Alles Blödsinn!? (Teil 3)

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Feature-Bild: Alles Blödsinn!?, Teil 3

"Guter Unterricht sollte zum individuellen Lernstil von Schüler*innen passen." // "In kleinen Klassen lernen Schüler*innen besser" // "Jungen sind in Mathe, Naturwissenschaften und Co. von Natur aus besser als Mädchen." // "Mit Klassenwiederholung können Schüler*innen mangelnde Leistungen aufholen." // "Privatschulen sind besser als öffentliche Schulen" // Oder wie wäre es hiermit: "Jungen sind in der Schule benachteiligt, weil es dort mehr Lehrerinnen als Lehrer gibt."
Das haben Sie so oder so ähnlich auch schon gehört? Vermutlich, denn solche Narrative gibt es im Bildungsbereich eine ganze Menge. Aber lassen sie sich auch wissenschaftlich belegen oder handelt es sich dabei schlicht um "Bildungsmythen"?

Jana Asberger wollte es genau wissen. Die studierte Psychologin ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Professur für Bildungsforschung und Methodenlehre, Universität Erfurt und beschäftigt sich mit Überzeugungen im Bereich der Bildung und des Unterrichts an Schulen. Sie fragt dabei unter anderem wie man Bildungsmythen erkennt und wie man sie am besten aufklären kann. Und inzwischen kennt sie eine ganze Reihe althergebrachter Glaubenssätze, die Lehrkräfte im Unterricht getrost ignorieren können. Ihr Wissen teilt sie nun auch mit einer breiten Öffentlichkeit – unter anderem in dem jetzt veröffentlichten Dossier "Bildung" der Bundeszentrale für politische Bildung und im Podcast "Besserwissen", den sie zusammen mit Madeleine Müller und Marcus Berger an der Universität Erfurt produziert.

Lesen Sie hier ihre Beiträge!
Teil 3: Jungen sind in MINT-Fächern von Natur aus besser als Mädchen!

Mädchen zeigen geringere Kompetenzen in den MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) und in Studiengängen und Berufen der MINT-Fächer sind deutlich weniger Frauen vertreten als Männer (Destatis, 2022a; Destatis, 2022b; Keller u.a., 2022). Eine weit verbreitete, aber problematische Erklärung für diese Geschlechterunterschiede ist, dass Jungen eben von Natur aus besser in MINT-Fächern seien als Mädchen. Bei dieser Erklärung handelt es sich jedoch um einen geschlechterdiskriminierenden Mythos.

Tatsächlich zeigte sich in den PISA Studien 2012, 2015 und 2018, dass Jungen sowohl im Durchschnitt aller OECD-Staaten als auch speziell in Deutschland geringfügig bessere Ergebnisse in MINT-Kompetenzen erreichten als Mädchen (Reinhold u.a., 2019; Sälzer u.a., 2013; Schiepe-Tiska u.a., 2016). Im IQB-Bildungstrend 2018 und 2021 erzielten Jungen hingegen nur in Mathematik höhere Kompetenzen als Mädchen, wobei diese Unterschiede ebenfalls gering ausfielen (Gentrup u.a., 2022, Schipowski u.a., 2019). In den Kompetenzen naturwissenschaftlicher Fächer hingegen schnitten Mädchen insbesondere in den Fächern Biologie und Chemie sogar besser ab als Jungen (Schipowski u.a., 2019). Es gibt starke Evidenz dafür, dass solche Unterschiede nicht aufgrund angeborener Geschlechterunterschiede entstehen (Hutchison u.a., 2018; Kersey u.a., 2018). Hirnphysiologisch haben Mädchen und Jungen nachweislich die gleichen Voraussetzungen (Kersey u.a., 2019).

Die Ursachen für das teils schlechtere Abschneiden von Mädchen in den MINT-Fächern liegen vielmehr in der Sozialisierung und den Rollenklischees, die Mädchen von klein auf erfahren (Hannover & Wolter, 2019). Sowohl Eltern als auch pädagogische Fachkräfte haben oft unbewusste geschlechterstereotype Überzeugungen, also bestimmte Annahmen darüber, welche Eigenschaften, Kompetenzen oder Verhaltensweisen für das jeweilige Geschlecht angemessen sind (Oppermann u.a., 2020; Updayaya & Eccles, 2014). Daher neigen sie dazu, Jungen im MINT-Bereich bei gleicher Leistung besser einzuschätzen als Mädchen (Oppermann u.a., 2020; Schneider u.a., 2022). Aufgrund der geschlechterstereotypen Überzeugungen werden Jungen und Mädchen darüber hinaus in den Bereichen Technik, Mathe und Naturwissenschaften von früh auf unterschiedlich gefördert (Oppermann u.a., 2020). Schon früh machen Eltern ihren Kindern geschlechtsstereotype Spielangebote (Kollmayer u.a., 2018). Während Jungen, noch bevor sie sprechen können, Spielzeug mit Bezug zu Technik, Wettbewerb und Konstruktion erhalten (z.B. Bagger, Autos, Werkzeug), wird Mädchen eher Spielzeug angeboten, das für Fürsorge, Pflege, Attraktivität und Schönheit steht (z.B. Puppen, Schmuckbastelsets, Küche).

Studien zeigen außerdem, dass Jungen von ihren Eltern öfter naturwissenschaftliche Bücher vorgelesen bekommen und dreimal mehr Erklärungen zu naturwissenschaftlichen Fragen erhalten als Mädchen, auch wenn Mädchen genauso häufig fragen (Crowley u.a., 2001; Mantzicopoulos & Patrick 2010). Da ist es kaum verwunderlich, dass sich Mädchen bereits im Kita-Alter weniger in diesen Bereichen zutrauen als Jungen und schon früh ein geringeres Selbstkonzept in Mathe, Technik und Naturwissenschaften ausbilden (Oppermann u.a., 2019). Auch bei gleichen kognitiven Voraussetzungen schätzen sie ihre diesbezüglichen Fähigkeiten grundsätzlich geringer ein. Das wirkt sich wiederum auf ihre Lernmotivation und schließlich auf ihre Leistungen in den MINT-Fächern aus (Oppermann u.a., 2020). Doch das Selbstkonzept bildet nicht unbedingt die tatsächlichen Kompetenzen ab. So neigen Jungen in MINT-Fächern eher dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen, während Mädchen sich eher unterschätzen (Stanat u.a., 2018). Diesen ungünstigen Kreislauf, in dem die geschlechterstereotypen Überzeugungen von Eltern und pädagogischen Fachkräften das Selbstkonzept von Mädchen und Jungen derart prägen, dass sie zu geschlechterspezifischen Leistungsunterschieden führen, die wiederum problematische geschlechterstereotype Überzeugungen verstärken, gilt es zu durchbrechen. Deshalb ist es wichtig, über diesen Bildungsmythos aufzuklären, Rollenstereotype abzubauen und das akademische Selbstkonzept von Mädchen im MINT-Bereich zu stärken.

 

Weitere Beiträge veröffentlichen wir in loser Folge ebenfalls an dieser Stelle. (Hinweis: Diese Texte wurden erstmals unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autorin: Jana Asberger für bpb.de)

Oder lauschen Sie einfach den Folgen im "Besserwissen"-Podcast.Danach sind Sie definitiv schlauer.

Zum Weiterlesen...
  • Asberger, J., Futterleib, H., Thomm, E., & Bauer, J. (2022). Wie erkennt man Bildungsmythen? Sieben Heuristiken zum Selbsthinterfragen und Weitersagen. In G. Steins, B. Spinath, S., Dutke, M. Roth, & M. Limbourg (Hrgs.). Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Berlin: Springer.
  • Bauer, J. & Asberger, J. (2022). Was Lehrkräfte im Unterricht getrost ignorieren können: Lernstile von Lernenden. In G. Steins, B. Spinath, S., Dutke, M. Roth, & M. Limbourg (Hrgs.). Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Berlin: Springer.
  • Asberger, J., Thomm, E., & Bauer, J. (2021). On predictors of misconceptions about educational topics: A case of topic specificity. PloS ONE. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0259878. Open Data and open materials: osf.io/pnj6k/
  • Asberger, J., Thomm, E., & Bauer, J. (2020). Empirische Arbeit: Zur Erfassung fragwürdiger Überzeugungen zu Bildungsthemen: Entwicklung und erste Überprüfung des Questionable Beliefs in Education-Inventars (QUEBEC). Psychologie in Erziehung und Unterricht. doi: 10.2378/peu2019.art25d.