„Die Bundesregierung muss die Reißleine ziehen“

Gastbeiträge
Bildkollage Porträtfoto Prof. Dr. Sophia Hoffmann in einem Polaroidrahmen und bunte Kacheln im Hi8ntergrund: grau, hellblau, hellgrün

Die Kritik an der israelischen Kriegsoffensive in Gaza wird zunehmend lauter, auch in Deutschland. Erst in dieser Woche kritisierte Kanzler Friedrich Merz das israelische Vorgehen in Gaza, zuvor hatte der CDU-Politiker Armin Laschet Israel vorgeworfen, gegen das Völkerrecht zu verstoßen, mehrere SPD-Bundestagsabgeordnete forderten bereits, deutsche Waffenexporte nach Israel zu beenden, und selbst der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, plädierte für eine Debatte über die deutsche Staatsräson. Prof. Dr. Sophia Hoffmann, Konfliktforscherin und Professorin für Internationale Politik an der Universität Erfurt, hat für unseren Wissenschaftsblog „WortMelder“ ihre Ansichten über die aktuelle Lage der palästinensischen Geflüchteten in Gaza geteilt, und ihre fachliche Einschätzung zu den Absichten von Netanjahus Kriegspolitik und die Auswirkungen auf das deutsch-israelische Verhältnis gegeben.

Frau Professorin Hoffmann, Helfer*innen in Gaza schildern die derzeitige Lage als katastrophal. Sie forschen u. a. zu Flüchtlingspolitik und humanitärer Hilfe. Wie schätzen Sie die derzeitige Lage der Menschen in Gaza ein? Was durchleben sie und welche Hilfe benötigen sie am dringendsten?
Die Berichte und Bilder, die uns – seit Monaten – aus Gaza erreichen, zeigen eine Situation am Rande der menschlichen Existenz. Der Horror ist grenzenlos. Alles ist zerstört, permanent sterben Menschen durch weitere Bombenangriffe, Vertreibungsmaßnahmen finden statt. Die israelische Armee begeht schwerste Kriegsverbrechen gegen eine schutzlose Bevölkerung.
Seitdem die israelische Armee den Waffenstillstand, der Anfang 2025 ausgehandelt wurde, im März aufgekündigt hat, sind noch schlimmere Angriffe hinzugekommen: Nun setzt die Armee noch massiver als zuvor Aushungerung und den Entzug von Strom und Wasser gezielt als Waffe ein und verhindert die Auslieferung humanitärer Hilfe. Die Menschen in Gaza benötigen dringend Hilfe und eine Waffenruhe.

Israel verspricht humanitäre Hilfe für Gaza. Medien berichten nun, dass die Hilfsgüter und -lieferungen nicht nur unzureichend sind, sondern durch Israel gar blockiert werden. Welche Absichten verfolgt Israel Ihere Ansicht nach dabei?
Man muss sehr differenziert analysieren und sprechen – es gibt kein einheitliches Israel und auch die von Netanjahu geführte Regierung, die zwar in ihrer Gesamtheit rechtsextrem ist, stellt keine Einheit dar. Sie besteht aus sechs Parteien, von denen vier zum fundamentalistischen Lager zählen. Netanjahus zentrale Absicht, das denke ich auch heute, ist sein politisches Überleben. Er will verhindern, dass er ins Gefängnis muss: In Israel steht er schon lange wegen Korruption vor Gericht. Der internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen ihn ausgesprochen. Aber solange er Premierminister ist, wird es sehr schwierig, ihn tatsächlich hinter Gitter zu bringen.
Um sein politisches Überleben zu sichern, ist Netanjahu zum Äußersten bereit. Derartiges Verhalten sieht man in der internationalen Politik übrigens immer wieder. Jüngstes Beispiel war die ungeheure Grausamkeit, mit der sich der syrische Diktator Assad an die Macht geklammert hat. Netanjahu ist damit kein Einzelfall – der große, eklatante Unterschied ist, dass Netanjahus Regierung von vielen demokratischen, westlichen Regierungen weiterhin als ein Verbündeter gesehen und behandelt wird, inklusive Waffenlieferungen und öffentlichem Händedruck. Leider auch von der deutschen Regierung.
Andere israelische Regierungsmitglieder, wie zum Beispiel Finanzminister Smotrich, sind rechtsextremistische Ideologen und verfolgen offen das Ziel, die palästinensische Gesellschaft aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland zu vertreiben. Das hat Smotrich erst vergangene Woche wieder offen kundgetan. Damit ist er nicht allein, derartig menschenverachtende Hetzsprache gegen Gaza gab es in den vergangenen Monaten immer wieder von hochrangigen israelischen Politiker*innen. Hier ist die offen geäußerte Absicht: Das gesamte Gebiet, das derzeit zu Israel-Palästina zählt, soll von palästinensischen Menschen gesäubert werden und auf diesem Territorium soll ein Großisrael entstehen.
Jenseits dieser in der Regierung vertretenen Absichten muss man gleichzeitig betonen, dass es, ebenfalls seit Jahren, eine israelische Protestbewegung gegen Netanjahu und auch gegen die mörderische Gazapolitik gibt. Es gibt äußerst mutige, israelische zivilgesellschaftliche Organisationen, wie zum Beispiel Breaking the Silence. Dies ist eine Organisation, die israelischen Armee-Veteran*innen die Möglichkeit gibt, von ihren Kriegserlebnissen zu berichten und damit auch Zeugnis von den vielen Menschenrechtsverbrechen der israelischen Armee abzulegen. Viele Soldat*innen sind durch die Kriegsführung traumatisiert und ebenfalls Opfer; die liberalen, demokratischen Teile der israelischen Gesellschaft lehnen die Politik ihrer Regierung ab. Leider sind sie derzeit in der Minderheit.

Schon lange ringen deutsche Politiker*innen und mitunter auch Medienvertreter*innen mit sich, so hat man den Eindruck, wie weit sie in ihrer Kritik am Vorgehen Israels in Gaza gehen können. Angeführte Gründe sind dafür oftmals die eigene Geschichte, also die NS-Zeit und der Holocaust, und die unerschütterliche Solidarität Deutschlands mit Israel – gerade bestärkt auch nach dem Hamas-Angriff gegen Israel. Welche Nahostpolitik sollte Deutschland verfolgen, gerade wenn es darum geht, Frieden zu sichern bzw. wiederherzustellen?
Es ist nachvollziehbar, dass für viele deutsche Politiker*innen, von denen die allermeisten keine Nahost-Expertise besitzen, die Situation verworren ist: Seit Jahrzehnten bestehen enge diplomatische Beziehungen zu Israel; Deutschlands besondere Verantwortung gegenüber Israel ist beständiger Teil der Außenpolitik, man betrachtet sich als eine Wertegemeinschaft. Dazu kommt der Schock des furchtbaren Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023, der zeigte, in welch hohem Maße die israelische Bevölkerung bedroht ist – ein breit angelegter Angriff gegen die Hamas scheint vielen Politiker*innen in Deutschland absolut gerechtfertigt. Und es stimmt selbstverständlich: Die Hamas ist eine gefährliche Organisation, die zu weiteren Terrorangriffen in der Lage ist und deren Aggression bekämpft werden muss. Und nun, in dieser Situation, lässt es sich nicht mehr verstecken: Dieser an sich schützenswerte Staat Israel begeht schwerste Menschenrechtsverletzungen, die eindeutig gegen den demokratischen, liberalen Kanon verstoßen und eigentlich öffentlich zu verurteilen sind. Wie sollen sich deutsche Politiker*innen äußern, wie handeln, ohne ins Fettnäpfchen zu treten?
Aus meiner Sicht ist die Lage klar: Die Bundesregierung muss die Reißleine ziehen und Netanjahu die Unterstützung entziehen. Keine Waffenlieferungen mehr, eindeutige Verurteilung des Vorgehens der israelischen Armee, diplomatischer Druck auf allen Ebenen und ein Zusammenschluss mit anderen, europäischen Regierungen, die diesen Weg bereits gehen: u. a. Großbritannien, Frankreich, Spanien. Akut sollte die Bundesregierung selbst, und mit den multilateralen Organisationen, massiven diplomatischen Druck ausüben, um eine Waffenruhe und humanitäre Hilfslieferungen zu erzwingen.
Zudem muss sich die Bundesregierung ebenfalls dazu durchringen, eine Kurskorrektur gegenüber dem internationalen Gerichtshof zu vollziehen. Dort wird eine Klage gegen Israel wegen des Verdachts auf Völkermord geprüft. Bisher hat die Bundesregierung dieses Vorgehen verurteilt und sich damit ins diplomatische Abseits gestellt. Das ist meiner Meinung nach falsch. Wenn Deutschland und die internationale Gemeinschaft sich nicht entschlossen gegen die israelische Kriegsführung in Gaza stellen, wird uns das einholen. Autoritäre Regierungen in aller Welt beobachten sehr genau, welche Art von Gewalt toleriert wird – und verschieben die Grenzen immer weiter. Russland wendet heute in der Ukraine an, was in Syrien und Tschetschenien ausprobiert wurde.

Kritik an Israel ist nicht gleichzusetzen mit Antisemitismus, dennoch wird beides oft miteinander vermischt. Feststeht, dass sich antisemitische Anfeindungen auf Personen jüdischen Glaubens in Deutschland seit dem Hamas-Angriff auf Israel erheblich erhöht haben. Was können wir, aber auch Politiker*innen und Medien tun, um gemeinsam einen offeneren und differenzierten Diskurs miteinander zu führen?
Auch hier kann ich verstehen, dass die Situation für Nicht-Expert*innen kompliziert scheint: Israel, das Judentum, Antisemitismus – das sind alles sehr pauschale Begriffe für Dinge, die komplex, vielfältig und widersprüchlich sind. Hier hilft nur: klare, differenzierte Sprache und öffentliche Bildung.
Juden und Jüdinnen in aller Welt sind eine der am stärksten diskriminierten und unterdrückten Minderheiten. In Europa hat Antisemitismus eine jahrhundertalte, traurige Tradition der Gewalt. Dabei ist europäische Gesellschaft und Kultur natürlich jüdische Gesellschaft und Kultur – das lässt sich ja gar nicht trennen. Doch seit langem werden jüdische Gemeinschaften in Europa immer wieder dafür missbraucht, durch gewalttätige Abgrenzung einen vermeintlich homogenen Volkskörper zu bilden. Die Mechanismen von Antisemitismus und Rassismus sind artverwandt: Beide enden, zu Ende gedacht, in Faschismus, Vertreibung, Genozid. Daher gehört Antisemitismus immer und überall bekämpft.
Nun stellt sich die ungewöhnliche Situation dar, dass es einen Staat gibt – Israel – der explizit als eine Schutzheimat für Juden und Jüdinnen in aller Welt geschaffen wurde. Dieser Staat wurde, 1948, leider im Zuge einer gewaltsamen Landnahme und der Vertreibung von hunderttausenden Palästinenser*innen gegründet; ein Unrecht, das nie ausgeglichen wurde. Hier liegt die Wurzel der weitverbreiteten Ablehnung, die der Staat Israel z. B. in der arabischen Welt, aber auch darüber hinaus, erfährt. Dass aus dieser Ablehnung, die eine politische – und keine religiöse, oder identitäre – Ablehnung ist, auch ein Israel-bezogener Antisemitismus erwachsen kann und erwächst, stimmt: Dieser liegt vor, wenn Israel aufgrund seiner jüdischen Identität und Bevölkerung pauschal abgelehnt wird, und nicht, differenziert und aufgrund seiner Politik. Hier wird, auch in der pro-palästinensischen Bewegung, häufig nicht genau unterschieden und es ist nicht eindeutig, und das muss anerkannt und immer wieder diskutiert und erklärt werden.
Doch all dies ist kein Grund, dem zivilgesellschaftlichen Protest gegen die von der israelischen Politik verursachten Katastrophe in Gaza, mit einer derartigen Repression zu begegnen, wie wir sie in Deutschland sehen. Im Gegenteil: Wir müssen der Protestbewegung dankbar sein, dass sie es verhindert, dass die deutsche Politik und Gesellschaft die Vorgänge in Gaza komplett ignorieren können. Leider ist ein offener und differenzierter Diskurs derzeit nur in sehr kleinem Kreis und in kleinen Räumen möglich, die von einer größeren Öffentlichkeit abgeschirmt sind.

Auf ihrem Parteitag in Chemnitz hat Die Linke beschlossen, die sogenannte Jerusalemer Erklärung (JE) anzunehmen, um die Kritik an Israel zu erweitern. Stark davon abgegrenzt haben sich nicht nur die Thüringer CDU, sondern auch Vetreter*innen der Thüringer Linken, darunter auch der ehemalige Ministerpräsident Bodo Ramelow. Worum geht es in der Jerusalemer Erklärung und wodurch grenzt sie sich von der gängigen „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) ab? Und was bedeutet die Annahme dieser Antisemitismusdefinition für das politische Handeln einer Oppositionspartei?
Die Jerusalemer Erklärung ist ganz klar das bessere Instrument zur Bekämpfung von Antisemitismus. Ihre simple, aber dafür umso stärkere Definition von Antisemitismus lautet: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“ Hiermit betont sie, dass Antisemitismus eine identitätsbezogene, pauschale Ablehnung von Juden und Jüdinnen ist. Auch geht die JE auf israelbezogenen Antisemitismus ein und gibt viele, sehr nützliche Beispiele, um hier gut unterscheiden zu können.
Ich bin sehr froh, dass die Linke die JE angenommen hat und damit ein starkes Zeichen für den demokratischen Diskurs und gegen die Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen als Repressionsinstrument setzt. Die Kritik der Thüringer Linken und von Bodo Ramelow halte ich daher für fehlgeleitet; ich wäre übrigens hier sehr gern bereit zu einem Treffen und einer Diskussion im schönen Erfurt oder anderswo in Thüringen.
Die Antisemitismusdefinition der IHRA dagegen öffnet dieser Instrumentalisierung von Antisemitismus als breitem Repressionsinstrument Tür und Tor. Das hat damit zu tun, dass sie nicht klar zwischen Antisemitismus als Judenhass und politischer Kritik am israelischen Staat unterscheidet. Stattdessen macht sie es leicht, solche politische Kritik als Antisemitismus zu verunglimpfen und damit ist sie ein Bollwerk gegen den demokratischen und offenen Diskurs. Wohin die IHRA führen kann, sehen wir gerade in den USA, wo die Trump-Administration diese nutzt, um z. B. der Harvard Universität Antisemitismus zu unterstellen und dieser Universität aufgrund dessen gerade verboten hat, ausländische Studierende zuzulassen. Das zeigt auf erschreckende Weise, wie weit diese Instrumentalisierung in der Hand autoritärer Regierungen führen kann. 

Die hier getroffenen Äußerungen spiegeln die fachlichen Erkenntnisse und, darauf basierend, die persönliche Einschätzung von Prof. Dr. Sophia Hoffmann wider. Sie sind nicht als politische Äußerung der Universität Erfurt insgesamt zur aktuellen Lage in Israel und Gaza zu verstehen.

Inhaberin der Professur für Internationale Politik und Konfliktforschung
(Staatswissenschaftliche Fakultät)
C03 – Lehrgebäude 1 / Raum 0144