Nachgefragt: „Wie schaffe ich es, mein Kind zuhause zur Schularbeit zu motivieren, Herr Dr. Dreer?“

Corona und die Folgen , Gastbeiträge
Dr. Benjamnin Dreer

Das sogenannte „Social Distancing“ hat viele Gesichter: Während den einen schon die Einsamkeit plagt, stoßen insbesondere Familien mit Kindern an neue Belastungsgrenzen. Gerade die Frage, wie schulisches Lernen und Arbeiten ohne den täglichen Gang ins Schulhaus gelingen kann, bereitet vielen Eltern Kopfzerbrechen. „WortMelder“ hat bei Dr. Benjamin Dreer, dem wissenschaftlichen Geschäftsführer der Erfurt School of Education an der Universität Erfurt, nachgefragt: „Wie schaffe ich es, mein Kind zuhause zur Schularbeit zu motivieren?“ Wie „Homeschooling“ in Zeiten von Corona gelingen kann, dafür hat der Pädagoge hier einige Tipps und Tricks zusammengestellt.

„Kaum waren die Schulschließungen bekanntgegeben, unkte es auch schon in den sozialen Netzwerken, dass Eltern nun endlich Gelegenheit hätten, den viel kritisierten Lehrerjob nach ihren persönlichen Vorstellungen und Maßgaben zu gestalten. Mit einem Augenzwinkern wurde dann auch darauf hingewiesen, dass durch die aktuelle Situation nun etwas deutlicher werden dürfte, was Lehrerinnen und Lehrer eigentlich jeden Tag leisten.

Besonders deutlich wurden mir die damit verbundenen Herausforderungen, als meine Nachbarin mir davon berichtete, dass sie nun drei Jobs zu erledigen habe: Neben ihren eigentlichen Jobs als Intensivschwester und Mutter müsse sie nun auch noch als Lehrerin tätig sein – und das ganz ohne Ausbildung. Wie viele andere habe sie jetzt aber weder die Zeit noch die Möglichkeiten, sich den Schulstoff im Voraus so zu erarbeiten, dass sie ihre Kinder etwa bei der Umstellung von Bruchgleichungen unterstützen kann. Die einzige Gleichung, die sie ohne Probleme aufstellen konnte, bezog sich auf die Motivation ihrer Söhne, sich bei frühlingshaften Temperaturen am Küchentisch mit dem schulischen Aufgabenpaket zu befassen: Motivation = 0.

Was kann man Eltern in Situationen wie diesen raten? Zuallererst möchte ich etwas empfehlen, das ich auch jeder Lehrkraft als Erstes raten würde: Kümmere dich um dein eigenes Wohlbefinden! Eltern können jetzt schnell in überfordernde Situationen geraten, weil sie zunächst die eigene Motivation, im Homeoffice produktiv zu sein, gegen das ständige Bedürfnis, online das Weltgeschehen zu beobachten, zum Kühlschrank oder zur Kaffeemaschine zu gehen oder Freunde anzurufen verteidigen müssen. Sie sorgen sich vielleicht um ältere Familienmitglieder oder den eigenen Gesundheitszustand. Und schließlich sind da die Kinder, die jetzt schulisch auf keinen Fall abfallen dürfen und auch ansonsten irgendwie beschäftigt werden wollen.

Die Positive Psychologie schlägt als einen Ansatz im Umgang mit solchen Herausforderungen das Selbstmitgefühl vor. Hier geht es darum, sich wiederholt folgender Tatsachen zu vergewissern:

  • Das hier ist eine Ausnahmesituation: Das ist jetzt sehr schwer für mich!
  • Ich bin damit aber nicht allein, wie uns geht es jetzt vielen Familien auf der ganzen Welt!
  • Ich kann die Situation gelassen annehmen!

Außerdem kann es sehr hilfreich sein, die Situation aus Kinderaugen zu betrachten. Der Umstand, dass im Frühjahr 2020 keiner zur Schule gehen konnte und stattdessen ‚Schule zuhause‘ angesagt war, hat sehr gute Chancen sich im kollektiven Gedächtnis dieser Jugendgenerationen festzusetzen. Der familiäre Umgang damit bestimmt, ob unsere Kinder diese Phase als überwiegend positiv oder negativ abspeichern werden (Sie erzählen ihren Kindern vielleicht später: ‚Als ich so alt war wie du, waren die Schulen geschlossen. Für mich war das großartig, weil…‘). Es kann ein guter Antrieb sein, sich das als Eltern immer wieder vor Augen zu führen.

Wenn es um die Motivation zur Bearbeitung konkreter Schulaufgaben geht, können uns lernpsychologische Einsichten gute Ratgeber sein. Aus Jahrzehnten der Motivationsforschung wissen wir, dass Menschen sich dann gerne Dingen zuwenden, sich vertieft mit ihnen beschäftigen und darüber sogar die Zeit vergessen können, wenn folgende Lernbedürfnisse erfüllt sind:

1. Autonomie

Lassen Sie Ihre Kinder mitentscheiden, wann, wie und wo sie sich mit den schulischen Aufgabenpaketen befassen, wie die Aufträge aufgeteilt und wann Pausen für Bewegung, Spielen und Rausgehen eingeplant werden sollen. Ermöglichen Sie alternative Formate, etwa indem die Lösung einer Rechenaufgabe in einem Bewegungsspiel präsentiert wird. Wichtig erscheint dabei, dass Sie nicht zu sehr die Rolle der Lehrperson übernehmen. Im Internet gibt es zahllose gut gemachte Erklärvideos zu den meisten Themen des Lehrplans. Lassen Sie die Kinder auch hier mitentscheiden und das eigene Tempo wählen und verstehen sich eher als Begleiter*innen dieser Prozesse.

2. Kompetenzerleben

Unterstützen Sie Ihre Kinder darin, mit den Aufgaben zu beginnen, die schnelle Erfolge versprechen und sich in einem Tempo zu steigern, das dem Fähigkeitsniveau des jeweiligen Kindes angemessen erscheint. Sachen erfolgreich fertigzubekommen, spendet wichtige Erfolgserlebnisse und positive Emotionen (auch für Eltern). Organisieren Sie eine Arbeitsumgebung, die Konzentration ermöglicht, und bauen Sie kleine Belohnpausen ein, wenn Ihr Kind Aufgaben eigenständig bearbeitet. Nach drei Aufgaben wartet z.B. eine gemeinsame Obstpause. Feedback ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Sprechen Sie mit der Lehrperson, auf welche Art Ihr Kind Rückmeldung zu den Aufgaben erhalten wird. Eine regelmäßige und wertschätzende Bestandsaufnahme durch eine Person außerhalb des eigenen Haushalts kann zusätzlich motivational förderlich sein.

3. Soziale Eingebundenheit

Die Aufgaben, die für die Schule zu bearbeiten sind, dürfen nicht allein Sache des Kindes sein. Thematisieren Sie den Umgang damit und stellen sie gemeinsam Regeln auf – das kann auch für die Arbeit der Erwachsenen im Homeoffice sehr hilfreich sein. Wenn Sie Ihren Kindern erklären, dass auch Sie Aufgaben von zuhause aus erledigen müssen, wird der Eindruck vermieden, dass die Kinder mit Schulaufgaben einfach nur beschäftigt werden sollen. Eine Möglichkeit wäre es, am Morgen die Aufgaben von allen Familienmitgliedern auf einer gemeinsamen To-Do-Liste zu sammeln und die erledigten Aufgaben über den Tag wegzustreichen. Vielleicht ist auch die Aussicht darauf, Arbeitsergebnisse mit der Lehrperson und/oder den Klassenkameraden (digital) vergleichen oder teilen zu können, für Ihr Kind motivierend. Fragen Sie bei Eltern von Mitschüler*innen und der Lehrperson nach. Ermöglichen Sie Ihren Kindern, zu den Mitschüler*innen Kontakt zu halten und sich so über die Aufgaben auszutauschen, gemeinsam zu lachen, zu schimpfen und zu vergleichen.

Weil Schulen geschlossen sind, ist es jetzt wichtig, dass Schülerinnen und Schüler Anregungen bekommen, schon erarbeitetes Wissen zu sichern und sich weiterzuentwickeln. Weil Schulen geschlossen sind, bieten sich jetzt aber auch Gelegenheiten, dass Kinder sich auch den Themen zuwenden können, die sie immer schon interessiert haben, z.B. eine Webseite gestalten, für einen Blog schreiben, mit Mama oder Papa die Natur im angrenzenden Park erkunden, Pferderassen lernen, verrückte Lego-Welten bauen, die Kartensammlungen neu sortieren oder den täglichen Konflikt um die Schulaufgaben in einem witzigen Theaterstück zu verarbeiten. All das bietet neben den Schulaufgaben Anlässe zum Lernen und zur Entwicklung sowie positive Erlebnisse in der Familie.“