"Die Sammlung Perthes ist für mich eine wahre Schatzkammer"

Einblicke , Vorgestellt
Ausschnitt einer Landkarte von Kafa

In ihrer Heimat Äthiopien herrscht Krieg. Für die Forscherinnen und Forscher vor Ort, eine enorme Herausforderung. Vier von ihnen sind dank eines Stipendiums der Gerda Henkel Stiftung aktuell für einen Forschungsaufenthalt am Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes der Universität Erfurt. Einer von ihnen ist Zegeye Woldemariam von der Universität Mekelle. Er war 2018 schon einmal als Herzog-Ernst-Stipendiat in Gotha und arbeitet hier nun an seinem Dissertationsprojekt „The Kingdom of Kafa: An Ecological and Political Ethnohistory from the late 14th to the early 20th Centuries“. Wir haben ihn getroffen und für unseren Forschungsblog „WortMelder“ nach seiner Arbeit gefragt…

Zegeye Woldemariam

Zegeye Woldemariam kommt aus Bonga in Kafa, das im Südwesten Äthiopiens liegt, und ist seit Februar 2022 in Gotha. 1984 geboren, hat er zunächst als Geschichtsdozent am Bonga Education College und an der Bonga University gearbeitet, bevor er Doktorand an der Mekelle University wurde. Doch durch den Ausbruch des Krieges in der Tigray-Region kehrten seine Professoren in ihr Heimatland zurück, die Universität wurde geschlossen, das Promotionsvorhaben des jungen Forschers war gefährdet. Die Rettung kam schließlich in Gestalt von Professor Wolbert Smidt, der zum einen Hauptbetreuer des Promotionsprojekts ist und zugleich derjenige, auf dessen Initiative das deutsch-äthiopische Stipendienprogramm zurückgeht. Durch seine Empfehlung gewährte die Gerda Henkel Stiftung Zegeye Woldemariam ein Stipendium, mit dem er nun sein Promotion abschließen kann.

„Ich promoviere zur Kultur und Geschichte des Königreichs Kafa in Südwest-Äthiopien“, erklärt der junge Wissenschaftler. „Ich nehme die Kulturgeschichte von Kafa in den Blick, eines der stärksten Königreiche vor seiner gewaltsamen Eingliederung in das größere moderne äthiopische Reich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Dynamik des historischen Wissens ist unglaublich spannend, eine Dynamik, die in der Kultur der ‚großen Erzählung‘ der äthiopischen Geschichtsschreibung meist übersehen wird. Meine Studie soll nun das frisch rekonstruierte Geschichtswissen einer Gesellschaft der ‚Peripherie‘ (Königreich Kafa), die trotz ihres reichen historischen und kulturellen Wissens im Lauf der Zeit von wissenschaftlichen Bemühungen oft an den Rand gedrängt wurde, in den Vordergrund stellen.“ Um diese Geschichte zu rekonstruieren, nutzt Zegeye Woldemariam verschiedene Quellen, darunter die historischen Karten aus Gotha, die für ihn einen enormen Fundus darstellen, weil sie so reich an Informationen sind. „Ich versuche, mit meiner Arbeit und Methodik auch den althergebrachten historiografischen Trends entgegenzuwirken, die stark vom Zentralstaat Äthiopien dominiert wurden. Bislang gibt es beispielsweise keine tiefergehende Studie zu den Gesellschaften Kafas. Mit meiner Arbeit möchte ich das ändern und neue Erkenntnisse über die Art und Weise, wie die ‚periphere‘, langlebige öko-kulturelle, wirtschaftliche und politische Dynamik die späteren äthiopischen Staatsbildungsprozesse unterstützt hat. Darüber hinaus soll meine Studie dazu beitragen, die historiografische Unausgewogenheit und ethnografische Lücke der untersuchten Region zu korrigieren und den Fundus an Quellenmaterial und methodischen Erkenntnissen zur Äthiopienforschung zu erweitern.“

Dass er im Rahmen seiner Promotion in der Sammlung Perthes in Gotha arbeiten kann, ist für den Stipendiaten ein großes Glück. Nicht nur, dass er hier fernab des Bürgerkrieges in seinem Heimatland einen sicheren Arbeitsplatz hat, vor allem das Archiv der Gothaer Karten ist für ihn eine Schatzkammer. „Ich bin hier auf so viele alte Kartenskizzen über Kafa aus dem 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert gestoßen, das ist einfach wunderbar. Zum Beispiel fand ich die Karte eines österreichischen Forschers über Kafa aus dem Jahr 1905, die sehr reich an ethnografischen und historischen Informationen ist und 1908 in Gotha veröffentlicht wurde. Zu diesen Karten, die ich in der Sammlung Perthes gefunden habe, hatte ich vorher ja keinen Zugang. Durch die Zusammenarbeit und den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen in Gotha lerne ich nun, wie ich aus alten Karten historisches Wissen konstruieren kann und wie zentral Karten für die Rekonstruktion der vergangenen kulturellen und historischen Dynamik einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft sind.“ So berichten die Stipendiaten in regelmäßigen Kolloquien oder der dienstäglichen „Teestunde“ vom Stand ihrer Forschung und diskutieren gemeinsam über Methoden oder neue Fragestellungen. Auch die Teilnahme an Fachkonferenzen hilft Zegeye Woldemariam dabei, sein Wissen zu erweitern und zugleich an andere weiterzugeben. „Schön ist es aber auch, dass die Forscherinnen und Forscher, die hier in Gotha zusammenkommen, unterschiedliche wissenschaftliche und kulturelle Hintergründe haben. Das ist enorm bereichernd.“

Ob es auch etwas gibt, das ihn an Deutschland, oder aktuell Thüringen, nicht mag, fragen wir den Stipendiaten. „Ehrlich gesagt, sind die Wetterschwankungen für mich eine echte Herausforderung“, lacht er. „Vor allem die europäische Wintersaison macht mir sehr zu schaffen.“ Aber dann kommt er auch schon wieder ins Schwärmen: „Obwohl Gotha keine große Stadt ist, ist sie doch groß genug und vor allem so reich an historischem Erbe und Aufbewahrungsorten für historisches Wissen. Die Sammlung Perthes ist dafür ein wunderbares Beispiel.“ Und wie geht es nach dem Stipendienaufenthalt für Zegeye Woldemariam weiter? „Nach Abschluss meiner Promotion werde ich nach Äthiopien zurückkehren, um meine Lehrtätigkeit hoffentlich wieder aufnehmen zu können. Ich möchte mein Wissen und meine Erfahrungen, die ich während meiner Promotion in Deutschland gemacht habe, so gern an die Kolleginnen und Kollegen in meiner Heimat weitergeben“, sagt er und weiß zugleich, dass die Situation in Äthiopien nach wie vor schwierig ist. Das Land ist noch immer vom Krieg zerrissen. „Die Region, aus der ich stamme, ist zwar nicht direkt betroffen, aber am Ende sind doch ganz Äthiopien und seine Bevölkerung Opfer dieses Krieges. Ich war Doktorand an der Universität Mekelle, einer der größten öffentlichen Universitäten in Äthiopien, und war sehr unglücklich darüber, dass die Uni geschlossen werden musste. Der Krieg hat so vieles zunichtegemacht. Dennoch möchte ich natürlich meinen Doktor machen und meine Forschungsergebnisse in einer Artikelserie oder als Monografie veröffentlichen, damit die weltweite Wissenschaftscommunity mehr Einblicke in die zum Großteil noch unbekannte Kultur und Geschichte des Königreichs Kafa erhält. Ich sammle während meines Aufenthalts in Gotha enorme akademische, aber auch soziale Erfahrungen und Kenntnisse. Aber ich habe hier auch ganz basale Dinge gelernt, z.B. wie man eine digitale Bibliothek nutzt, wie man Bücher von anderen Universitäten in Deutschland ausleiht oder wie man auf digitale historische Karten in der Sammlung Perthes zugreift. Und ich habe eine neue Idee davon, wie ich mit verschiedenen Forschungsfragen umgehen kann, wenn ich nach Äthiopien zurückkehre. Und schließlich habe ich viele neue Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund als dem meinen gelebt und gearbeitet – auch das hat mich als Mensch reifen lassen.“

Abbildung oben: Friedrich J. Bieber, Routen der Expedition v. Mylius-Bieber, 1905, Gotha 1908, 72 × 50 cm, Sammlung Perthes der Forschungsbibliothek Gotha, SPK 40.24 C (03).

Hintergrund

Das Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes partizipiert an der von der Gerda Henkel Stiftung im Herbst 2021 bewilligten Förderung für Nachwuchswissenschaftler*innen der Universität Mekelle in Nordäthiopien (ResScholarGE). In Anbetracht der dortigen andauernd schwierigen Lage können auf diese Weise sowohl die langjährige Zusammenarbeit als auch die gemeinsamen Forschungsaktivitäten und zwar insbesondere zu den Beständen der Sammlung Perthes weiter fortgesetzt werden.

Dank der Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung arbeiten derzeit vier äthiopische Promovierende am Forschungskolleg Transkulturelle Studien. Das Stipendienprogramm geht auf die Initiative des ehemaligen Herzog-Ernst-Stipendiaten Wolbert Smidt (Friedrich-Schiller-Universität Jena/Mekelle University) zurück und zielt auf die Förderung von Nachwuchswissenschaftler*innen und Forschungsassistent*innen, die sich mit ihren Arbeiten in bereits bestehende deutsch-äthiopische Kooperationsvorhaben eingeschrieben haben. Das Programm wirkt jedoch zugleich auf Forschung und Lehre an der Universität Erfurt, da es sich in unmittelbar laufende Kooperationsvorhaben einschreibt, die 2014 mit einem ersten Memorandum of Understanding ihren Anfang genommen hatten. Entsprechend beteiligen sich die Stipendiaten aktiv an gemeinsamen Forschungsaktivitäten und Arbeitsgruppen, wie beispielsweise dem Nachwuchsnetzwerk Historische Afrikaforschung und der Arbeitsgruppe „Territoriality and Cartographic Knowledge“, die sich eng mit dem „Forschungs- und Digitalisierungsprojekt Kartografien Afrikas und Asiens (KarAfAs)“ verbinden.