Nachgefragt: "Wie ist es tatsächlich um unsere religiöse Toleranz in Thüringen bestellt?"

Gastbeiträge
Eine aufgeschlagene Bibel

Gerade erst haben Tausende Menschen in Deutschland den Kirchentag gefeiert – und mit ihm Toleranz, Verständigung und die Einheit der Gläubigen. Auch die Katholisch-Theologische Fakultät der Uni Erfurt hat sich mit ökumenischen Beiträgen am „Kirchentag auf dem Weg“ in Erfurt beteiligt. Parallel dazu weitet sich der Widerstand gegen den geplanten Moscheebau in Erfurt-Marbach aus. Erneut wurde das Grundstück der islamischen Gemeinde zum Schauplatz einer makaberen Protestaktion, bei der Unbekannte Holzspieße mit Tierkadavern auf dem Baugrundstück aufstellten. „WortMelder“ hat bei Theologen und Religionswissenschaftlern der Universität Erfurt nachgefragt: „Wie ist es tatsächlich um unsere religiöse Toleranz in Thüringen bestellt und was könnte getan werden, um ein friedliches Nebeneinander von Christen und Muslimen zu ermöglichen?“

Jörg Seiler, Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät: „Ich möchte als Theologe und als Historiker zum Angriff auf das Gelände des in Planung befindlichen Moschee-Neubaus in zweifacher Weise Stellung beziehen. Die wiederholte Verunglimpfung des Islam und unserer muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ist ein abscheulicher Angriff auf Religion allgemein. Er trifft unsere muslimischen Schwestern und Brüder in besonderer Weise. Darüber hinaus beschädigt er auch alle Menschen, denen in unserer Welt noch irgendetwas als ‚heilig‘ gilt. Menschen sollen hier in ihrer Glaubenstradition getroffen werden, Angst und Verunsicherung sind anvisiert. Das ist schlimm genug. Doch auch dies: All diese widerwärtigen Akte sind Beleidigungen Gottes – wie und als wer auch immer er in den Religionen verehrt wird. Also: Sollten religiöse Motive hinter dieser Straftat stehen (etwa im Namen eines ‚christlichen Abendlandes‘, das als argumentatives Konzept nahezu immer eine Ideologie war und leider wieder zu einer solchen wird), dann sollen sich die Täter gesagt sein lassen: ‚Sie missbrauchen den Namen Gottes, und Ihr Handeln ist religionsfeindlich.‘ Sollten keine religiösen Motive im Hintergrund stehen, möchte ich von ‚Rassismus‘ sprechen, wohl wissend, wie strittig die Definition dessen ist, was unter diesen Begriff zu fallen hat.
Als Historiker weiß ich nur zu gut, dass unsere europäische Geschichte nicht zu denken ist ohne Impulse, die aus dem islamischen Kulturraum stammen. Oftmals wird in den Diskussionen auf die jüdisch-christlichen Wurzeln unserer Kultur verwiesen. Noch wissen wir nicht, ob jene, die das Gelände beschädigt haben, diesen (vermeintlich) religiösen Antrieb für ihre Tat hatten. In welcher Weise ist der Hinweis auf ‚jüdisch-christliche Wurzeln‘ plausibel? Insofern, als zum einen unser Grundrechtssystem und das Sozialwesen entsprechende Wertorientierungen aufgenommen haben. Zum anderen, als der öffentliche Raum (einschließlich der Jahresfeiertage) von Relikten und Strukturen der christlichen, und leider nur noch in geringerem Maße der jüdischen, Kultur geprägt sind. Ich formulieren bewusst ‚aufgenommen haben‘ und ‚geprägt sind‘. Wir leben nicht (mehr) in einer ‚christlichen Kultur‘. Entsprechende Transformationsprozesse haben einen mindestens bzw. über 200-jährigen Verlauf genommen. Das bedeutet: Der gelebte christliche Glaube darf und kann in einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsordnung nicht beanspruchen, absolut normsetzend zu sein. Das Grundgesetz schließt das katholischerseits (viel zu?) lange Zeit favorisierte Modell einer Staatskirche grundsätzlich aus (GG Art. 140). Daher: Die christlichen Kirchen und ihre Theologien und jede andere Religionsgemeinschaft haben das Recht, im öffentlichen Diskurs Gehör zu finden. Sie erheben aber nicht den Anspruch, dass ihre Überzeugungen umgesetzt werden müssen. Das Argument von den ‚jüdisch-christlichen Wurzeln‘ unserer Kultur (oder gar: ‚unserer Gesellschaft‘) wird nach meinem Dafürhalten zuweilen dazu verwendet, Diskursinteressen zu verschleiern, um Ausgrenzungsmechanismen bzw. politische Interesse durchzusetzen. Dies alles bedeutet für die Frage danach, wie es um religiöse Toleranz in Thüringen bestellt ist, Folgendes: Religiöse Toleranz ist ein grundgesetzlich geschütztes Rechtsgut, zu dem sich alle in Deutschland bestehenden Religionsgemeinschaften aktiv bekennen (und bekennen müssen). Hierüber sollte es keine Diskussion geben (müssen). Um religiöse Toleranz ist es dann gut bestellt, wenn nicht nur rechtliche Grenzen beachtet werden, sondern wenn sie als schützenswertes Gut in aller Öffentlichkeit gegen jede Art der Beschädigung verteidigt wird. Hierzu müssen nicht nur Religionsgemeinschaften bereit sein, sondern auch jeder hier lebender Bürger, also auch Menschen, die Religion gegenüber indifferent sind. Denn es geht hier nicht um ‚Glauben‘, sondern um ein staatlich garantiertes Freiheitsrecht. Dass dieses Gut konkret verteidigt wird, zeigen die öffentlichen Reaktionen auf die Schändung des Areals des Moschee-Neubaus. Um religiöse Toleranz ist es dann nicht gut bestellt, wenn Religion für politische Interessen instrumentalisiert wird, und wenn eine indifferente Mehrheit zu Angriffen auf Religion schweigt.“

Eberhard Tiefensee, Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät: „Die wiederholten Versuche, den Moscheebau in Marbach zu verhindern, wecken ungute Assoziationen. Vor allem an die Reichspogromnacht. Damals kommentierte der inzwischen als Opfer der Nationalsozialisten selig gesprochene katholische Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg das Ereignis hellsichtig: ‚Was gestern war, wissen wir; was morgen ist, wissen wir nicht. Aber was heute geschehen ist, haben wir erlebt: Draußen brennt die Synagoge. Das ist auch ein Gotteshaus!‘ Damals traf es ein bestehendes, diesmal ein erst geplantes Gotteshaus. Was wird dann morgen sein? Die zweite Assoziation: Zu DDR-Zeiten wurde jeder Kirchbau aus ideologischen Gründen massiv behindert und kam eigentlich nur in Gang, wenn die Gemeinden erfindungsreich die Behörden umgingen oder wenn harte Devisen an die notorisch klamme DDR-Wirtschaft flossen (die sog. LIMEX-Bauten). Es ist schmerzlich zu sehen, dass wenige Jahrzehnte später auch Christen alles Mögliche unternehmen, um den Bau von Moscheen zu verhindern, nicht nur in Marbach, sondern z.B. auch in Leipzig-Gohlis. Ich habe solche Diskussionen erlebt und bin nach wie vor konsterniert über soviel Engstirnigkeit, wenn zum Beispiel verbotene
Kirchbauten in islamisch geprägten Staaten als Argument herangezogen oder grandiose islamistische Missionserfolge prognostiziert werden –  sehr unwahrscheinlich im forciert säkularisierten ostdeutschen Umfeld. Ich hoffe, es waren bei der kürzlichen Aktion in Marbach nicht auch solche selbsternannten Retter des ‚christlichen‘ Abendlandes dabei. Ermutigt haben sie indirekt aber wohl zu solchen Aktionen. Den muslimischen Akteuren rate ich: Lassen Sie sich nicht beirren, sondern gehen Sie konsequent weiter. Ich bin zuversichtlich, dass sich genügend Menschen finden, die Sie dabei unterstützen, auch wenn sie anders denken und glauben. Denn das gehört zum Standard unserer – auch christlich geprägten – Zivilisation.“

Benedikt Kranemann, Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät: „Diese Aktion ist leider kein Einzelfall, sondern Teil einer Reihe widerlicher Attacken, die Synagogen, Moscheen und in diesem Fall das Grundstück für die Errichtung einer Moschee betreffen. Das Ziel ist die Verletzung religiöser Gefühle. Dafür greift man etwas heraus, hier den Umgang mit Unreinheit, das andere verletzen soll, um so zu provozieren und zu diffamieren. Die Täter haben es im aktuellen Fall nicht bei Plakaten oder Spruchbändern belassen,  sondern ihre Aggression mit blutigem Fleisch in Szene gesetzt – das ist nicht nur besonders geschmacklos und widerspricht gesellschaftlichen Verhaltensformen. Es zeigt sich hierin vor allem eine Ästhetik, die schlicht für Hass und für ein beängstigendes Gewaltpotenzial steht. Man wird von dem Geschehen in Marbach nicht auf das Verhältnis der Religionen und Weltanschauungen in Thüringen rückschließen dürfen. Doch wenn Toleranz nicht nur meint, dass etwas hingenommen wird, sondern dass beispielsweise auch Achtung zum Ausdruck gebracht werden kann und soll, ist sie voraussetzungsreich. Tolerant kann nur der sein, wer Offenheit mitbringt. Toleranz setzt Information voraus. Wer tolerant ist, muss mit Gegensätzen umgehen und Ambivalenzen ertragen können. Hier muss man allerdings Fragezeichen setzen: Gibt es in der Bevölkerung genug Informationen und Wissen über die verschiedenen Religionen, die in Thüringen gelebt werden, so dass die Basis für ein tolerantes Miteinander gegeben ist? Die Vorstellung, dass Religion ‚Privatsache‘ sei und man darüber nichts wissen müsse, ist mit Blick auf Toleranz problematisch. Mehr Wissen über Religion kann einem toleranten Zusammenleben von Gläubigen unterschiedlicher Religionen wie Menschen ohne religiöses Bekenntnis dienlich sein.“

Christoph Bultmann, Professor für Bibelwissenschaften an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät: „Eine Protestaktion gegen den Bau einer Moschee ist inakzeptabel. Muslime, die sich zum Freitagsgebet in einer Moschee versammeln wollen, haben jedes Recht dazu, einen würdigen Gottesdienstraum zu bauen. In dieser Hinsicht bin ich sehr froh, dass die evangelische wie die katholische Kirche keinen Zweifel in dieser Frage aufkommen lassen. Ich bedauere dagegen sehr, dass Landtagspräsident Carius in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen vom 19. Oktober 2016 auf die Frage ‚Apropos Religion: Gehören auch Moscheen irgendwann zur Thüringer Heimat?‘ erklärt hat: ‚Sie gehören zur Religionsfreiheit. Das gilt aber meines Erachtens nicht für das Minarett, das nicht unserer Identität entspricht. Vielleicht ist das in einigen Jahrzehnten ja mal anders.‘ Nun bin auch ich kein Architekt, und im Fall eines Moscheebaus wie in  jedem anderen Fall eines öffentlich eindrucksvollen Bauwerkes wird man daran interessiert sein, dass das Gebäude, wenn möglich, eine hohe architektonische und baukünstlerische Qualität hat. Insofern kann ich nur hoffen, dass die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde, die die Moschee bauen möchte, einen guten Architekten beauftragt hat. Ich habe jedoch volles Verständnis dafür, dass das Gebäude, das als eine Moschee gebaut werden soll, mit einem Minarett als Zierelement ausgestattet sein soll. Warum denn nicht? Was soll die Aussage bedeuten, dass ein Minarett ’nicht unserer Identität‘ entspricht, wenn es der religiösen Identität von Thüringer Muslimen entspricht? Auch heute schon, und nicht erst ‚in einigen Jahrzehnten‘. Ich möchte dringend davor warnen, in Thüringen von ‚unserer Identität‘ oder ‚unserer Heimat‘ zu sprechen, ohne dabei anzuerkennen, dass der historische Wandel in Europa seit den 1950er-Jahren alle Länder Europas zur Heimat von zahlreichen Muslimen gemacht hat. Man sollte konkret an die muslimischen Familien denken, die in Europa, in Deutschland, in Thüringen leben und arbeiten – und Gottesdienst feiern. Religionsfreiheit und Religionsfrieden gehören zu den höchsten Grundwerten unserer Gesellschaft. Es steht auf einem anderen Blatt, dass  das Gefühl der Fremdheit gegenüber Muslimen erst dann überwunden werden kann, wenn Begegnungen und gemeinsame, konstruktive Initiativen selbstverständlicher werden, als sie es heute schon sind. Dafür kann der Moscheebau, wenn die Moschee auch als ein Ort der Begegnung offene Türen hat, einen wichtigen Beitrag leisten. Aus meinem Fachgebiet, der Bibelwissenschaft, möchte ich als Beispiel für ein aufgeschlossenes Interesse am Islam darauf hinweisen, dass schon Johann Gottfried Herder, der ab 1776 der Generalsuperintendent des Herzogtums Sachsen-Weimar war, in seinem Buch über die Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte zum Vergleich auch auf den Koran, Sure 41, hingewiesen hat. Im Glauben der Christen und Muslime gibt es viel Verbindendes, und so wie Christen eine verantwortungsvolle Auslegung der Bibel vertreten müssen, müssen Muslime eine verantwortungsvolle Auslegung des Korans vertreten.“

Julia Knop, Professorin für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät: „Eines unserer großen Kulturgüter ist das Grundrecht auf Religionsfreiheit (GG, Art. 4). Sie schützt den einzelnen vor staatlicher Bevormundung in Bekenntnisfragen. Sie sichert ihm die Freiheit, einen Glauben zu praktizieren oder nicht, innerhalb einer Bekenntnisgemeinschaft zu glauben oder nicht, für andere als religiöser Mensch erkennbar zu werden oder nicht. Jeder hat hierzulande überdies die Chance, sich in religiösen Fragen zu bilden, ohne dass er deshalb religiös werden müsste. Keiner muss an einen Gott glauben – aber jeder darf es. Es ist sein gutes Recht. Für Christen steht das (eigentlich) außer Frage, weil sie aus eigener Erfahrung wissen, dass der Glaube einen Menschen in seinem Inneren berührt und bindet. Anders als äußeres Verhalten oder eine Kulturtechnik kann ein religiöses Bekenntnis von außen weder erzwungen noch verhindert werden. Es ist eine Angelegenheit der Person. Wohl auch weil sie diese Erfahrung teilen, sind überdurchschnittlich viele Christen mit großem Engagement für (mehrheitlich muslimische) Flüchtlinge aktiv, bieten ihnen Hilfe und Gastfreundschaft und treten auf Kirchenleitungsebene dafür ein, dass sie in ihrer religiösen Identität hierzulande Raum und Heimat finden. Nicht dass ein Mitmensch religiös ist oder eine religiöse Gruppe zum Nachbarn wird, gefährdet den Zusammenhalt einer Stadt oder das Niveau ihrer Kultur. Gefährlich wird es, wenn Menschen Religion oder das, was sie in bestürzender Unbildung dafür halten, zu einem landsmannschaftlichen ‚Kulturgut‘ erklären und dazu missbrauchen, Angst zu säen und Gewalt zu legitimieren. Das Kreuz steht für das Gegenteil dessen, wofür selbsternannte ‚Retter des christlichen Abendlands‘ es im März auf dem Gelände der geplanten Moschee in Erfurt-Marbach aufgerichtet haben: nicht für die Überlegenheitsphantasien einer Gruppe, sondern für ein Bekenntnis, das Abgrenzung aufgrund von Herkunft, Ethnie und Geschlecht im Ansatz überwindet und herzliche Nachbarschaft mit allen Menschen guten Willens ermöglicht. Die Silhouette des Dombergs taugt weder live noch digital als Hintergrundbild fremdenfeindlicher Ressentiments, denn Kirchen sind keine Nationaldenkmale, sondern Schutzräume für Menschlichkeit, Frieden und Freiheit. Schweinekadaver, die als Provokation (oder Warnung?) dort aufgespießt (Erfurt) oder abgelegt (Leipzig) werden, wo muslimisches Gebet einen Ort finden soll, sprechen in ihrer Ignoranz und Bösartigkeit dem Hohn, was sie zu schützen vorgeben: einer freiheitlichen, kulturell, politisch und religiös gebildeten, dabei beglückend vielfältigen und vielstimmigen Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft lebt von ihrer Substanz: von Menschen, die über gesetzeskonformes Verhalten hinaus eine Haltung der Wertschätzung und des Interesses füreinander entwickeln und großzügig teilen, wovon sie selbst profitieren: eine Kultur, die Frieden und Gerechtigkeit, freie Entfaltung und Sicherheit für alle ermöglicht, die hier leben.“