der Menschen vorbei und stößt in Inhalt und Form immer weniger auf Resonanz. Die Identifikation mit der Liturgie hat bis in Kernzonen der Kirche hinein deutlich nachgelassen.

Das sind Alarmzeichen. Die Liturgiewissenschaft darf nichts beschönigen, wenn sie ihrer Aufgabe kritischer Reflexion und Beratung gerecht werden will. Was sollte hinsichtlich der Transformationsprozesse der Kirche für die Liturgie in den Blick genommen werden? Einige wenige, aber zentrale Punkte werden im Folgenden genannt. Manches ist theologisch gesetzt, anderes lässt sich an empirischen Studien ablesen, wiederum anderes lässt sich nur prognostizieren.

1. Kirche braucht Liturgie und ihr Hoffnungspotenzial.

Das ist eigentlich in der katholischen Kirche eine selbstverständliche Aussage. Neben der verbreiteten Distanz zur Liturgie kann man häufiger die Meinung hören, Liturgie werde zukünftig in der Kirche eine geringere, die Diakonie eine stärkere Rolle spielen. Dem Diakonischen wird eine andere Realitätsnähe und Praxisrelevanz als der Liturgie zugesprochen. Steht hier die Liturgie grundsätzlich in Frage oder geht es vor allem um die Art und Weise, in welcher Form und mit welchen Inhalten sie gefeiert wird? Pauschale Antworten sind schwierig, doch manches spricht für Letzteres. Über Sprache, Riten und auch Inhalte der Liturgie, nicht zuletzt den „Leitungsstil“ in manchen Gottesdiensten wird geklagt. Die Liturgie wirke distanziert, sei wenig ansprechend und ‚kalt‘. Birgit Weiler, eine im Amazonasgebiet engagierte und wissenschaftlich arbeitende Theologin, sprach bei einer Tagung der „European Graduate School ‚Theology in religious, cultural and political Processes of Transformation‘“ von der wichtigen Rolle der Liturgie gerade in sozial und politisch schwierigen Lebenssituationen. Sie machte deutlich, dass Liturgien ein lebensstärkendes, -förderndes und orientierendes Potenzial besitzen können und müssen. Zum Narrativ des Gottesdienstes gehöre die Perspektive der Hoffnung. Abstrakter formuliert, kann – und sollte – das Basisprogramm christlichen Glaubens und das damit verbundene, für das Leben von Menschen hilfreiche Potenzial der Gottesbotschaft in Liturgien zur Erfahrung gebracht werden. Wenn das gelingt (was leider immer wieder und offensichtlich immer deutlicher vermisst wird), ist der Gottesdienst für die Glaubensgemeinschaft wie für einzelne Christ:innen eine entscheidende Größe, um aus der so gefeierten Liturgie heraus Kirche zu sein und Leben zu bewältigen. Gottesdienst erweist sich als lebensdienlich. Damit nimmt er eine grundierende und fundierende Rolle auch für andere Bereiche des Christseins ein.

2. Innerhalb des Gottesdienstes katholischer Christ:innen lassen sich derzeit erhebliche Verschiebungen beobachten.

Es existiert in Deutschland eine starke Fixierung auf die Eucharistiefeier. Die Bedeutung der Eucharistie soll nicht bestritten werden. Doch aufgrund der dramatisch gesunkenen Zahl Ordinierter sind und werden künftig deutlich weniger Eucharistiefeiern möglich sein. Zugleich mehren sich Stimmen, man wolle und könne nicht immer Eucharistie feiern. Deutlich wird von „Übersättigung“ gesprochen. Aber immer noch wird die Bedeutung von Wortgottesdiensten in theologischer und ästhetischer Hinsicht unterschätzt. Zudem begegnen häufiger Liturgien in Situationen und mit Teilnehmer:innen, für die die Eucharistie nicht die erste sinnvolle Wahl ist: etwa in der Trauer für die Toten der Pandemie, in der Sorge um Menschen im ukrainischen Kriegsgebiet, in alltäglichen Kontexten wie der Schule, dem Krankenhaus usw. Mit den Transformationen in der Kirche und insgesamt im Glaubensleben zeigt sich verschärft die Problematik der Engführung von Liturgie. Doch lassen sich Bewegung und Veränderung in der Praxis beobachten. Dazu trägt die – immer noch nicht ausgeschöpfte – theologische Wertschätzung von biblischem Wort und Wortverkündigung bei, aber zugleich die Freude, Neues auszuprobieren. Insgesamt handelt es sich um einen langfristigen Prozess des Übergangs, der zu einer mit Blick auf Menschen und Lebenssituationen vielfältigeren Liturgie führen könnte.

3. Es wird neue Formen des Gottesdienstes zu neuen Anlässen geben.

Seit längerem beobachtet die Liturgiewissenschaft Innovationen in der Liturgie, die zu bestimmten Lebenssituationen passen und hier ihren Ort und ihre Rezeption finden. Neue Formen der Liturgie, etwa im digitalen Raum, sind in den vergangenen Jahren in zum Teil spannenden Experimenten ausprobiert worden. Unterschiedliche Ausprägungen von Wortgottesdienst gewinnen, auch im digitalen Format, an Bedeutung, daneben unterschiedliche (ökumenische) Weisen der Tagzeitenliturgie und zeitgenössische Adaptationen. Viele Beispiele für Feiern zusammen mit Konfessionslosen, Trauerfeiern nach Großkatastrophen, Segnungsfeiern in Lebenssituationen, die für Menschen besonders wichtig sind (Geburt eines Kindes), Segnung gleichgeschlechtlicher Paare usw. können genannt werden. Entscheidend für die Bedeutung, die solchen Feiern zugeschrieben wird, ist offensichtlich Folgendes: Situationen im Leben des Einzelnen oder der Gesellschaft bilden den Anlass, nicht vorgegebene Traditionsbestände. Das meint nicht Anthropozentrik, sondern biblische Verkündigung und die daraus entstehende Feier, die auf Menschen hin gedacht wird. Die Verkündigung und damit die Glaubensbotschaft, die in dieser Situation zum Bezugspunkt für Menschen und ihre Lebens- und Sinnfragen werden soll, begegnen in heute ansprechender Weise. Es werden rituell konzentrierte Liturgien gefeiert, die in Sprache, Ritus, Musik heutigen Hör- und Sehgewohnheiten entsprechen, Tradition neu kontextualisieren, Innovatives wagen.

4. Liturgie bedarf einer deutlich breiteren Verantwortung in der Kirche.

Kirche wird zukünftig nur eine wahrnehmbare Größe in der Gesellschaft sein können, wenn sich viele auch ehrenamtlich engagieren. Sie wird zugleich nach innen vielfältigere Formen der Beteiligung und Verantwortung brauchen. Weltweit lassen sich heute neue Partizipationsformen in der Kirche beobachten. Das gilt neben vielen anderen Bereichen genauso für die Liturgie. „Teilnahme“ ist für sie ein zentraler Begriff. Er ist eng mit dem theologischen Verständnis des Gottesdienstes als Handeln aller Beteiligten verbunden. Das wird in Begriffen wie „Trägerschaft“ oder „Subjektsein“ der Getauften in der Liturgie ausgedrückt. In einer Ekklesiologie, die die Kirche als partizipative Größe versteht und Synodalität im Sinne von Mitsprache und Mitverantwortung starkmacht, muss ihre Verantwortung für die Liturgie in den Blick kommen. Sehr viele Gottesdienste können von Menschen, die nicht ordiniert sind, geleitet werden. Für viele Liturgien können diese Christ:innen umfassend Verantwortung in Vorbereitung und Reflexion einnehmen. Die Transformation der Kirche schließt die Verantwortung für den Gottesdienst ein. Kirche gewinnt so ein neues Gesicht. Ordinierte und Nichtordinierte finden zu neuen Kooperationen. Kirche kann lebendiger werden. Sie wahrt auf diesem Wege die Chance, auf Zukunft hin Liturgie feiern zu können.

Prof. Dr. Benedikt Kranemann ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät. 

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