Nachgefragt: "Was können wir (bis) heute aus dem Werk Luthers lernen, Herr Prof. Lindner?"

Gastbeiträge
Graffiti mit Luther auf einer Fassade

In der Rubrik „Nachgefragt“ liefert der „WortMelder“ regelmäßig Statements von Wissenschaftlern der Universität Erfurt zu aktuellen Themen. Diesmal blicken wir auf die Luther-Dekade und haben bei Andreas Lindner, außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt, nachgefragt: „Was können wir (bis) heute aus dem Werk Luthers lernen und worauf sollten wir uns im Jubiläumsjahr neben den touristischen Themen tatsächlich konzentrieren, Herr Prof. Lindner?“

(apl.) Prof. Dr. Andreas Lindner
Andreas Lindner

„Die ‚Reformationsdekade – Luther 2017‘ wird von Anfang an von einer konfliktträchtigen Konstellation begleitet. Da sind einerseits die Evangelische Kirche Deutschlands und ihre Gliedkirchen, die sich bemühen, die Bedeutung von Luthers Wirken in möglichst profilierter Weise in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext zu übersetzen. Andererseits ist da die Sicht der kirchenhistorischen Fachwissenschaftler, die davor warnen, Luther dabei allzu leicht aus dem Kontext seiner Lebenswelt, des 16. Jahrhunderts, zu lösen und für ihn mehr oder weniger anachronistische Verdienste zu reklamieren. Beide Anliegen sind von ihrem jeweiligen Standpunkt aus berechtigt und nachvollziehbar. Ein Versuch, der Frage nachzugehen: Was ist überhaupt das bleibende Erbe Luthers? – ohne in diesen Konflikt zu fallen…

Vier Aspekte sind es, die wir uns von Luther neu bewusst machen lassen können.

  1. Menschen wie Institutionen brauchen eine tragende Identität. Luther findet sie in der Konzentration auf Jesus Christus – solus christus. In einer seiner in Erfurt gehaltenen Predigten führt er aus, dass Christen wegen ihrer Verbundenheit mit und Zugehörigkeit zu Christus Christen heißen, wie Erfurter Erfurter heißen, weil sie zu Erfurt gehören. Die Predigt von Kreuz und Auferstehung des Jesus von Nazareth, in dem sich Gottes Liebe zur Menschheit letztgültig offenbart – sola scriptura -, sollte identifizierbares Zentrum aller kirchlichen Verkündigung und alles kirchlichen Handelns sein. Im öffentlichen Auftreten des deutschen Protestantismus hat man diesen Eindruck häufig nicht. Die Beliebigkeit reicht bis dahin, dass die Auferstehung Jesu schon mal von Theologen einschließlich Bischöfen geleugnet wird. In diesem Sinne müssen sich Teile der Evangelischen Kirchen durch das Reformationsjubiläum wieder auf ihre Wurzeln besinnen.
  2. Luther greift die Anthropologie Augustins auf und sieht den Menschen nach seiner Distanzierung von Gott (traditionell: Sündenfall) prinzipiell skeptisch. Der Mensch ist immer Gerechter und Sünder zugleich. Der Glaube an die Vervollkommnung des Menschen aus eigener Kraft als Credo der Aufklärung hat sich als nicht erreichbares Ideal erwiesen, sonst hätte die Aufklärung den Menschen verbessert. Lutherischer Theologie ist solches Denken fremd und die tägliche globale Nachrichtenlage gibt ihr Recht.
  3. Diese anthropologische Skepsis hat aber auch eine befreiende Seite. Niemand kann sich das Wesentliche – nach Luther: die Liebe Gottes und das eigene Heil – in seinem Leben selbst erwerben. Es kann nur als Geschenk – sola gratia – angenommen werden. Nichts definiert uns letztgültig, was wir in der modernen Leistungsgesellschaft von uns selbst fordern oder uns von anderen abfordern lassen, weil das alles vergänglich ist. Die Leistungs- und Konsumgesellschaft bietet keine erreichbare letztgültige Zufriedenheit. Ihr ‚Gott‘ ist der Bauch – alles schnell verdaut und neuer Hunger – und ihr bekanntester ‚Dämon‘ der Burn out. Der letzte Satz in Luthers Leben lautet: ‚Wir sind Bettler, das ist wahr.‘
  4. Was uns definiert, drückt Luther in seiner Kommentierung des ersten der Zehn Gebote in seinem Großen Katechismus von 1529 folgendermaßen aus: ‚Was heißt »einen Gott haben«, bzw. was ist Gott? Antwort: Ein »Gott« heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll. »Einen Gott haben« heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben; [– sola fide –] Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, und umgekehrt, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhauf (zusammen), Glaube und Gott. Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott.‘

Alle vier genannten Aspekte lassen sich auch in die Lebenswelt religionslos lebender Zeitgenossen übertragen, wobei man das alles am letzten deutlich machen kann. Jeder Mensch hängt sein Herz an etwas. Insofern hat auch der strengste Atheist noch einen ‚Gott‘, aus dem er seine Identität, sein Welt- und Menschenbild und seine Lebensziele ableitet. Was diese Wert sind und ob sie tragen, erweist nur das jeweilige eigen Leben – vornehmlich in seinen Krisen.“