Wie Kinder Entscheidungen treffen

Einblicke
zwei Kinder, die überlegen

Tilmann Betsch ist Professor für Sozial-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt im Bereich von Entscheiden, Urteilen und Einstellungen. In unserem Interview spricht er über die Entscheidungsfindung von Kindern.

 

Prof. Dr. Tilmann Betsch
Prof. Dr. Tilmann Betsch

Herr Professor Betsch, sind Kinder in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen oder folgen sie den Vorgaben ihrer Eltern?
Wenn man selber Elternteil ist, dann weiß man, dass man Kinder nicht immer so beeinflussen kann wie man es gerne hätte. Sie machen sehr oft genau das, was sie wollen. Wir finden in unseren Untersuchungen, dass Kinder durchaus schon sehr früh informierte Entscheidungen treffen können, das heißt, recht viele Informationen in der Umwelt berücksichtigen und in ihrem Entscheidungsprozess integrieren. Was uns dabei am meisten interessiert ist, wie Kinder mit Wahrscheinlichkeiten umgehen. Unsere Welt ist probabilistisch, das heißt, wir können die Ausgänge unserer Entscheidungen meist nicht mit Sicherheit vorhersagen. Trotzdem treffen Menschen Entscheidungen. Sie wetten dabei auf zukünftige Ereignisse – egal ob es sich dabei um einen Aktienkauf oder das Ja-Wort vor dem Traualtar handelt. Wir wollen wissen, wie Kinder probabilistische Informationen bei ihren Entscheidungen nutzen und ab welchem Alter sie dies tun. Dabei haben wir herausgefunden, dass schon Kinder im Alter von fünf bis sechs Jahren in der Lage sind, solche Informationen zu berücksichtigen. Sie haben aber noch kein Verständnis für die besondere Bedeutung der Wahrscheinlichkeit. So fließen objektiv irrelevante Informationen genauso in ihre Entscheidungen ein, wie probabilistische. Unsere Untersuchungen mit Schulkindern deuten darauf hin, dass ab einem Alter von etwa zehn Jahren Kinder beginnen, Wahrscheinlichkeiten bewusst zu nutzen und dafür irrelevante Information zu ignorieren.

Was hat größeren Einfluss auf die Entscheidung: Erfahrung oder Intuition?
Wir nehmen an, dass sich die Intuition hauptsächlich aus der Erfahrung speist. In unseren Untersuchungen zeigt sich, dass Kinder sehr gut in der Lage sind, am Feedback zu lernen. In wiederholten Entscheidungen entwickeln Kinder ein Gefühl dafür, wie gut oder schlecht bestimmte Handlungsalternativen sind. Darüber hinaus können sie auch lernen, wie wahrscheinlich bestimmte Konsequenzen von Entscheidungen sind. Wir geben unseren Kindern dabei „Ratgeber“ an die Hand, die sie bei Entscheidungen befragen können. Diese „Ratgeber“ unterscheiden sich, mit welcher Wahrscheinlichkeit ihre Vorhersagen zutreffen. Schon Kindergartenkinder lernen, gute von schlechten Ratgebern zu unterscheiden und können diese Erfahrungen intuitiv in ihren Entscheidungen nutzen.

Sind Kinder die besseren „Bauchentscheider“?
Ich glaube, bei Entscheidungen ist es wichtig, nicht in dieser Unterscheidung, entweder Kopf- oder Bauchentscheidung, zu denken. Beide Prozesse, sowohl das bewusste Nachdenken als auch das Gefühl, spielen immer eine Rolle und kommen zusammen. Nach unserem theoretischen Ansatz übernehmen beide Prozessarten unterschiedliche Aufgaben. Die Intuition ist dafür verantwortlich, dass man sehr viele Informationen, ohne darüber nachdenken zu müssen, integrieren kann, so dass man zu einem Urteil kommt oder zu einem Gefühl „Das ist gut oder das ist schlecht“. Das bewusste Nachdenken ist allerdings ganz wichtig, wenn es darum geht, die Informationen zu sammeln und auch bestimmte Informationen als wichtiger einzuschätzen als andere. Und genau das können Kindergartenkinder noch nicht. Sie können zwar Informationen sehr gut intuitiv integrieren, vor allem, wenn sie sie vorher gelernt haben. Aber sie können ihren Entscheidungsprozess gegen irrelevante Informationen nicht abschirmen. Wenn der „Ratgeber“ beispielsweise in der Vergangenheit oft schlechte Vorhersagen gemacht hat, aber ihr „Freund“ ist, dann lassen sie sich von dieser Information „Freund“ in ihren Entscheidungen leiten, obwohl das eigentlich in dem Fall falsch ist.

Klar, dem Freund vertraut man. Nach dem Motto: Wenn er etwas sagt, wird es schon stimmen…
Ja, in gewisser Weise. Das ist darauf zurückzuführen, wie wir in der Welt miteinander umgehen. Wir haben auch oft Verpflichtungen, dass wir anderen folgen. Interessant ist, dass unsere älteren Kinder das nicht tun. Sie können diese Information sehr klar zurückweisen, weil sie erkennen, dass die Vorhersagen des „Freundes“ in unseren Untersuchungen nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eintreten. Das deutet auf einen bewussten Prozess und auf Einsicht hin. Sie sehen „Ok, das ist zwar mein Freund, aber der macht keine guten Vorhersagen. Ich frage lieber jemand anderen, der sich als besserer Ratgeber erwiesen hat“. Solche Prozesse der bewussten Steuerung der Informationssuche sind nötig, damit das intuitive System einen guten Input zur Informationsverarbeitung hat. In unseren Untersuchungen ist das Wissen, das aus der Erfahrung stammt, nicht anwendbar. Intuitiv würden wir aber auf unsere Erfahrung hören. Die Leistung bewusster Prozesse besteht in unserer Untersuchungsanordnung darin, den Einfluss des Vorwissens als irrelevant zu erkennen und zu unterdrücken. Geschieht dies nicht, kann die Intuition immer nur so gut oder so schlecht sein wie unsere Erfahrungsgrundlage bisher war.

Spielen auch sozioökonomische Faktoren bei der Entscheidungskompetenz von Kindern eine Rolle?
Wir haben Untersuchungen in sehr vielen Erfurter Kindergärten und einer Reihe von Schulen gemacht. Wir fanden keine Unterschiede in der Entscheidungskompetenz nach Einzugsgebiet der Einrichtung. Was wir natürlich beobachten ist, dass bestimmte Kinder weniger lange die Aufmerksamkeit erhalten und sich konzentrieren können. Erhalt und Kontrolle der Aufmerksamkeit ist wichtig, um gute Entscheidungen zu treffen. Diese Kompetenz ist sehr stark altersabhängig und auch zum Teil abhängig vom häuslichen Erfahrungshintergrund. Aber da kann man nicht sagen, dass Kinder, die aus sozioökonomisch schwachen Familien kommen, das grundsätzlich schlechter können als Kinder, die aus besser gestellten Familien kommen. Aber es wird sicherlich einen Zusammenhang geben, wie stark das Kind beschäftigt wird und was es in seiner Freizeit macht. Wenn es dort schon lernt, sich zu konzentrieren, zum Beispiel weil es einen bestimmten Sport macht, oder ein Instrument lernt, wird es sich wohl auch bei unseren Entscheidungsaufgaben eher die Aufmerksamkeit erhalten können.

Stichwort „freier Wille“. Gibt es den überhaupt? Denken wir mal an Politiker, können die wirklich frei entscheiden oder sind sie nicht am Ende doch abhängig von den ihn zur Verfügung stehenden Informationen und den Erwartungen ihres Umfeldes?
Man kann dazu sehr unterschiedliche Positionen haben. Dadurch, dass wir aus naturwissenschaftlicher Perspektive an Entscheidungsprozesse herangehen, würden wir sagen, da ist ein Determinismus, da ist eine Bedingtheit. Das heißt: Unsere Entscheidungen sind durch das bestimmt, was wir gerade an Informationen zur Verfügung haben. Sie können eine gute Informationsstichprobe haben oder eine schlechte. Das kann von ganz vielen Faktoren abhängen, beispielsweise von guten oder schlechten Beratern oder von der Motivation, sich damit richtig zu beschäftigen. Auch bei besten Absichten werden Entscheidungen immer zu einem gewissen Anteil das Produkt der Situation sein, das gilt für uns alle und natürlich auch für politische Entscheidungen.