Nachgefragt: "Austrittszahlen explodieren, kirchliches Leben erodiert – was bedeuten die aktuellen Entwicklungen für die katholische Kirche, Frau Prof. Knop?"

Gastbeiträge
Dunkle Wolken über einem Kirchturm

Das jüngste Gutachten zu sexuellem Missbrauch durch Kleriker im Bereich der Erzdiözese München und Freising[1] dokumentiert erneut ein erschreckendes System von Duldung und Vertuschung. Im Fokus steht erstmals auch ein (ehemaliger) Papst: In vier Fällen wird Papst emeritus Benedikt XVI. in seiner Funktion als Erzbischof von München und Freising (1977–1982) Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsfällen vorgeworfen. Ratzinger selbst bestreitet die Vorwürfe und ist auf 82 Seiten um Rechtfertigung seines Handelns bemüht. Eine offenkundig fehlerhafte Aussage hat er mittlerweile eingeräumt. Kirchenvertreter bekunden landauf, landab, in ähnlichen Formulierungen Bedauern und Erschütterung. Derweil explodieren die Austrittszahlen, kirchliches Leben erodiert. „WortMelder“ hat bei Julia Knop, Professorin für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, nachgefragt: „Was bedeutet das für die katholische Kirche heute?“

Prof. Dr. Julia Knop

2018 war die MHG-Studie[2] zu sexualisierter Gewalt durch Kleriker in der katholischen Kirche in Deutschland erschienen. Sie zeigte Ausmaß und Hintergründe von Gewalt und Vertuschung durch (leitende) Kleriker. Seither hat eine Reihe von katholischen Bistümern weitere Studien in Auftrag gegeben. Am 20.1.2022 nun hat die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) ihr Gutachten zu sexuellem Missbrauch durch Kleriker im Erzbistum München und Freising im Zeitraum von 1945 bis 2019 vorgestellt.[3] Es ist deshalb besonders brisant, weil unter denen, die namentlich benannt und deren Verhalten ausgewertet worden war, noch lebende prominente Persönlichkeiten sind: Joseph Ratzinger (Erzbischof von 1977 bis 1982), Friedrich Wetter (Erzbischof von 1982 bis 2008) und Reinhard Marx (Erzbischof seit 2008). Dieses Gutachten ist kein Gefälligkeitsgutachten. Es beschränkt sich auch nicht, wie es im Gutachten der Kanzlei Gercke Wollschläger für das Erzbistum Köln der Fall war, auf „Pflichtwidrigkeiten“ und administrative Konsequenzen. In München wurden nicht nur Akten ausgewertet, sondern auch Gespräche geführt und eigene Recherchen vorgenommen. Die erhobenen Fakten werden rechtlich, kirchenrechtlich und moralisch eingeordnet und bewertet, konkrete Maßnahmen werden benannt. Insgesamt ist ein Konvolut von rund 2.000 Seiten zustande gekommen. Darin enthalten sind auch Stellungnahmen leitender Verantwortlicher, die mit den Ergebnissen konfrontiert worden waren.

Neues bringt das Münchner Gutachten v. a. mit Blick auf die konkrete Situation vor Ort. Die Anwaltschaft arbeitet heraus, was wann wem bekannt war und wer wann wie reagiert oder nicht reagiert hat. Die Verhaltensmuster, die den kirchlichen Umgang mit Missbrauchsfällen prägen, sind jedoch überhaupt nicht neu, vielmehr landauf landab dieselben: Priester, die „auffällig“ geworden sind, denen „irgendwas mit Kindern“ zur Last gelegt wurde, wurden von einer Gemeinde in die nächste oder ein anderes Bistum versetzt, wo sie weitere Taten begehen konnten. Warum ein Priester die Stelle wechselte und sich auswärts einer therapeutischen Behandlung unterzog, wieso man am neuen Ort ein Auge auf ihn haben oder er „nur an Mädchenschulen“ Religionsunterricht erteilen sollte, wurde den Gemeinden und oft auch den direkten Vorgesetzten verschwiegen. Auflagen oder Einschränkungen im neuen Tätigkeitsfeld wurden kaum aktenkundig. Kollegen und Personalverantwortliche erwiesen sich im Ergebnis geradezu als Komplizen. Opfer wurden ignoriert oder unter Druck gesetzt zu schweigen. Weil die Gemeinden völlig darüber im Unklaren gelassen wurden, warum ein neuer Pfarrer kam oder ein beliebter Pfarrer ging, waren tiefgreifende, nicht selten Jahrzehnte währende Spaltungen oft die Folge.

Sexualisierte Gewalt ist kein katholisches Spezifikum. Aber es gibt spezifisch katholische Hintergründe und Gefährdungsmomente. Sie müssen, zumal in einer Institution, die dem Evangelium verpflichtet ist, konsequent bearbeitet und effektiv überwunden werden. Dazu werden seit 2019 beim Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland[4] erhebliche Reformanstrengungen unternommen. Inwieweit sie eine echte Wende, gar einen Systemwechsel initiieren können, bleibt abzuwarten. Die Beharrungskräfte im System sind immens. Bisher erfolgt der Reformprozess, dessen dritte Vollversammlung Anfang Februar stattfinden wird, unter Beteiligung und nach Maßgabe der Bischöfe, die selbst leitende Posten im System haben.

[Es] zeigt sich eine verbreitete Haltung, den Schutz des Systems vor den Schutz von Kindern, Jugendlichen und (Ordens-)Frauen zu stellen: Church first! Es zeigt sich außerdem eine kirchliche Unkultur mangelnden Respekts vor der Würde des anderen.

Drei typisch katholische Faktoren, die Missbrauch und Vertuschung begünstigen, seien in Erinnerung gerufen: die hierarchische Organisation von Macht, Klerikalismus und fehlender Respekt vor der Würde des Einzelnen.

1. Eine hierarchische Kirchenorganisation, mangelnde Kontrolle, Transparenz und Partizipation ermöglich(t)en und förder(t)en es geradezu, dass sich Bischöfe über Recht und Moral hinwegsetz(t)en, um Priester zu schützen. Hinzu kamen mangelnde Rechtskenntnis und willkürliche oder fehlerhafte Rechtsanwendung der leitenden Verantwortlichen. Angesichts der Machtfülle, mit der ein Bischof ausgestattet ist, sind solche Defizite folgenreich. Da ist es einigermaßen absurd, ja peinlich, wenn nun Bischöfe, Generalvikare und Offiziale, also Leitung, Geschäftsführung und Rechtsabteilung eines Bistums, in München und andernorts einander die Verantwortung zuschieben, eigene Zuständigkeit abweisen oder das Machtmonopol ihres Amtes kleinreden.

2. Außerdem spielt „Klerikalismus“ in der katholischen Kirche eine unheilvolle Rolle. Klerikalismus ist kein individuelles Laster, sondern ein systemisches Problem. In Fortführung vormodernen Standesdenkens werden Kleriker bis heute in Lehre und Pastoral, Liturgie und Recht, herausgestellt und den „Laien“ vorgeordnet. Dazu ist in den vergangenen Jahren auch an der Universität Erfurt intensiv gearbeitet worden.[5] Als „Laien“ gelten dabei alle, die nicht geweiht wurden, also auch die theologisch voll qualifizierten Absolvent*innen unserer Fakultät, die keine Priester werden. Männerbündische Gepflogenheiten unter Klerikern sind insofern kein Zufall, sondern im Kirchensystem angelegt. Das WSW-Gutachten attestiert den Kirchenverwaltungen sehr klar „zweierlei Maß“ in der Wahrnehmung und Ahndung von Gewalt, je nachdem, ob sie von Klerikern oder „Laien“-Mitarbeitern begangen wurde. Die Selbstverständlichkeit, mit der unter „Mitbrüdern im priesterlichen/bischöflichen Dienst“ Gewalttaten bagatellisiert und vertuscht wurden, um Täter in der klerikalen Solidargemeinschaft zu halten, lässt erschrecken. Die andere Seite dieser Medaille, fehlende Empathie und Desinteresse der Kirchenleitungen gegenüber den von klerikaler Gewalt Betroffenen, bestürzt mit jeder Fallstudie, jedem Gutachten wieder.

3. Auf die jüngere Vergangenheit hin befragt, sagen nun viele Kirchenverantwortliche, dass sie die von Gewalt Betroffenen „nicht im Blick gehabt“ hätten. Darin zeigt sich eine verbreitete Haltung, den Schutz des Systems vor den Schutz von Kindern,[6] Jugendlichen und (Ordens-)Frauen zu stellen: Church first! Es zeigt sich außerdem eine kirchliche Unkultur mangelnden Respekts vor der Würde des anderen. Das kommt in wichtigen Aktionen wie jüngst #outinchurch, aber auch in den aktuellen Reformdebatten um die kirchliche Sexuallehre, insbesondere bzgl. queerer Sexualität, endlich zur Sprache[7]: Es gibt erhebliche kirchliche Defizite, was die Achtung und den unbedingten Schutz der körperlichen und seelischen Integrität eines Menschen betrifft. Sie zeigen sich z.B. in der Codierung von Straftatbeständen: Nicht die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung eines anderen gilt als strafwürdig, sondern der Verstoß gegen das sechste Gebot, das eigentlich nur Ehebruch thematisiert, aber als Container-Begriff für sexuelle Vergehen aller Art fungiert, darunter eben auch Verstöße gegen den Zölibat. Die Perspektive der Leidtragenden bleibt dabei völlig unterbelichtet.[8]

... eine Kirchenraison, in der bis in die Spitze der Kirche hinein [...] das Renommée der Kirche, der Bischöfe und des Papstes immer noch wichtiger genommen wird als Gerechtigkeit für Betroffene.

Mangelndes Problembewusstsein reklamieren nun auch Kirchenverantwortliche, die auf die Bewertungen des WSW-Gutachtens reagieren. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zieht sich in seiner 82-seitigen Antwort auf die rechtliche Ebene zurück. Er habe sich auf die Verwaltung verlassen und selbst keine umfassende Kenntnis der Sach- oder Gesetzeslage gehabt. Einschlägige Dokumente habe er nicht gekannt und an einer entscheidenden Sitzung gar nicht teilgenommen. Ein Protokoll dieser Sitzung beweist das Gegenteil. Das hat er inzwischen eingeräumt, aber zu einem „redaktionellen Versehen“ (seiner Berater) bagatellisiert. Schwerer dürfte wiegen, dass er v. a. am Nachweis der Rechtmäßigkeit, wenigstens nicht Pflichtwidrigkeit, seines Verhaltens während der kurzen Zeit seiner Tätigkeit in München interessiert ist. Die religiöse, moralische und menschliche Ebene bleibt außen vor. In seiner Stellungnahme kommt er zu absurden Verrenkungen in der Darstellung und Bewertung der Fakten: Im Falle eines Priesters, der vor Mädchen im Grundschulalter masturbiert hatte, gibt er zu bedenken, dass dieser Priester formal gesehen „als Exhibitionist und nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn aufgefallen sei“, weil „es nicht zu Berührungen der Opfer gekommen sei, und dass er bei seinen Handlungen als ‚anonymer Privatmann‘ gehandelt habe und nicht als Priester erkennbar gewesen sei und der Priester sich in der Seelsorge selbst und im Religionsunterricht nicht das Mindeste habe zuschulden kommen lassen“ (WSW 703f).

Ratzingers Antwort taugt nicht als Rechtfertigung seines damaligen Verhaltens als Erzbischof, das sich kaum vom Verhalten seiner Kollegen unterschieden hat. Sie ist allerdings aufschlussreich, insofern sie das Selbstverständnis des ehemals höchsten kirchlichen Würdenträgers illustriert. Ratzinger sah sich selbst stets als Hüter und „Mitarbeiter der Wahrheit“ (so sein Wappenspruch). Er war nicht zimperlich, wenn es darum ging, vermeintliche „Unwahrheiten“ im Leben der Gläubigen und in der universitären Lehre von Theolog*innen zu sanktionieren. Zahlreiche (Berufs-)Biografien haben deshalb Schaden genommen. So bemerkenswert es zwar ist, dass ein (ehemaliger) Papst Münchner Rechtsanwält*innen Rede und Antwort steht: Seine Antworten dokumentieren eine Kirchenraison, in der bis in die Spitze der Kirche hinein weiterhin moralische Überlegenheit behauptet und unfehlbare Urteilsfähigkeit reklamiert, strukturelle Gefährdungsmomente in der Kirche geleugnet werden und das Renommée der Kirche, der Bischöfe und des Papstes immer noch wichtiger genommen wird als Gerechtigkeit für Betroffene.

Scham, Zorn und Depression beherrschen die Stimmung.

Die katholische Kirche in Deutschland steht an einem Wendepunkt. Die Erosion des kirchlichen Lebens und Glaubens ist in vollem Gang. Zigtausende teils hochengagierte Katholik*innen distanzieren sich derzeit per Austritt vom Leitungsversagen in ihrer Kirche. Scham, Zorn und Depression beherrschen die Stimmung. Institutionelle Glaubwürdigkeit ist am Boden. So kann es nicht mehr weitergehen. Traditionelle Strukturen und Selbstverständnis der katholischen Kirche bieten offenkundig keine hinreichenden Ressourcen zur nötigen Erneuerung. Es braucht tiefgreifende Reformen und einen echten Systemwechsel. Dazu tragen innerkirchliche Reformanstrengungen bei, die aktuell unter hohem Engagement, aber unter heftigem Gegenwind, erfolgen. Enorm wichtig sind kritische Reaktionen und das aufmerksame Interesse der Öffentlichkeit. Hilfreich wären politische Initiativen, beispielsweise die Einrichtung einer Wahrheitskommission, wie sie in anderen Ländern etabliert worden ist. Gutachten wie jenes aus München, aber auch Gerichtsprozesse wie jener gegen Pfarrer Ue. am Kölner Landgericht, bei dem erstmals ein amtierender Erzbischof und ein vormaliger Offizial als Zeugen vernommen wurden, benennen Verantwortliche – und sie markieren auf eindrucksvolle Weise das rechtliche und moralische Niveau, das die katholische Kirche nicht weiter unterbieten darf.

[1] https://westpfahl-spilker.de/wp-content/uploads/2022/01/WSW-Gutachten-Erzdioezese-Muenchen-und-Freising-vom-20.-Januar-2022.pdf

[2] https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf

[3] Der katholisch-theologische Fakultätentag hat vergangene Woche dazu Stellung bezogen: http://kthf.de/wp-content/uploads/2022/01/Stellungnahme-des-KThF-zur-Veroeffentlichung-des-%E2%80%9EMuenchener-Gutachtens.pdf

[4] https://www.synodalerweg.de

[5] https://www.uni-erfurt.de/schulung/vorschlag-dogmatik/dogmatik/newsdetail/neuerscheinung-gottesdienst-und-macht-klerikalismus-in-der-liturgie-regensburghttps://www.uni-erfurt.de/schulung/vorschlag-dogmatik/dogmatik/newsdetail/neue-publikation-amt-macht-liturgie-theologische-zwischenrufe-fuer-eine-kirche-auf-dem-synodalen-weg

[6] https://www.uni-erfurt.de/universitaet/aktuelles/news/news-detail/neue-tagungspublikation-zum-missbrauch-in-der-katholischen-kirchehttps://www.uni-erfurt.de/universitaet/aktuelles/news/news-detail/praeventionstraining-zum-umgang-mit-missbrauchsfaellen-studierende-erhalten-zertifikat

[7] auch dazu hat der Katholisch-Theologische Fakultätentag Stellung bezogen: http://kthf.de/wp-content/uploads/2022/01/Stellungnahme-des-KThF-zur-ARD-Dokumentation-%E2%80%9EWie-Gott-uns-schuf-und-zur-Initiative-outinchurch-.pdf

[8] https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/fakultaet/katholisch-theologische/Professuren/Moraltheologie/Dokumente/2020_SoSe_Ringvorlesung_Flyer.pdf

Publikation dazu: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/fakultaet/katholisch-theologische/Professuren/Moraltheologie/Bilder/Bahne__Verletzbarkeit_Inhaltsverzeichnis.pdf

Kontakt:

Inhaberin der Professur für Dogmatik
(Katholisch-Theologische Fakultät)
Mitarbeitergebäude 3 (Villa Martin) / Dachgeschoss