"I have a dream" – 60 Jahre Marsch auf Washington

Gastbeiträge
Straßenschild in den USA

Der Schwarze Gewerkschaftsführer A. Philip Randolph wollte wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation vieler Schwarzer schon länger einen Marsch nach Washington für Jobs und Freiheit organisieren. Es gelang ihm schließlich, die fünf großen Schwarzen Bürgerrechtsorganisationen zur Kooperation zu motivieren: Congress of Racial Equality, National Association for the Advancement of Colored People, National Urban League, Southern Christian Leadership Conference, Student Nonviolent Coordinating Committee. Auch weitere Organisationen unterstützten das Projekt. Und so kamen am Ende mehr als 250.000 Menschen im August 1963 nach Washington auf die Mall vor dem Lincoln-Denkmal um ihre Stimme zu erheben. Bemerkenswert: Über ein Viertel von ihnen waren keine Schwarzen. Bewusst wurden historische Reminiszenzen eingesetzt: zum einen mit dem Ort des Lincoln-Denkmals als die Erinnerung an Lincolns rechtliche Beendigung der Sklaverei 100 Jahre zuvor, zum anderen wurde mit der Wahl von Marian Anderson als Sängerin der Nationalhymne auf deren legendäres Konzert am selben Ort im Jahr 1939 verwiesen. Die international bekannte Sängerin sollte damals eigentlich in der Constitution Hall auftreten. Dies war jedoch aus rassistischen Gründen verweigert worden. Am 28. August nun jährt sich der "Marsch auf Washington" und mit ihm die legendäre Rede von Martin Luther King zum 60. Mal. "WortMelder" hat bei Apl. Prof. Dr. Michael Haspel vom Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt nachgefragt: "Was konnten die Ereignisse seinerzeit anschieben, das auch heute noch für uns von Bedeutung ist?"

Der erste und wichtigste Punkt mag überraschen: Es ist die Überzeugung, dass alle Menschen gleiche Rechte und Würde haben. Das ist natürlich in den westlich geprägten Ländern in der Tradition der Aufklärung angelegt, auch in der Verfassung der USA festgeschrieben und seit 1948 auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Aber für die meisten Menschen, die damals lebten, widersprach das nicht nur ihrer Lebensrealität, sondern viele kannten diese Vorstellung gar nicht. In den USA herrschte Segregation, Großbritannien, Portugal, Spanien und Frankreich hatten noch Kolonien. Im Ostblock wurden vor allem kollektive Rechte betont. In Europa ist die volle Bedeutung der Menschenrechte eigentlich so richtig erst mit dem KSZE-Prozess in den 1970er-Jahren ins öffentliche Bewusstsein gedrungen.

Dabei verbindet Martin Luther King mit Gleichheit und gleichen Rechten die Realisierung von Gerechtigkeit und Freiheit: „Now is the time to make justice a reality for all of God’s children.“ King hat von Anfang an nicht nur die sogenannten politischen Rechte im Blick, sondern vor allem auch die wirtschaftlichen und sozialen. Das wurde in unserem 2022 abgeschlossenen DFG-Projekt deutlich, in dem wir Metaphern der Gleichheit und ihre Verbindung zu Menschenwürde und Menschenrechten untersucht haben (Das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit als Begründung universaler Gleichheit und Menschenwürde im Black Abolitionism und in der Theologie Martin Luther King, Jr.s; Projektnummer 435847497).

In der Kadenz seiner Rede macht King deutlich, dass für ihn etwa das Konzept der Kinder Gottes universal zu verstehen ist: „[A]ll of God’s children, black men and white men, Jews and Gentiles, Protestants and Catholics, will be able to join hands and sing in the words of the old […] spiritual. Free at last!” Da wenige Monate vor dem Marsch auf Washington, der Fernsehsatellit Telstar 2 seinen Orbit eingenommen hatte und alle großen Fernsehanstalten King live übertrugen, hörten und sahen diese Rede nicht nur die auf der Mall versammelten Menschen, sondern weltweit Millionen. Sie sahen nicht nur King, sondern zugleich mehr als 250.000 überwiegend schwarze Menschen, aber eben auch eine beträchtliche Anzahl Weißer. Das war zu dieser Zeit ein unglaubliches Symbol für die Freiheitskämpfe weltweit und für die universale Gleichheit aller Menschen. Zugleich wird daran deutlich, dass man Ella Bakers berühmtes Diktum „[T]he movement made Martin rather than Martin making the movement“ wohl ergänzen müsste: The media made Martin. Denn die Medien hatten einen nicht geringen Anteil daran, dass King als Ikone der Bürgerrechtsbewegung wahrgenommen wurde, obwohl er relativ wenige reale Erfolge vorweisen konnte und andere z.T. schon seit Jahrzehnten erfolgreich an der Spitze ihrer Organisationen standen.

Obwohl viele andere wichtige Redner vor ihm auftraten (Rednerinnen allerdings nicht. Rosa Parks und andere wichtige Aktivistinnen wurden zwar geehrt, aber durften nicht sprechen), wurde nur Kings Rede medial so intensiv begleitet. Dieser Medienerfolg täuschte auch etwas darüber hinweg, dass der Marsch auf Washington zwar symbolisch wichtig war, aber wenig konkrete Resultate hervorgebracht hat. Die Leiter der großen Bürgerrechtsorganisationen wurden hinterher noch von Präsident Kennedy im Weißen Haus empfangen, was den Eindruck erweckte, die Kennedy-Administration unterstütze die Anliegen. Allerdings waren die Brüder Kennedy sehr zurückhaltend was die Bürgerrechte anging, weil sie die Stimmen der Südstaaten nicht verlieren wollten. Kennedy erlaubte dem FBI King abzuhören und war so im Voraus über die Grundlinien des Projektes informiert und hatte auch mehrfach mäßigend eingegriffen.

Malcolm X hat das ganze Unterfangen ja als „farce in Washington“ bezeichnet, weil er es ablehnte, um Rechte zu betteln, die einem selbstverständlich zustehen und er nicht glaubte, dass die Regierung aktiv würde. Er setzte dem Traum-Motiv von King das Schlagwort des Alptraums (nightmare) entgegen, unter dem die Schwarzen seit der Verschleppung nach Nordamerika litten.

Ein weiterer Aspekt aus der Rede Kings scheint mir für heutige gesellschaftliche Konflikte relevant, nämlich die Strategie der Verteidiger*innen des Status quo, die Forderungen als zu umfänglich und den angestrebten Wandel als zu schnell anzusehen, also von den Betroffenen Mäßigung und Geduld einzufordern. Dem setzt King entgegen: „This is no time to engage in the luxury of cooling off or to take the tranquillizing drug of gradualism. Now, is the time to make real the promises of democracy. […] Now is the time to make justice a reality for all of God’s children.”

Wenn man die Dokumente aus den 1950er- und 1960er-Jahren liest, die King und andere zu Geduld und Mäßigung auffordern, während immer noch Schwarze gelyncht wurden, nur eine kleine Gruppe von Afro-Amerikaner*innen im Süden zu den Wahlen zugelassen wurden, die ökonomische Abhängigkeit von den Grundbesitzern seit der Zeit der Versklavung geblieben war, Schwarze im Bereich der Bildung, Gesundheit und Kultur massiv benachteiligt wurden und viele in einem reichen Land in bitterer Armut unter ständiger Drohung von Gewalt lebten, ist man frappiert, wie angesichts dieser offensichtlichen Missstände, die auch eklatant der Verfassung widersprachen, viele Menschen davon ausgingen, dass das nur sehr langsam änderbar sei.

Diese Struktur der Argumentation findet sich immer wieder in Zusammenhängen, in denen Menschen ihre ungerechtfertigten Privilegien verlieren. Diese werden offensichtlich subjektiv als gerechtfertigt wahrgenommen, die Kosten für andere werden ausgeblendet bzw. idealisiert. Immer wieder ist das Argument zu lesen, dass die rassistische Segregation für beide Seiten gut sei und die meisten Schwarzen das auch so wollten. Es seien dann Krawallmacher von außen, die die eigentlich zufriedenen Afro-Amerikaner*innen vor Ort aufwiegelten.

Wenn man gegenwärtig auf die Debatten zum Klimawandel schaut, sind ähnliche Muster erkennbar: Obwohl zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels, dem doch in der politischen Öffentlichkeit die meisten zustimmen, radikale Maßnahmen notwendig wären, werden dann einzelne Gesetzte, die eine gewissen Veränderung mit sich bringen, nicht nur hinsichtlich praktischer Details kritisiert, sondern prinzipiell diffamiert („Heizungs-Stasi“). Flugverkehr und Kreuzfahrtaktivitäten waren nie so intensiv wie dieses Jahr. Wenn es an die eigenen Privilegien geht, dann werden die massiven Auswirkungen, die ja nun auch in Europa spürbar werden, aber für andere heute schon existenzbedrohend sind, offensichtlich moralisch ausgeblendet.

Es liegt nahe, hier den Begriff des „White Privilege“ als analytisches Konzept zu nutzen. Wie es in den USA die Weißen waren, die auf Grund der Ausbeutung der Schwarzen bzw. People of Colour, privilegiert leben konnten und leben, ist es mit Blick auf den Klimawandel vor allem die Bevölkerung des globalen Nordens, die für den bisherigen CO2-Ausstoß verantwortlich ist bzw. davon profitiert, wohingegen die Auswirkungen überproportional die Bewohner*innen des globalen Südens zu spüren bekommen.

Martin Luther King würde wohl auch heute noch mit den Worten des Propheten Amos sagen: “No, no, we are not satisfied and we will not be satisfied until justice rolls down like water and righteousness like a mighty stream.”

Fachverantwortlicher für Systematische Theologie
(Martin-Luther-Institut)
Lehrgebäude 4 / Raum E31
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nach Vereinbarung
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Weiterführende Texte:

  • Haspel, Michael: Martin Luther King, Jr.’s Usage of the Concepts of Children of God and imago Dei as Theological Foundation of Equality, Human Dignity and Human Rights in: Journal of Black Religious Thought 1, 2022, 60-87.
  • Haspel, Michael: Image of God and Immediate Emancipation. David Walker’s Theological Foundation of Equality and the Rejection of White Supremacy, Harvard Theological Review (erscheint im September 2023).