"Ich begreife erst in den Tagen zu Hause, was diese Bilder mit mir machen..."

Engagement
Teaserbild Paul-Philipp Braun

Eigentlich steht er als freier Texter und Fotograf schon mitten im Beruf. Trotzdem hat Paul-Philipp Braun sich nochmal für ein Studium entschieden: An der Universität Erfurt macht er aktuell seinen Master-Abschluss in Religionswissenschaft. Und findet bei all dem dennoch Zeit für ein soziales Engagement. Bei der gemeinnützigen Hilfsorganisation „International Search-and-Rescue“ Germany (kurz: I.S.A.R.), einem Zusammenschluss aus Spezialisten verschiedener Hilfsorganisationen und dem Bundesverband Rettungshunde, dessen Aufgabe es ist, internationale Hilfe u.a. nach Naturkatastrophen, Unglücksfällen und bei humanitären Katastrophen zu leisten. Erst in diesen Tagen ist Paul-Philipp Braun aus der Türkei zurückgekehrt, wo er gemeinsam mit seinem Team verschüttete Menschen im Erdbebengebiet gerettet hat. Wir haben ihn nach seiner Motivation und seinen Erfahrungen gefragt…

Herr Braun, Sie haben anstrengende und sicher aus emotional sehr belastende Tage hinter sich. Wie geht es Ihnen, jetzt, wo Sie wieder zu Hause sind?
Als ich am Dienstagmorgen nach einer Woche im Erdbebengebiet nach Hause kam, wollte ich nur noch zwei Dinge: endlich duschen und endlich schlafen. Beides ging dann relativ schnell und erst am nächsten Tag wurde mir klar, wie selbstverständlich das für einen ist. Ich bin nach Hause gekommen, habe hier ein Dach über dem Kopf, eine Heizung, fließendes Wasser und eine Küche mit ausreichend Lebensmitteln. Das alles haben die Menschen in Syrien und der südöstlichen Türkei gerade nicht. Unser Team hat in der Zeit der Such- und Rettungsphase viel gesehen und viel erlebt. Wir konnten vier Menschen lebend aus den Trümmern retten, vielen, vielen Weiteren haben wir Hoffnung gegeben. Das alles sind Eindrücke, die mir erst jetzt, hier zu Hause, langsam bewusst werden.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie I.S.A.R. Germany unterstützen?
Schon 2015 sprach mich ein Kollege vom MDR an. Er ist Pressesprecher bei der Organisation und wusste um meinen Hintergrund – ich war lange Zeit beim Roten Kreuz aktiv – und fragte, ob ich mir vorstellen könne, I.S.A.R. Germany künftig bei Auslandseinsätzen zu unterstützen. Nach einigen Einsätzen, die ich im deutschen Informations- und Lagezentrum koordinierte, vielen Übungen und Trainings, war ich 2021 dann erstmals zum Erdbebeneinsatz in Haiti.

Was genau ist in der Hilfsorganisation Ihre Aufgabe?
Ich bin für die Themen Kommunikation, Medienkommunikation und als Pressesprecher aktiv. Als NGO (Nichtregierungsorganisation), die auf Spenden angewiesen ist, ist es für uns wichtig, dass wir den Menschen erklären, was wir wann und warum leisten. Zudem bin ich Mitglied im medizinischen Team der Organisation, unterstütze als Sanitäter bei der Versorgung von Verletzten und Kranken. Jetzt in der Türkei spielte dies jedoch eine eher untergeordnete Rolle, auf Haiti war ich regulär im Bereich der Behandlung (Treatment) und der Triage eingesetzt.

Wie haben Sie sich auf die Arbeit bei solchen Rettungseinsätzen vorbereitet? Gabs so etwas wie eine Ausbildung bzw. ein Training?
Alle unsere Einsatzkräfte sind in ihrem jeweiligen Fachgebiet Profis. Bei I.S.A.R. durchlaufen sie dann noch einmal eine 40-stündige Grundausbildung, in der die Grundlagen internationaler Hilfe, Sicherheitsaspekte für das Team und Themen wie das Abstützen und Absuchen von Gebäuden nach Großschadensereignissen gelehrt werden. Darüber hinaus finden zwei bis dreimal im Jahr Vollübungen statt, bei denen alle Einsatzbereiche – das Einsatzmanagement, das medizinische Team, die Ortungsgruppe mit den Rettungshunden und die Bergungskomponente – zusammenarbeiten. Im vergangenen Jahr habe ich außerdem mit einigen anderen Teammitgliedern an einem sogenannten Heat-Kurs teilgenommen. Darin haben wir uns eine Woche lang mit dem Umgang in einem sogenannten "Hostile Environment", also in einer gefährlichen Umgebung, beschäftigt. Wir haben trainiert, wie wir sicher mit Hubschraubern unterwegs sind, wie wir ein Einsatzteam sichern oder uns bei politischen Auseinandersetzungen verhalten.

Wie gehen Sie mit der Not und den vielen traurigen Schicksalen der Menschen, denen Sie helfen, um –  wie bewältigen Sie das für sich selbst?
Ich begreife erst in den Tagen zu Hause, wie sehr mich alles das beeindruckt und was diese Bilder mit mir machen. Als eine türkischstämmige Freundin mich bei unserer Ankunft am Flughafen in den Arm nahm, lief der ganze Einsatz wie ein Film vor meinen Augen ab. Da habe ich fast weinen müssen. Hier in Deutschland weiß ich um einen tollen Kreis von Freund*innen und Zugehörigen, auf die ich mich immer verlassen kann. Viele bieten mir immer wieder an, mit mir über das Erlebte zu sprechen, außerdem haben wir als Organisation ein Team der Psychosozialen Notfallversorgung. Dazu gehört unter anderem ein Psychologe, der für uns immer erreichbar ist. Viel Kraft geben mir aber auch die ganzen Unterstützungen von Menschen, die sich über die sozialen Medien bei mir melden und mir und unserem Team für unsere Arbeit und die Hoffnung, die wir spenden, dankbar sind. Das ist ein Geben und Nehmen.

Sie haben an der Universität Erfurt Religionswissenschaft im Master studiert und stecken gerade mitten in Ihrer Abschlussarbeit. „Von Hause aus“ sind Sie eigentlich Journalist, haben Ihre Ausbildung bei der Thüringer Allgemeinen gemacht und sind nun freiberuflich unterwegs. Was war Ihre Motivation, nochmal zurück in den Hörsaal zu gehen und zu studieren?
Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Ich mag das Thema und ich brauchte für mich selbst noch  einen Abschluss.

Hat das Studium Einfluss auf Ihre Arbeit – oder anders gefragt: Hilft Ihnen das Studium bzw. das Wissen, das Sie darin sammeln, bei Hilfseinsätzen wie dem jüngsten im Erdbebengebiet in der Türkei und in Syrien?
Die Region, in der wir waren, ist politisch, religiös und kulturell hoch interessant. Der Islam und dessen verschiedene Strömungen bewegen das Gebiet und die Menschen dort. Bereits in der Vergangenheit habe ich zahlreiche mehrheitlich islamische Länder besucht. Ich bin 2019 durch den Iran gereist, war immer wieder in Ägypten oder eben auch in der Türkei. Im Studium habe ich viel Fachwissen über das Gebiet, die Spannungen sowie religiöse Praxen gelernt. Mit dieser Form der Kultursensibilität versteht man viele Dinge, die sich vor Ort ereignen besser. Ein Beispiel: Die Menschen haben gegen Ende der Woche angefangen, mit Baggern und Kränen die Trümmer zu beseitigen und ihre Verstorbenen zügig und oftmals ohne Rücksicht auf Verluste zu bergen. Es ging darum, dass sie möglich schnell beerdigt werden konnten. Für Mitteleuropäer*innen erscheint diese Praxis etwas verwunderlich, insbesondere wenn die Bagger dazu beitragen könnten, dass die Rettung anderer sich wegen der Erschütterungen der Trümmer verzögert. Wenn man allerdings um diese Eigenheiten weiß, kann man damit umgehen.
Ein anderes Beispiel: Vor Ort übersetzte unter anderem eine junge Frau für uns. Sie trug Kopftuch und weite Kleidung. Für mich war es selbstverständlich, dass ich sie auch im Moment größter Dankbarkeit – als wir nach fast 60 Rettungsstunden eine Frau lebend aus den Trümmern befreiten – nicht umarmte oder ihr die Hand gab.

Was sind Ihre Pläne für die Zeit nach dem Abschluss?
Ich werde weitermachen wie bisher, werde weiterhin in meinem Bereich arbeiten und vielleicht ein "M.A." auf meine Visitenkarte schreiben. Dann überlege ich mir, ob ich noch einen PhD anstrebe; vorstellen kann ich mir das...