In Köpfen und Kellern. Die Universität Erfurt und der Verein "Spuren" e.V. untersuchen das Kriegsende in Thüringen

Einblicke
Fotoalbum aus der Sammlung Deubner

Der Zeitraum vom Januar 1945 bis September 1945 markiert eine besondere Wendezeit in der thüringischen Geschichte. Denn die Thüringer erlebten in diesen neun Monaten drei politische Systeme und damit auch drei Wertesysteme: vom Regime der Nationalsozialisten über die Besetzung durch die Amerikaner zum Einmarsch der sowjetischen Besatzungsmacht – von der Nazi-Gesinnung also über die US-Freedom- und Easy-Living-Attitude hin zum Kommunismus. Wie gingen die Menschen damit um? Wie konnte jemand, der eben noch Verfechter des Nationalsozialismus war, plötzlich Freund der Amerikaner und dann gleich Befürworter des Kommunismus werden? Wie fühlten sich die Menschen, die durch die amerikanischen Truppen endlich vom NS-Regime befreit und dann plötzlich den Rotarmisten ausgeliefert wurden? Dieser doppelte Systembruch muss bei den Thüringern nachhaltig Spuren hinterlassen haben, Spuren, die sich über Generationen hinweg bis heute in den erzählten Familiengeschichten niederschlagen. Und genau diese untersuchen jetzt die Historiker Christiane Kuller und Jörg Seiler von der Universität Erfurt gemeinsam mit Michael Luick-Thrams vom Verein "Spuren" e.V. näher.

Michael Luick-Thrams

Das Projekt „Neun Monate, Drei Mächte, Millionen von Schicksalen“ wurde im vergangenen Jahr anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes von Michael Luick-Thrams ins Leben gerufen. Der amerikanische Historiker und Direktor des "Spuren" e.V. sowie des amerikanischen Schwestervereins „Traces“ forscht schon lange zu Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs auf deutscher und amerikanischer Seite. Ihre Lebensgeschichten haben es ihm besonders angetan – gerade die noch relativ unbekannte Geschichte der Deutschen, die während des Zweiten Weltkriegs aus Angst vor Spionage, aber auch zwecks eines späteren möglichen Gefangenenaustauschs festgenommen und in den USA interniert wurden, ohne dass sie sich je etwas zu Schulden kommen lassen haben. „Mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg nach dem Angriff auf Pearl Harbor entwickelte sich in den USA fast schon über Nacht eine Art Hysterie gegenüber den eingewanderten Deutschen. Alle waren plötzlich Nazis. Sie wurden gemieden, denunziert und Familien, die zum Teil schon Jahre vor dem Krieg in die USA oder nach Südamerika ausgewandert waren, wurden auf Basis des sogenannten Enemy Alien Control Programs in den USA in Internierungslager gesteckt“, sagt Luick-Thrams.

In ganz Deutschland gibt es noch heute Nachfahren von Internierten, die Briefe, Tagebücher, Fotoalben und andere Dokumente ihrer Familienangehörigen aufbewahren – auch in Thüringen. Genau diese Dokumente und die verschiedenen Familiengeschichten dahinter sind es, die Luick-Thrams interessieren – und mit denen er auch das Interesse von Jörg Seiler und Christiane Kuller, beide Historiker an der Universität Erfurt und Kollegen im Forschungsprojekt „Diktaturerfahrung und Transformation“, geweckt hat. Was den Dreien gemeinsam ist, ist das wissenschaftliche Interesse an Erzählungsgeschichte, an Alltagsgeschichte und Zeitzeugenberichten. „Das Spannende an dem Projekt ist unter anderem, dass hier nicht untersucht wird, was nach Kriegsende auf Staatsebene passiert ist“, sagt Jörg Seiler, der auch Vorstandsmitglied im "Spuren" e.V. ist, „sondern das, was im Leben der Menschen geschehen ist. Wie sind sie hier mit dem Wandel fertig geworden, wie hat das sie und ihre Familie geprägt?“ Dieser Ansatz bringt die Menschen dazu, sich den Wissenschaftler*innen zu öffnen und aus ihrer Familiengeschichte zu erzählen. Was haben sie als Kind erlebt, wie ist es ihren Eltern und Großeltern ergangen? Und welche Dokumente haben sie noch auf ihrem Speicher? „Oft sind es die ganz kleinen Erinnerungen, die viel über die damalige Zeit aussagen“, weiß Seiler.

Eine beispielhafte Familienhistorie ist die der Optikerfamilie Deubner aus Bad Langensalza: Der Vater von Dieter Deubner war Kriegsgefangener in Ohio. Er selbst erlebte das Kriegsende als Siebenjähriger mit seiner Mutter in Bad Langensalza und besonders die Angst vor den Rotarmisten, deren schlechter Ruf ihnen vorauseilte, ist ihm im Gedächtnis geblieben. Zeitzeugen wie er sind die Protagonisten von Seilers und Luick-Thrams Forschung. So hat Deubner den Forschern die gesamte Korrespondenz seines Vaters zur Verfügung gestellt. „Wir haben hier schon Material bekommen, von dem wir nur träumen konnten“, freut sich Jörg Seiler. Das zeigt, was in Thüringen noch für Schätze schlummern, in Köpfen und in Kellern. Die Herausforderung dabei ist jedoch einerseits, den Kontakt zu den Menschen herzustellen, die etwas beitragen können und das auch möchten, und andererseits das zum Teil umfangreiche Material dann zu bearbeiten, Erkenntnisse daraus zu ziehen und diese wiederum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In einem ersten Schritt möchten die Forscher im „Haus der Spuren“, dem Vereinshaus in Bad Langensalza, eine Anlaufstelle einrichten für interessierte Bürger, aber auch für Studierende und Wissenschaftler*innen, die zu dem Thema forschen möchten. Hier sollen Ausstellungen und Veranstaltungen stattfinden sowie Begegnungen ermöglicht werden. Außerdem planen Jörg Seiler und Michael Luick-Thrams, mit einem Geschichtsmobil durch Thüringen zu touren. „Wir möchten keine Wissenschaft vom Elfenbeinturm aus machen, sondern den Menschen auf Augenhöhe begegnen“, betont Luick-Thrams. „Wir wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den Menschen vor Ort, ihren Erfahrungen und ihren Erzählungen in Kontakt bringen. Dabei gehen wir auch und gerade heraus aus der Stadt in den ländlichen Raum. Es geht uns dabei nicht um eine Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Vielmehr soll ein Dialog auf Augenhöhe entstehen, in dem alle Beteiligten aus neuen Perspektiven auf die Geschichte blicken können.“ So wollen die Forscher Kontakte knüpfen zu Menschen, die sich im Sinne der „Citizen Science“, also bürgerwissenschaftlich, beteiligen möchten.

Unterstützt wird das Projekt auch durch das Engagement von Schüler*innen und Studierenden. Mit einem Seminar im Studium Fundamentale der Universität Erfurt, das von Christiane Kuller und Michael Luick-Thrams geleitet wird, wurde in diesem Semester ein erster Aufschlag dazu gemacht. Mit Blick auf die neun Monate um das Kriegsende herum beteiligten sich die Studierenden an der Aufarbeitung der thüringischen Sozial- und Alltagsgeschichte, indem sie selbst Lebensgeschichten recherchierten oder sich aus dem bestehenden Material Bestände zur Interpretation heraussuchten und dann Vergleiche zwischen Aspekten des Lebens unter den drei politischen Systemen zogen. Luick-Thrams und Seiler wünschen sich aber eine noch tiefere Zusammenarbeit mit der Universität Erfurt. So soll die Forschungsstelle „Zeitzeugenbefragung“ des Projektes „Diktaturerfahrung und Transformation“ möglichst verstetigt und in Kooperation mit dem „Spuren" e.V. auch weitere Forschungs- und Dialogprojekte zur DDR-Geschichte durchführen. Schon jetzt sind die meisten Interviewpartner Kinder und Kindeskinder der Erlebnisgeneration, und das Projekt interessiert sich dafür, wie während der DDR-Zeit in den Familien über die so wechselvollen neun Monate 1945 gesprochen wurde. Weitere Projekte, die sich mit DDR-Erfahrung und -Erinnerung beschäftigen, sollen sich anschließen. Diese Menschen und ihre Geschichten seien es schließlich, die dazu beitragen, das Hier und Jetzt besser zu verstehen, davon sind die Forscher überzeugt. „Eigentlich geht es um das Heute“, sagt Luick-Thrams. „Es geht darum, zu fragen, was beim Kriegsende sowie danach passiert ist und was das mit den Familien gemacht hat. Also darum, Fragen zu stellen wie: Wie sind wir geworden, was wir sind? Und wie sind wir überhaupt? Ich finde, man versteht auch die Nachwendegeschichte besser, wenn man die DDR-Geschichte einmal seziert, sie komplett auseinandernimmt und die Einzelteile vor sich auf den Tisch legt. Das regt Diskussionen mit den Bürgern an, und zwar abseits der akademischen Diskurse im wissenschaftlichen ‚Elfenbeinturm‘.“ Und sein Kollege Seiler fügt hinzu: „Wissenschaft hat auch die Aufgabe, in die aktuellen Kommunikationsprozesse einzusteigen. Warum wählen die Menschen die AfD oder skandieren ‚Lügenpresse‘? Wir möchten mit den Leuten ins Gespräch kommen, ganz wertefrei, ohne Scheuklappen und Schubladendenken. Wir sehen in unserer Arbeit deshalb auch eine Art demokratischer Auftrag.“

Abb. oben: Fotoalbum aus der Internierungszeit, Sammlung Deubner/Spuren e.V.

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