Als ob die Corona-Pandemie Europa und die Welt nicht schon genug in Atem hielte, schaut die Europäische Union seit Montag mit Besorgnis nach Ungarn. Dort hat das Parlament ein Notstandsgesetz verabschiedet, das dem nationalkonservativen und populistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán neue Machtbefugnisse einräumt. Welche Bedeutung die neu entstandenen politischen Machtverhältnisse für Europa haben und wie die anderen EU-Mitgliedsstaaten darauf reagieren sollten – das hat „WortMelder“ bei Prof. Dr. Frank Ettrich, Professor für Strukturanalyse moderner Gesellschaften an der Uni Erfurt, nachgefragt…
„Am Montag dieser Woche hat das ungarische Parlament mit mehr als einer 2/3-Mehrheit den Antrag der ungarischen Regierung gebilligt, den angesichts der globalen Corona-Pandemie seit dem 11. März in Ungarn geltenden Ausnahmezustand ohne weitere zeitliche Begrenzung zu verlängern. Bisher war die ungarische Verfassungslage so, dass ein von der Regierung ausgerufener Notstand nach spätestens 15 Tagen dem Parlament zur Abstimmung gestellt werden musste, wenn die jeweilige Krisensituation eine solche Maßnahme erforderlich machen sollte.
Schon im Vorfeld der Diskussionen zu diesem Schritt wurden im In- und Ausland Bedenken laut, die Orban-Administration könne mit dem Schritt der zeitlichen Entfristung eine weitere autokratische Verformung des politischen Systems der Republik Ungarn im Auge haben. Man sollte zunächst fairerweise einräumen, dass die Corona-Pandemie in vielen Ländern, auch in vergleichsweise gefestigten Demokratien, gegenwärtig zur Einschränkung von Freiheitsrechten führt, die bereits verfassungsrechtliche Diskussionen auslösen. Es ist daher durchaus auf den ersten Blick nachvollziehbar, wenn die ungarische Justizministerin angesichts der Kritik an den gegenwärtigen Entwicklungen in ihrem Land an die ungarische und europäische Öffentlichkeit appelliert, die in anderen Ländern als selbstverständlich hingenommenen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung im Fall von Ungarn nicht schon wieder mit anderem Maß zu messen. Weder seien die Kontrollrechte des Parlaments außer Kraft gesetzt, noch würden die getroffenen Maßnahmen angesichts der gesundheitlichen Bedrohung der Bevölkerung unverhältnismäßig ausfallen. Gegenwärtig gehört Ungarn keinesfalls zu den Ländern, die am rigidesten in die Freiheits- und Bewegungsrechte ihrer Bürger eingreifen. Erst am vergangenen Samstag wurde eine partielle Ausgangssperre verhängt, und im Unterschied zu den slowakischen Abiturient*innen, können Ungarns Reifeprüflinge (wie ihre deutschen Leidensgefährt*innen) nicht damit rechnen, dass in diesem Jahr die Abiturprüfungen entfallen. In der unikalen gegenwärtigen Situation bezieht sich die Kritik im In- und Ausland aber nicht auf die Verlängerung des seit dem 11. März geltenden Ausnahmezustandes und die damit verbundenen konkreten Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, sondern auf die defacto mögliche Ausschaltung des Parlamentes durch den Wegfall der Befristungsklausel. Alle ungarischen Parteien (inkl. JOBBIK) haben sich im Vorfeld auf diesen Punkt konzentriert, ohne dass dies für die Parlamentsentscheidung am Montag von Relevanz gewesen wäre.
Die Kritik angesichts der ungarischen Entwicklungen wird allerdings verständlich, wenn man sie im Kontext bzw. vor dem Hintergrund der Tatsache sieht, dass Ungarn seit 2010 unter dem nationalkonservativen und populistischen Ministerpräsidenten Viktor Orban eine autokratische Entwicklung vollzieht, die es in der Vergangenheit nicht nur in der Frage einer europäischen Integrationspolitik zu einem Veto-Player in Sachen angemessener europäischer Lösungen hat werden lassen. Dabei strahlt die Politik des mit 2/3-Mehrheit und schon lange regierenden Ministerpräsidenten Orban auf eine ganze Gruppe ostmitteleuropäischer Länder aus, die sich in einer ähnlichen Situation wie Ungarn befinden (Slowakei, Polen, Tschechien, etc.). Ich sehe in den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 für diese Länder notwendige Bedingungen für das populistische und nationalistische Politikmuster, dem viele dieser Länder folgen. Aber diese strukturellen Bedingungen, die diese Länder natürlich viel anfälliger für Krisenprozesse machen als viele der westeuropäischen EU-Mitglieder, können nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass es inzwischen ein gehobenes Maß an Misstrauen gegenüber der Stabilität demokratischer Strukturen und Prozesse in Ungarn gibt. Mit Verfassungsänderungen, autokratischen Verwaltungsreformen, die die Autonomie von Bereichen wie Justiz und Wissenschaft in Frage stellen, hat die Orban-Regierung in ihrer langen Regierungszeit ein politisches System etabliert, dass amerikanische Verfassungsrechtler als autokratischen Legalismus bezeichnen.
Die Frage ist nicht mehr so sehr, ob Ungarn auf den Weg in eine Diktatur ist oder ob in diesem Land schon diktatorische Zustände herrschen? Von einer konsolidierten repräsentativen Demokratie lässt sich im Fall von Ungarn schon seit längerem nicht mehr guten Gewissens sprechen. Die Entfristung der parlamentarischen Kontrolle des Notstandsgesetzes, die am Montag beschlossen wurde, könnte insofern eine Zäsur für die politische Entwicklung in Ungarn bedeuten, als sie tatsächlich zum weiteren Abbau der legalistischen Fassade des autoritären Orban-Regimes beitragen könnte. Insofern gebührt dem montäglichen Schritt des ungarischen Parlaments eben doch mehr Aufmerksamkeit als den Ankündigungen und Umsetzungen von Maßnahmen zur Einschränkung der Freiheitsrechte, wie sie etwa der Vorreiter, Bundeskanzler Kurz in Österreich, täglich verkündet. Man wird die Entwicklungen also aufmerksam verfolgen müssen. Die gegenwärtigen Befürchtungen beruhen also auf den Erfahrungen aus der Vergangenheit, dass das ungarische politische System Gefahren und Möglichkeiten des weiteren Demokratieabbaus tatsächlich auch zum Abbau demokratischer Strukturen nutzt.
Wie reagiert Europa bzw. die Europäische Union auf diese Entwicklungen in Ungarn? Ich bin geneigt zu antworten: wie üblich, wobei den Handlungsspielräumen enge Grenzen gesetzt sind. Auf die Kritik und die Ankündigung von Prüfverfahren durch Brüssel hat Ungarns Justizministerin Judit Varga in der erwähnten Weise reagiert. Das Argumentationsmuster, im Fall von Ungarn und anderen kleineren und jüngeren EU-Mitgliedsstaaten werde mit zweierlei Maß in Europa gemessen, gehört zu den wirkungsvollsten diskursiven Strategien von Viktor Orban und seiner Regierung. In Ungarn selbst wird gerade darüber diskutiert, wie hoch der Anteil Ungarns am Corona-Rettungsfonds der EU sein wird, und Brüssel selbst hat auf Rückzahlungen von mehr als einer Milliarde Euro durch Ungarn angesichts der Corona-Krise und ihrer anstehenden Bewältigung verzichtet.“