Gespannt blickten viele Augen an diesem Donnerstag nach Washington: Wie wird sich Deutschlands neuer Bundeskanzler Friedrich Merz bei seinem Antrittsbesuch im Weißen Haus schlagen? Im Oval Office hatte US-Präsident Donald Trump in der Vergangenheit schon einige hochrangige Politiker aus aller Welt auflaufen lassen. Zuletzt hatten er und sein Vizepräsident J. D. Vance den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor laufenden Kameras zurechtgewiesen. Für Merz lief der Besuch deutlich besser. Er durfte sogar im prestigeträchtigen „Blair House“ übernachten – dem offiziellen Gästehaus des Präsidenten, direkt gegenüber dem Weißen Haus. Wer hier zu Gast ist, hinterlässt ein Buch. So ist die Tradition. Und an die hielt sich auch der deutsche Bundeskanzler. Nach Angaben eines Regierungssprechers hat er die englische Übersetzung einer Sammlung von Briefen deutscher Einwanderer mit ins Blair House gebracht, die Walter Kamphoefner 1988 unter dem Titel „News from the Land of Freedom. German Immigrants write home“ („Nachrichten aus dem Land der Freiheit. Deutsche Einwanderer schreiben nach Hause“) zusammengestellt hat. Die Briefe stammen von Farmern, Arbeitern oder auch Hausangestellten aus der Zeit zwischen 1830 und 1900. Diese Edition basiert auf der in der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt aufbewahrten Auswandererbriefsammlung. “WortMelder” stellt sie hier einmal vor…
Die Gothaer Sammlung umfasst rund 12.000 Auswandererbriefe, die im Original oder als Kopien vorliegen, und ist ein immenser kulturgeschichtlicher Schatz. Die Briefe wurden von deutschen Nordamerika-Auswanderern seit dem Jahr 1820 an ihre Familien und Freunde in der Heimat geschrieben. Zur Sammlung gehören auch Transkriptionen von etwa 10.000 dieser Briefe und rund 2.000 Kopien von gedruckt erschienenen Auswandererbriefen sowie über 4.000 Nachweise weiterer gedruckter Briefe. Außerdem sind etwa 25.000 Seiten Kontextmaterial aus Archiven und Privathand sowie Material zu weiteren Aspekten der deutschen Amerika-Auswanderung in der Forschungsbibliothek Gotha verfügbar. Die Sammlung wurde in den 1980er-Jahren mit großzügiger finanzieller Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk an der Ruhr-Universität Bochum aufgebaut und wird seither erweitert.
“Auswandererbriefe werden aufgrund ihres hohen Quellenwerts von Historikerinnen, Historikern und anderen historisch Forschenden hochgeschätzt”, erklärt Dr. Monika Müller, die Leiterin der Abteilung Sammlungen und Bestandserhaltung in der Forschungsbibliothek Gotha. "Sie bilden den größten Bestand der schriftlichen Zeugnisse ‘einfacher Leute’ überhaupt. Neben den wenigen erhaltenen Tagebüchern sind sie die einzigen zeitgenössischen und subjektiven sozialgeschichtlichen Dokumente für die Prozesse der Auswanderungsentscheidung sowie der Orientierung und Integration im Gastland.” Und so ist in den Briefen, die in Gotha bewahrt werden, über Fremdes und Vertrautes zu lesen, über Sprachprobleme und Heimweh, Diskriminierung und wirtschaftlichen Erfolg, über die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, über Ängste, Hoffnungen, Stolz auf Erreichtes und auf die eigene ethnische Gruppe.
Nachdem in Bochum Auswandererbriefe, die sich in der alten Bundesrepublik erhalten haben, eingeworben werden konnten, konzentrierte sich die Forschungsbibliothek Gotha in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Geschichte Nordamerikas am Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin auf Briefe, die in den Neuen Bundesländern überliefert wurden. Die Briefe wurden im Original oder als Reproduktion gesammelt und erschlossen. Heute wird das Projekt vom Lehrstuhl für Internationale Geschichte an der Universität Trier koordiniert. Mittlerweile sind nach Presseaufrufen mehr als 11.000 Briefe in der Gothaer Sammlung zusammengekommen, die nunmehr zu den größten ihrer Art weltweit zählt. Besonders aussagekräftig ist die Sammlung dort, wo Briefe einer Person oder der Schriftwechsel einer gesamten Familie über mehrere Jahre hinweg vorliegen. Rund 1.000 Blatt Tagebücher und Reisebeschreibungen ergänzen den Fundus.
Wurden ursprünglich Schreiben aus Nord-Amerika gesammelt, hat sich der geografische Horizont inzwischen stark erweitert: Auch Briefe aus Lateinamerika, Australien, Afrika und Asien sind vorhanden; teilweise wurden sie von Oberschlesiern und Sudetendeutschen geschrieben, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auswanderten. Qualitativ steht die Sammlung konkurrenzlos weltweit an der Spitze – keine andere ist so leicht zugänglich, so umfassend transkribiert und bezüglich der Briefeschreiber so intensiv biografisch recherchiert. Dazu wurden umfangreiche Materialien aus deutschen und amerikanischen Archiven zusammengetragen. Zwei große wissenschaftliche Editionen – „Briefe aus Amerika” (1988) und „Deutsche im Amerikanischen Bürgerkrieg” (2002) – sind aus den Beständen der Sammlung erschienen. Diese, weitere kleinere Briefeditionen und ein Teil der zu den Auswandererbriefen erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten sind auf der Website der Sammlung nachgewiesen, die neben Listen zu den Absendern und Empfängern weitere Informationen zu den Briefen und deren Benutzung enthält. Neben der Recherche nach Briefen bestimmter Personen lässt sich über die Homepage feststellen, ob Schreiben aus einem bestimmten Ort oder Staat, in einen bestimmten Ort bzw. ein Bundesland in Deutschland und in einem bestimmten Zeitraum vorhanden sind. Über ein Stichwortverzeichnis können Interessierte einen Teil der Briefe inhaltlich recherchieren.
Dr. Monika Müller: “Für die Ergänzung der Sammlung aber auch die Fortführung ihrer Erschließung sind die Forschungsbibliothek Gotha und der Lehrstuhl für internationale Geschichte der Universität Trier auf Unterstützung angewiesen: z.B. durch Bekanntmachung des Anliegens und ehrenamtliches Engagement bei der Transkription und Erschließung der Briefe. Wer daran Interesse hat, kann sich gern an die Forschungsbibliothek wenden."
Auch für Lehrerinnen und Lehrer, die das Thema „Auswanderung“ im Unterricht behandeln wollen, hält die Bibliothek ausführliches Lehrmaterial bereit.
Betreuung der Sammlung in der Forschungsbibliothek Gotha
PD Dr. Monika Müller
Leiterin der Abteilung Sammlungen und Bestandserhaltung
E-Mail: monika.mueller@uni-erfurt.de
Tel.: +49 361 737-5561
Wissenschaftliche Betreuung
Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl
Universität Trier
E-Mail: lehmkuhl@uni-trier.de