Die Streiks in Frankreich – ein Fall gescheiterter Regierungskommunikation?

Gastbeiträge
Rentner vor einem "What's next?"-Schild

Hundertausende Menschen gehen derzeit in Frankreich auf die Straße. Sie protestieren gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron. Achim Kemmerling, Inhaber der Gerhard Haniel Professur für Public Policy and Development an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt, hat genauer hingeschaut und geht für unseren Forschungsblog "WortMelder" der Frage nach, warum sich Menschen damit schwer tun, eine solche Reform zu akzeptieren...

Prof. Dr. Achim Kemmerling

Die derzeitigen Streiks in Frankreich sind nichts Unvertrautes. Man denke nur an die Gelbwestenbewegung, deren Anlass eine Erhöhung der Kraftstoffpreise 2018 war, und das Land für mehrere Monate mit Krawallen überzog. Die jetzigen Streiks entzünden sich vor allem an einem Gesetz, das die Erhöhung des regulären Renteneintrittsalters von bislang 62 auf 64 Jahre vorsieht.

Solche Reformen sind immer besonders schmerzhaft. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass es einer großen Koalition zwischen SPD und CDU bedurfte, um 2006/2007 zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Renteneintrittsalter deutlich zu erhöhen (Kemmerling and Truchlewski 2015). Zuvor war die Erhöhung des Eintrittsalters eine Art Wahlkampftabu, also ein Thema, mit dem sich alle Beteiligten lieber nicht auseinandersetzten. Machten Regierungsparteien dennoch Anstalten, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, konnte die jeweilige Oppositionspartei genüsslich die Bevölkerung gegen eine Reform anstacheln. Die große Koalition durchbrach diese Logik (vorübergehend) und einigte sich auf eine für Wähler*innen unpopuläre, aber für viele Rentenexpert*innen notwendige Reform.

Warum tun sich Menschen damit schwer, eine solche Reform zu akzeptieren? Schließlich müsste vielen Menschen klar sein, dass der demografische Wandel eine große Herausforderung für alle Rentensysteme ist. In der politischen Ökonomie ist dazu eine Hauptthese, dass diese Reformen individuell unpopulär sind, weil sie eine Mehrheit der Wähler*innen betreffen. Interessanterweise stimmen jedoch häufig auch solche Menschen gegen eine Rentenreform, die davon gar nicht (mehr) betroffen wären. Deshalb müssen wir tiefer in die Seele des Wahlvolkes blicken:

Ein möglicher Ansatz nimmt "folk beliefs" ins Visier, also allgemein übliche, intuitiv plausible und somit weitgehend unhinterfragte Anschauungen in der öffentlichen Meinung. Ein Beispiel ist die oft gehörte Auffassung, dass man jungen Menschen nicht Arbeitsplätze wegnehmen kann, indem man ältere Menschen länger arbeiten lässt. Ökonomen bezeichnen dies – etwas abschätzig – als einen Fehlschluss vom Ende der Arbeit oder eine "Lump of Labour Fallacy". In der Tat ist es ja nicht gegeben, dass jedes Jahr, das ein älterer Mensch länger arbeiten soll, wirklich zulasten eines Arbeitsjahres eines Jüngeren geht. In der Sprache der Ökonomen sind diese Beschäftigten keine wirklichen Substitute, um nur ein Gegenargument zu nennen.

Aber in gewisser Hinsicht machen es sich Ökonomen auch zu einfach. Mal abgesehen von der Frage, ob Prozesse wie Digitalisierung oder Globalisierung wirklich objektiv die Anzahl der Arbeitsplätze in einer Gesellschaft reduzieren: Viele Menschen glauben dies (Kemmerling 2016). Und wenn sie dies glauben, dann werden sie instinktiv Reformen wie die französische vehement ablehnen.

Solche Einstellungen sieht man übrigens nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch unter Politikern, beispielsweise in Parlamentsdebatten (Kemmerling und Gast Zepeda, 2022). Dies ist auch nicht verwunderlich, denn erstens sind Politiker*innen auch Wähler*innen und können deren Ansichten teilen, und zweitens kann es aus Wahlkampfperspektive sinnvoll sein, solche Ansichten zu unterstützen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch in Frankreich die Oppositionsparteien gegen die Rentenreform waren. Deshalb sah sich die Regierung Macron dazu gezwungen, einen außerparlamentarischen Weg für die Verabschiedung des Gesetzes zu wählen. Ein solches Vorgehen gießt jedoch nur noch Öl ins Feuer der Streikenden.

In Frankreich kommt noch verschärfend hinzu, dass die bisherige Arbeitszeitpolitik in eine ganz andere Richtung lief. Dort wurde nämlich bereits im Jahr 2000 per Gesetz versucht, für alle Beschäftigten die Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche zu reduzieren. Ein solches Gesetz, so sinnvoll und progressiv es auch sein mag, hat "folk beliefs" wie die Idee des Endes der Arbeit nur noch verstärkt. Deshalb wirkt die Erhöhung des Renteneintrittsalters nicht nur wie eine 180-Grad-Wendung, sondern – intuitiv – betrachtet, wie eine Torheit in den Augen vieler Wähler*innen.

Demografischer und technologischer Wandel machen eine Anpassung der Sozialsysteme unabdingbar. Dass dies flexibel und intelligent möglich ist, zeigen Nachbarländer wie die Niederlande mit einer intelligenten Teilzeitpolitik, die auch für den graduellen Übergang zur Rente entscheidend ist (Schmid 2002). Was Regierungen überall lernen müssen, ist, wie man notwendige, aber unpopuläre Reformen besser kommuniziert und wie man bessere Kompromisse findet. Radikallösungen führen nur zu Legitimationsverlust, anschwellendem Widerstand und häufig auch zur Rücknahme der Reformen durch spätere Regierungen. Das haben in Deutschland auch die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010 der Schröder-Regierung gezeigt. Eine Reformstrategie muss deshalb in Kommunikation und Deliberation viel tiefer ansetzen und die Ängste und Intuitionen der Menschen mehr in den Blick nehmen.

Literaturhinweise
  • Kemmerling, A. 2016. “The End of Work or Work without End? How People’s Beliefs about Labour Markets Shape Retirement Politics.” Journal of Public Policy 36 (January): 109–38.
  • Kemmerling, A., and Z. Truchlewski. 2015. “Fiscal Performance in Germany: The Role Of Electoral Competition.” In: Deficits and Debt in Industrialized Democracies, edited by G. Park and E. Ide. London: Routledge.
  • Kemmerling, Achim, and Gast Zepeda, Stephanie. 2022. “Tracing Fears about Digitalization and Automation in Social and Labor Market Policy Debates.” In: Digitalization and the Welfare State, 214–36. Oxford et al.: Oxford University Press.
  • Schmid, G. 2002. “Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik.” Frankfurt am Main: Campus.