Nachgefragt: "Welche Konsequenzen hatte die Wannsee-Konferenz aus völkerrechtlicher Sicht, Prof. Blanke?"

Gastbeiträge
Berliner Villa Am Großen Wannsee 56-58

Heute vor 80 Jahren trafen sich hochrangige Minister und Funktionäre des Dritten Reiches am Wannsee, um die Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas zu organisieren und das weitere Vorgehen bei der „Säuberung“ des Kontinents zu planen und sicherzustellen. Was da bereits begonnen hatte und nun noch systematischer erfolgte, war das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte: der Holocaust. Bis dahin existierte der Begriff „Völkermord“ bzw. „Genozid“ gar nicht – und damit war er auch kein völkerrechtlicher Tatbestand. Die Aufarbeitung des Holocausts nach dem Zweiten Weltkrieg änderte das. "WortMelder" hat bei Hermann-Josef Blanke, Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europäische Integration an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt, nachgefragt: "Welche Konsequenzen hatte die Wannsee-Konferenz aus völkerrechtlicher Sicht, Professor Blanke?"

Für den 20. Januar 1942 lud der von Reichsmarschall Göring mit der „Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“ (S. 2 des Besprechungsprotokolls) beauftragte SS-Obergruppenführer Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), 14 Staatssekretäre verschiedener Ministerien bzw. hohe Partei- und SS-Funktionäre, darunter Adolf Eichmann, zuständig für „Judenangelegenheiten“ im RSHA, sowie Roland Freisler (Reichsjustizministerium), zu einer Besprechung in die Berliner Villa „Am Großen Wannsee 56-58“ ein. Ziel war es, bei den vertretenen Institutionen „Klarheit in grundsätzlichen Fragen“ der „organisatorischen, sachlichen und materiellen Belange“ (S. 2 des Prot.) der „Evakuierung der Juden nach dem Osten“ zu „schaffen“.

Diese „Evakuierung“ sollte als ursprünglich „weitere Lösungsmöglichkeit“ an die Stelle der „Auswanderung“ treten (S. 5 des Prot.) und fortan europaweit koordiniert und systematisch umgesetzt werden. Begriffe wie Tötung, Hinrichtungen oder Konzentrationslager (KZ) erscheinen nicht im Besprechungsprotokoll, doch formuliert es als „Aufgabenziel [der anfänglich forcierten Auswanderung], auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern“ (S. 3 des Prot.). Die sie faktisch ablösende Maßnahme der „Evakuierung“ sah u.a. vor, sie „zunächst“ in „Ghettos zu verbringen“ (S. 8, 13 des Prot.). Insoweit werden in nüchterner Verwaltungssprache „rund 11 Millionen Juden“ als „in Betracht kommend“ bezeichnet (S. 5 des Prot.) und hinsichtlich einzelner europäischer Länder beziffert (S. 6 des Prot.). Allein hinsichtlich des „Generalgouvernements“, also der Gebiete der früheren, 1939 vom Deutschen Reich militärisch besetzten Zweiten Polnischen Republik, wird die Zahl 2.284.000 genannt (S. 6 des Prot.). „Die Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage [sollte] ohne Rücksicht auf geographische Grenzen zentral beim Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“ liegen (S. 3 des Prot.), also bei Heinrich Himmler. Eichmann war zuständig für die zentrale Organisation der Deportationen.

Das von Eichmann verfasste und als „Geheime Reichssache“ eingestufte Besprechungsprotokoll gilt als eines der wichtigsten Dokumente der NS-Geschichte. Noch bevor es im „Wilhelmstraßen-Prozess“ gegen Ernst von Weizsäcker und andere hochrangige NS-Beamte im elften Nürnberger Nachfolgeprozess dem Internationalen Militärgerichtshof vorgelegt wurde, zitierte der stellvertretende Chefankläger Robert Kempner erstmals im bereits Anfang Juli 1947 eingeleiteten achten Verfahren gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS aus dem Dokument. Die frühe Prozessberichterstattung schuf die Grundlagen für die bis heute verbreitete Fehldeutung, wonach im Januar 1942 am Wannsee der Judenmord beschlossen worden sei. Vergasungen und Massaker waren indes bereits seit 1941 in vollem Gang.

Dies war der Beginn einer neuen Ära in der Entwicklung des Völkerstrafrechts.

Lange vor dem Protokollfund im März 1947 hatten die vier Alliierten im Londoner Statut vom 8. August 1945 Rechtsgrundlagen und Prozessordnung des Internationalen Militärgerichtshofs (IMG) geschaffen. Auf seiner Grundlage wurden Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrechen der europäischen Achsenmächte eingeleitet (20. November 1945 bis 1. Oktober 1946).  Dies war der Beginn einer neuen Ära in der Entwicklung des Völkerstrafrechts. Das Völkerrecht erlangte in den Folgejahren eine strafrechtliche Bedeutung. In der „Nürnberger Charta“, einem Anhang zum Londoner Statut, normierten die Siegermächte die drei Kategorien von Verbrechen, die der Gerichtsbarkeit des IMG unterliegen sollten (Art. 6). Neben den „Verbrechen gegen den Frieden“ (Angriffskrieg) und den „Kriegsverbrechen“ gehörten hierzu die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „namely, murder, extermination, enslavement, deportation, and other inhumane acts committed against any civilian population, before or during the war; or persecutions on political, racial or religious grounds in execution of or in connection with any crime within the jurisdiction of the Tribunal.”

Nach Art. 7 der Nürnberger Charta ist die amtliche Eigenschaft der Angeklagten, selbst von Staatsoberhäuptern, für ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit unbeachtlich und führt auch nicht zu einer Strafminderung. Gemäß Art. 8 der Charta kann sich zudem kein Angeklagter seiner strafrechtlichen Verantwortung dadurch entziehen, dass er sich drauf beruft, auf Befehl eines Vorgesetzten gehandelt zu haben. Zusammen mit der nunmehr geltenden Definition der „schwersten Verbrechen” bilden die beiden letztgenannten Normen die Ecksteine der heutigen internationalen Strafgerichtsbarkeit, aber auch der staatlichen Gerichtsbarkeiten bei der Verfolgung und Bestrafung von „Straftaten gegen das Völkerrecht“. Beleg hierfür bilden das Verfahren gegen Ratko Mladić sowie die laufende Anklage von Omar al-Baschir vor dem Internationalen Strafgerichtshof sowie die Verurteilung des Irakers Taha Al-J. durch das OLG Frankfurt im November 2021. Die Verurteilungen im „Auschwitz-Prozess“ (1963 bis 1965) erfolgten hingegen unter Anwendung des traditionellen deutschen Strafrechts.

Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (crimes against humanity), der in der Nürnberger Charta noch konturenlos blieb, sollte auch den millionenfachen Mord an den europäischen Juden erfassen. Insbesondere den Holocaust belegten die Ankläger nachdrücklich. Filmaufnahmen aus den Konzentrationslagern dokumentierten die nationalsozialistischen Verbrechen. Zwölf der 24 Angeklagten, die allesamt zu den obersten Rängen Hitler-Deutschlands gehört hatten, wurden im Hauptkriegsverbrecherprozess zum Tode verurteilt. Sieben erhielten hingegen Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslang, drei Angeklagte wurden freigesprochen.

Nürnberger Prozesse. Bundesarchiv, Bild 183-H27798 / UnknownUnknown / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

Der Verbrechenstatbestand des Genozids wurde erst in der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords” vom 9. Dezember 1948 definiert. Maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung dieser ersten Konvention zum Schutz von Menschenrechten war der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin. Der Kodifikationsprozess kam zustande, weil die UN-Generalversammlung in der Resolution 96 (I) vom 11. Dezember 1946 den Genozid als „denial of the right of existence of entire human groups“ geächtet und auf deren Bestrafung als „a matter of international concern“ gedrängt hatte. Völkermord bezeichnet, gleichviel ob in Friedens- oder in Kriegszeiten begangen, insbesondere die Tötung von Mitgliedern einer „nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe”. Wie bereits nach dem Nürnberg Statut sind auch nach dieser Konvention Täter oder Gehilfen zu bestrafen, „gleichviel ob sie private Individuen, öffentliche Beamte oder regierende Personen sind”. Eine Berufung auf „Immunität” soll damit ausgeschlossen werden. Nicht nur („kleine”) direkte Täter vor Ort, sondern die politischen Entscheider in den Zentren der Macht sollen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.

Nicht die Logik des militärischen Sieges, sondern das Recht hat in Nürnberg und Tokio angesichts eines Zivilisationsbruchs triumphiert.

Nur einen Tag nach der Annahme der Völkermord-Konvention verkündete die UN-Vollversammlung die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte”, die das „Recht auf Leben” (Art. 3) und die „Gleichheit an Würde” (Art. 1) als oberste Rechtswerte beinhaltet. Sie enthält aber auch das schon 1946 völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Gebot, dass „[n]iemand […] wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden [darf], die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.“ Anders als Kriegsverbrechen (Art. 228 des Versailler Friedensvertrags) waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Planung eines Angriffskrieges oder gar ein Begriff wie „Völkermord“ zum Zeitpunkt ihrer Begehung in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht Bestandteil des Völkerrechts. Dem Vorwurf, es habe sich bei den Prozessen vor den Internationalen Militärgerichten um „Siegerjustiz” gehandelt, traten die damals (1948) 58 UN-Mitgliedstaaten frühzeitig auch dadurch entgegen, dass sie bereits in der Resolution 95 (I) vom 11. Dezember 1946 die Charta des IMG sowie seine Rechtsprechung als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten. Nicht die Logik des militärischen Sieges, sondern das Recht hat in Nürnberg und Tokio angesichts eines Zivilisationsbruchs triumphiert. Es gilt auch für Sieger.

Anlässlich seiner Kodifikation waren die Nürnberger Grundsätze dann auch für das 2002 in Kraft getretene „Römische Statut” bestimmend. Die in diesem internationalen Vertrag der subsidiären Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (Den Haag) unterworfenen vier Kernverbrechen umfassen auch den Völkermord (Art. 6). Die (derzeit) 123 Staaten, die dieses Gericht tragen, haben sich seiner Gerichtsbarkeit durch Beitritt zum Gründungsvertrag unterworfen. Im September 2015 hat die UN-Generalversammlung beschlossen, den 9. Dezember zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Verbrechens des Völkermordes und ihrer Würde sowie der Verhütung dieses Verbrechens zu erklären. Es bleibt eine sehr reale Bedrohung. Die internationale Gemeinschaft hat es in Ruanda (1994) und Srebenica (1995) versäumt, gemeinschaftlich, rasch und entschlossen zu handeln, um die damit verbundenen Gräueltaten zu verhüten.

Kontakt:

Prof. Dr. Hermann-Josef Blanke
Früherer Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europäische Integration
(Staatswissenschaftliche Fakultät)
Lehrgebäude 1 / Raum 0208