"Das Verfahren drückt eine Art der internationalen Solidarität aus, die seit dem Kalten Krieg völlig in Vergessenheit geraten ist"

Einblicke
Teaserbild Prof. Dr. Sophia Hoffmann

Israel ist derzeit vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag angeklagt: In einer 84 Seiten umfassenden Klageschrift erhebt Südafrika den Vorwurf, das Land begehe Völkermord an den Palästinensern. "WortMelder" sprach darüber mit Sophia Hoffmann, Professorin für „Internationale Politik und Konfliktforschung“ an der Universität Erfurt...

Was sind die konkreten Vorwürfe Südafrikas an Israel, können Sie das einmal näher ausführen?
Zunächst muss ich auf die ungeheure Symbolkraft und emotionale Wucht dieses Verfahrens eingehen, das Menschen auf der ganzen Welt elektrisiert. Diese Wucht hat vor allem mit vier Dingen zu tun: Erstens drückt das Verfahren eine internationale Solidarität aus, die seit dem Kalten Krieg völlig in Vergessenheit geraten ist. In der dunkelsten Stunde der Not, um es einmal pathetisch auszudrücken, erscheint einer völlig am Boden liegenden und 'von allen guten Geistern verlassenen' palästinensischen Nation ein 'Retter', ein Licht am Ende des Tunnels – jemand, der ohne offensichtlichen Eigennutz plötzlich für palästinensische Rechte eintritt. Nur diese Wahrnehmung erklärt die außerordentliche, emotionale Reaktion auf Südafrikas Schritt in der arabischen Welt aber auch anderswo. Zweitens ist dieser Retter nicht etwa eine Großmacht oder ein in der ganzen Welt bekannter Menschenrechtsakteur oder wenigstens ein offensichtlicher Kandidat, wie z.B. ein arabischer Nachbarstaat. Nein, es ist Südafrika, ein Land, von dem niemand diesen Schritt erwartet hat. Ein Land, das mit eigenen Problemen kämpft, aber doch eine Heldengeschichte hat – nämlich die Überwindung – mit eigener Kraft und internationaler Hilfe – des zutiefst ungerechten Apartheid-Regimes und die Verwandlung in die ‚Regenbogennation‘. Diese ist zwar bei Weitem nicht perfekt, aber weitestgehend friedlich. Ein riesiger Erfolg. Drittens, erinnert uns genau diese Heldengeschichte an den wahrscheinlich weltweit bekanntesten Freiheitskämpfer: Nelson Mandela, dessen ANC-Bewegung jahrzehntelang von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unterstützt wurde, und der im Gegenzug in seinen Reden immer wieder die Unterdrückung der Palästinenser thematisierte, auch als Präsident Südafrikas. Viertens, erinnert das Verfahren nun vollends auch noch daran, dass Israel, stattdessen, zu den starken Unterstützern der südafrikanischen Apartheidspartei ND zählte – und damit auf der 'falschen Seite der Geschichte' stand. Damit rückt das von Südafrika angestoßene Verfahren die Palästinenser in eine historische Linie mit Nelson Mandela und dem internationalen Kampf gegen Apartheid, der weltweit und historisch als ein großer Erfolg der Freiheit über eine tyrannische Herrschaft gesehen wird. Das entfaltet Wirkung. Obendrauf ist das Verfahren auch ein Polit-Thriller erster Güte, für Leute, die so etwas mögen.

Das ist in der Tat spannend. Und was sind nun die konkreten Vorwürfe gegen Israel?
Konkret klagt Südafrika an, dass es während der israelischen Angriffe im Gaza-Streifen zu Verstößen gegen die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen gekommen ist.

Warum klagt denn gerade Südafrika?
Das ist eine hochspannende Frage. Zum einen gibt es, wie oben genannt, historische Gründe, die erklären, warum sich Südafrikas Regierung und Teile der Gesellschaft besonders für den Nah-Ost-Konflikt interessieren und für die Rechte der palästinensischen Nation. Sicher spielen auch andere Dinge eine Rolle, zum Beispiel die Möglichkeit für Südafrika, eine Führungsrolle einzunehmen und sich an die Spitze des von bereits vielen Staaten geäußerten Protests gegen den Krieg in Gaza zu stellen und dem Entsetzen über das Massensterben in Gaza eine Stimme zu geben. Vielen scheint es so, als würde Südafrika hier eine historische Schuld begleichen und die internationale Solidarität, die die Weltgemeinschaft Südafrika im Kampf gegen Apartheid entgegenbrachte, nun aus einer Haltung der Dankbarkeit heraus, zurückzahlen. Im Internet äußern viele Südafrikafrikaner*innen großen Stolz über die Intervention, und das Team der südafrikanischen Anwälte wurde am Wochenende umjubelt von einer Menschenmenge am Flughafen in Pretoria empfangen. Sicherlich gibt es auch noch diplomatische und strategische Interessen und Gemengelagen, die das Vorgehen erklären, darüber weiß ich allerdings nichts Näheres.

Und wie argumentiert Südafrika in dieser Sache?
Die südafrikanische Seite hat am vergangenen Donnerstag in einer weltweit verfolgten Live-Übertragung das Eröffnungsplädoyer in Den Haag verlesen. Das war hochemotional und in seinen detaillierten Ausführungen der Anklage extrem schockierend. Das südafrikanische Team besteht aus drei Männern und einer Frau verschiedener Hautfarben und Herkunft, eine sehr effektive Darstellung der ‚Rainbow Nation‘. Zudem hat die südafrikanische Regierung eine beeindruckende irische Strafverteidigerin als Repräsentantin bestellt.
Es ging bei der Anklage zunächst darum, das Gericht davon zu überzeugen, dass die Annahme von Völkerrechtsverbrechen in Gaza plausibel sein könnte. In diesem Fall würde das Gericht eine einstweilige Anordnung aussprechen, die weitere israelische Angriffe im Gazastreifen verbietet. Um dieses Ziel zu erreichen, hat das südafrikanische Team einerseits das umfassende und grausame Leid der Zivilbevölkerung des Gazastreifens dargestellt, in einer schrecklichen Aufzählung der Brutalitäten, die durch das israelische Militär verursacht werden und wurden. Andererseits haben die Anwälte viele abstoßende Aussagen von hochrangigen israelischen Politikern aufgezählt, in denen Palästinenser wiederholt als 'Tiere' bezeichnet wurden, oder die komplette Vernichtung des Gazastreifens angekündigt wurde. Die Ausführungen über das Leid sollten die Dringlichkeit der einstweiligen Verfügung belegen, die gefordert wird, während die entmenschlichenden Aussagen der Politiker die Absicht des Völkermords (englisch: ‚genocidal intent‘) von israelischen Akteuren belegen sollen.

Die Grundlage der Klage ist ja die von der UN 1948 verabschiedete "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" als Reaktion auf den Holocaust und die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes im Zweiten Weltkrieg. Nach dieser Vereinbarung, die seinerzeit auch Israel unterzeichnet hat, ist Völkermord eine Handlung, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Dies ist jedoch schwer zu beweisen. Die USA, Großbritannien und die Bundesregierung sehen beispielsweise keine Grundlage für die Klage Südafrikas. Wie kommt es zu dieser divergierenden Einschätzung und welche Folgen könnte das haben?
Die Gründe für die unterschiedlichen Einschätzungen sind vielschichtig und sehr kontrovers. Die Position der USA, Israels und Deutschlands, dass es wirklich keine Grundlage für den Verdacht eines möglichen Völkermordsverbrechen gibt, ist in der internationalen Staatengemeinschaft, soweit ich es überblicken kann, eine Minderheitenposition. Ich neige dazu, die Wurzeln für diese Position in geopolitischen, bzw. geo-ökonomischen Mächteverhältnissen zu sehen, also dass es für die USA letztlich darum geht, ihren zentralen Alliierten im Nahen Osten, nämlich Israel, zu stützen. Deutschland und Großbritannien folgen in harten, außenpolitischen Sicherheitsfragen den USA, derzeit aufgrund einer noch größeren, sicherheitspolitischer Abhängigkeit als üblich, siehe Ukraine-Russlandkrieg. Aber jenseits dieser grundlegenden Erklärung gibt es noch viele weitere Gründe für die anscheinend bedingungslose Unterstützung der israelischen Politik seitens der USA, Großbritanniens und Deutschlands, z.B. eine gleichzeitig auftretende 'Schwäche' des außenpolitischen Personals in allen drei dieser Staaten – sowohl US-Präsident Biden, als auch US Außenminister Blinken könnten der Netanyahu Regierung viel entschiedener gegenüber auftreten und eine Mäßigung der militärischen Handlungen erzwingen. Aber beide werden als charakterschwach betrachtet und offenbar hat die humanitäre Lage der palästinensischen Zivilgesellschaft keine außenpolitische Priorität. Dabei sollte ich allerdings auch hinzufügen, dass die US-Außenpolitik in den vergangenen Wochen zu großem Streit innerhalb der Regierung geführt hat, inklusive Rücktritte von hohen Beamten und Politikern – sogar die CIA musste ihre Belegschaft dazu aufrufen, keine politischen Statements zu veröffentlichen, nachdem eine stellvertretende Abteilungsleiterin einen pro-Palästina Post auf Facebook veröffentlicht hatte. Zudem gibt es viel engere, persönliche und historische Verbindungen zwischen westlichen und israelischen diplomatischen Apparaten als mit der palästinensischen Seite. Im Alltagsgeschäft der internationalen Politik spielen solche Dinge auch eine Rolle.

Wie ist denn in diesem Zusammenhang die Tatsache einzuordnen, dass Deutschlands Kandidatin für einen Richterposten am Internationalen Strafgerichtshof im November erstmals durchgefallen ist?
Das ist ein schwerer Schlag für die deutsche Regierung und die deutsche Interessenvertretung am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Anders als der IGH, wo der Südafrika vs. Israel Fall verhandelt wird, urteilt der IStGH über Völkerrechtsverbrechen auf dem Level von Individuen, nicht Staaten. Trotzdem gibt es bei den Gerichtshöfen eine gewissen Verwandtschaft, denn beide beschäftigen sich eben mit schweren Kriegsverbrechen und anderen Verbrechen, für die die Staatengemeinschaft eine gemeinsame Gerichtsbarkeit trägt. Jetzt wird Deutschland ab März zum ersten Mal seit der Gründung keine richterliche Vertretung dort haben. Wenn man sieht, wie politisiert das jetzige Verfahren gegen Israel erscheint, erkennt man, wie bedeutsam das sein kann. Die Gründe für dieses außenpolitische Fiasko sind vielfältig. Einer der Gründe ist sicherlich auch die Abscheu, so stark muss man es leider ausdrücken, die Deutschlands völlige Unterstützung für die Aktivitäten der Netanyahu-Regierung seit dem 7. Oktober in vielen Ländern ausgelöst hat. Offenbar trauen viele Länder Deutschland keine objektive Haltung in Fragen des Völkerrechts mehr zu. Die Tatsache, dass die Bundesregierung gerade angekündigt hat, im jetzt eröffneten Verfahren eine offizielle Intervention als Drittpartei auf der Seite Israels zu unternehmen, wird diese Skepsis nur verstärken.

Und wie reagiert Israel nun auf die Klage vor dem Internationalen Gerichtshof?
Die israelische Regierung hat, gemäß dem offiziellen Ablauf, am vergangenen Freitag, also einen Tag nach dem Eröffnungsstatement durch Südafrika, auf die Anklage reagiert. Das israelische Team wird von einem britischen Anwalt geführt, dieser hat auch die Verteidigungsschrift verlesen. Die israelische Regierung weist die Anklage in allen Punkten zurück und argumentiert, dass Südafrika die militärischen Handlungen Israels völlig verdreht und aus dem Kontext reißt. Zudem führe die südafrikanische Klage dazu, die Bedeutung von Völkermord an sich zu banalisieren und zu schwächen. Die israelische Seite hat zunächst die schrecklichen Details der grausamen Hamas-Angriffe am 7.10.2023 dargelegt und die Traumatisierung der Opfer thematisiert, von denen ja auch noch über 100 als Geiseln in den Fängen der Hamas sind – ein kaum zu ertragender Zustand, besonders für die Freunde und Angehörigen. Nach diesem verbrecherischen Überfall führe Israel derzeit eine Selbstverteidigung durch, und das israelische Militär tue alles, so die Argumentation, um zivile Opfer zu verhindern. Die Statements von Politikern, in denen den Palästinensern als Ganzes das Existenzrecht abgesprochen werde, seien von Südafrika aus dem Kontext gerissen worden, bzw. unwahr. Zudem wurde Südafrika eine politische Nähe zur Hamas unterstellt und weitere Ausführungen getätigt, die die Befangenheit Südafrikas darstellen sollten.

Was wären denn mögliche Konsequenzen für Israel, wenn der Gerichtshof der Klage bzw. dem Vorwurf des Völkermordes stattgeben würde? Und inwiefern wäre ein solches Urteil überhaupt "vollstreckbar"?
Wie gesagt, es handelt sich um ein zweistufiges Verfahren: Bereits in einigen Wochen muss das Gericht darüber entscheiden, ob die Anklageschrift hinreichend belegt, dass die Möglichkeit eines Völkermordverbrechens plausibel ist. In diesem Fall würde das Gericht eine einstweilige Anordnung aussprechen, die Israel weitere militärische Handlungen im Gazastreifen verbietet. Diese Anordnung wäre juristisch nicht anfechtbar, aber die UN kann sie auch nicht durchsetzen. Damit kommt sie, im weitesten Sinne, einer UN-Resolution gleich – von denen auch nicht alle umgesetzt werden.

Der zweite Schritt wäre eine Verhandlung darüber, ob ein Völkermordverbrechen stattgefunden hat. Diese Verhandlung würde viele Jahre dauern. Sollte das Gericht eine einstweilige Anordnung aussprechen und damit den Verdacht des Völkermords gegen Israel erhärten, wäre das ein entsetzlicher Schlag für Israel als Staat und insbesondere für die derzeitige Regierung. Die israelische Armee wäre jahrelang verdächtig, Völkermord begangen zu haben und ein mögliches Urteil würde wie ein Damoklesschwert über ihr schweben.

Für wie aussichtsreich halten Sie die Klage und wann ist mit einem Urteil zu rechnen?
Das ist wahnsinnig schwer zu beurteilen, und ich bin auch zu wenig Expertin im Völkerrecht, um die Politisierung des IGH zu bewerten. Am IGH sitzen 15 Richterinnen und Richter – rein nach der Haltung ihrer Regierungen scheint es mir recht offensichtlich, dass derzeit mindestens acht mit Südafrika stimmen würden. Allerdings wechseln vier der Richter im Februar 2024, und das wird die politische Zusammensetzung ändern. Nach meinem politischem ‚Bauchgefühl‘ halte ich es für möglich, dass die einstweilige Anordnung kommt, aber von der israelischen Regierung nicht vollständig umgesetzt werden wird. In jedem Fall ist es ein echter Hoffnungsschimmer, dass zumindest das akute Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung etwas vermindert wird und das wenigstens die schlimmsten Angriffe auf zivile Infrastruktur und ziviles Leben in Gaza beendet werden können.