Die Universität Erfurt ist seit diesem Jahr um eine Einrichtung reicher. In einem markanten roten Backsteinbau in der Erfurter Andreasstraße hat das Lehr- und ForschungsLab KOMPASS Sprache seine Türen geöffnet – für Menschen mit Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen sowie deren Angehörige, für pädagogische, medizinische und sprachtherapeutische Fachkräfte und Einrichtungen und natürlich auch für Studierende, die hier lernen und forschen können. Für unseren Forschungsblog „WortMelder“ haben wir uns einmal umgeschaut…
Wer das kühle, nüchtern-moderne Treppenhaus des historischen Gebäudekomplexes in der Erfurter Altstadt hinaufgeht und sich im zweiten Obergeschoss nach links wendet, wird von einem warmen Licht empfangen, das durch die Glastür scheint. „Willkommen, Welcome, Bienvenue …“ steht in vielen Sprachen auf einem Schild. Daneben eine kleine Kommunikationskarte, die „Herzlich willkommen“ sowohl in Gebärdensprache als auch in Braille-Schrift zum Fühlen zeigt. An alle wird gedacht, alle sollen sich willkommen fühlen. Vom langen Flur, an dessen Ende ein Bergpanorama prangt, gehen rechts und links Büro- und Beratungsräume, eine Teeküche und Seminarräume ab. Alles ist hell und freundlich in Weiß, Mintgrün und zartem Rosa gestaltet. Das Auge hat viel zu entdecken: Bücher, Vitrinen mit Lern- und Fördermaterialien, Symbolkarten zur unterstützten Kommunikation und Spielanregungen, ein Stimmungsbarometer, ein Gewichtskuscheltier zur Selbstregulation. Grauer Teppichboden, ein kleines Sofa, eine Anrichte, auf der Tee angeboten wird, Wohlfühlbilder an den Wänden. Antike hölzerne Kleinmöbel ergänzen gezielt das ansonsten sehr moderne und modulare Mobiliar.
„Wir wollten einen Ort schaffen, an dem sich alle gleichermaßen wohlfühlen – Studierende, Mitarbeiter*innen und natürlich unsere Klient*innen“, erklärt Dr. Stephanie Kurtenbach, die Leiterin des Lehr- und ForschungsLabs KOMPASS Sprache. „Denn wir beschäftigen uns hier ja mit einem vergleichsweise sensiblen Thema – der Beeinträchtigung von Kommunikation. Das kann für betroffene Menschen belastend sein. Eine warme, offene und vertrauensvolle Atmosphäre ist da ganz wichtig.“
Angegliedert an die Professur für Inklusive Bildungsprozesse bei Beeinträchtigungen von Sprache und Kommunikation von Prof. Dr. Sandra Neumann ist das Lehr- und ForschungsLab KOMPASS Sprache der Universität Erfurt ein Ort der Begegnung, des Lernens und des Austauschs über alle Aspekte der kommunikativen Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Es richtet sich an Lehramtsstudierende aller Schularten und andere interessierten Bachelor- sowie Master-Studierenden, an Personen mit Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen und deren Angehörige, sowie an pädagogische, sprachtherapeutische und medizinische Institutionen – z. B. Schulen, Kindertageseinrichtungen, sprachtherapeutische Praxen, Kliniken oder Pflegeeinrichtungen. Studierende erhalten hier eine theoriegeleitete Praxisausbildung (Hospitation und Supervision), Betroffene erhalten professionelle Beratung auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Forschungserkenntnisse. Für Lehrkräfte, Erzieher*innen, Therapeut*innen und Ärzt*innen bietet das KOMPASS-Team Fortbildungen und Beratungen (vor Ort & online), jede Menge praktisches Know-how sowie kollegiale Fallberatungen an.
„Wir unterstützen betroffene Personen – meist Kinder- und Jugendliche und deren Sorgeberechtigte“ , erklärt Prof. Dr. Sandra Neumann. „Das heißt, wenn beispielsweise Eltern zu uns kommen, die unsicher sind, ob ihr Kind von einer Sprachstörung betroffen ist, haben wir aktuelle diagnostische Testmöglichkeiten zur Verfügung. Wir schauen dann, ob das Kind einen Förder- oder Therapiebedarf hat, und verweisen auf entsprechende Einrichtungen in Thüringen.“ In solch einer Erstberatung gehe es zunächst darum, zuzuhören, zu schauen, was braucht das Kind, die Fragen der Eltern zu beantworten und über weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren. Und manchmal auch darum, gemeinsam mit den Eltern deren eigenes Kommunikationsverhalten anzuschauen und Rückmeldungen zu geben, wie sie ihr Kind in seiner sprachlichen Entwicklung fördern können.
Apropos Sprachentwicklungsstörungen (SES): Sie gehören zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter. Dennoch sind sie innerhalb der Bevölkerung nach wie vor relativ unbekannt und bleiben teils unentdeckt. Langanhaltende, massive sprachliche Schwierigkeiten können jedoch die schulische und berufliche Entwicklung sowie die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich beeinflussen. „Die Idee, dass sich eine Sprachentwicklungsstörung ‚verwächst‘, ist wissenschaftlich nicht zu belegen“, weiß Prof. Dr. Sandra Neumann. Vielmehr zeigen sich häufig auch Folgeprobleme: Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung werden manchmal als ängstlicher oder unsicherer erlebt als typisch entwickelte Kinder. Da das schulische Lernen stark auf Sprache und Sprechen aufbaut, fällt Kindern und Jugendlichen mit einer Sprachentwicklungsstörung das Lernen allgemein oft schwerer. „Häufig wird das Verhalten betroffener Kinder fälschlicherweise als unaufmerksames oder schlechtes Verhalten interpretiert. Dem Kind werden dann allgemeine Lernschwierigkeiten unterstellt oder die Ursache wird bei den Eltern gesucht.“
Dr. Stephanie Kurtenbach und ihre Kolleginnen wissen: Kindern und Jugendlichen mit einer Sprachentwicklungsstörung kann geholfen werden. Eine frühzeitige sprachtherapeutische Behandlung kann die sprachliche Entwicklung der Kinder unterstützen und Folgeerscheinungen abmildern oder sogar verhindern. Deshalb ist es dem KOMPASS Sprache-Team auch ein wichtiges Anliegen, in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein für den kindlichen Spracherwerb und seine Störungen zu stärken. So beteiligen sich die Wissenschaftlerinnen beispielsweise regelmäßig am jährlichen Tag der Sprachentwicklungsstörungen und machen mit verschiedenen Aktionen auf das Thema aufmerksam.
„Wir möchten die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern mit sprachlich-kommunikativen Unterstützungsbedarf weiter vorantreiben“, sagt Dr. Stephanie Kurtenbach. Und so beschäftigt sich das siebenköpfige KOMPASS-Team aus Sprachtherapeutinnen, Patholinguistinnen, klinischen Sprechwissenschaftlerinnen, Sprachheilpädagoginnen und Förderpädagoginnen auch innerhalb verschiedener Forschungsprojekte mit der kommunikativen Teilhabe von Kindern mit SES und anderen Sprachstörungsbildern, wie Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Segelfehlbildungen, frühe kommunikative Störungen, Aussprachestörungen oder Stottern. „Uns interessieren dabei besonders die Auswirkungen von unterschiedlichen Sprachstörungen auf die Verständlichkeit, das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die kommunikative Teilhabe bzw. soziale Integration der betroffenen Kinder im Schul- und Vorschulalter“, sagt Prof. Dr. Sandra Neumann. „Darauf aufbauend wollen wir herausfinden, welche gesellschaftlichen, institutionellen und individuellen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um die kommunikative Teilhabe der betroffenen Kinder in inklusiven schulischen, wie außerschulischen Settings zu verbessern.“
Dass sie für ihr Thema „brennen“, ist den Wissenschaftlerinnen deutlich anzumerken. Die Arbeit im KOMPASS-Lab hat gerade erst Fahrt aufgenommen, aber schon jetzt gibt es jede Menge weitere Ideen für die Zukunft: Im laufenden Wintersemester sind noch vier „Fortbildungshäppchen“ geplant, außerdem im kommenden Jahr Workshops, Elterntrainings, die Erstellung von Lehrvideos sowie Materialvorstellungen und vieles mehr.
Wir beenden unseren Besuch in der Andreasstraße für heute erst einmal. Beim Verlassen der KOMPASS-Räume fällt unser Blick noch einmal auf das Ende des Flurs. Hier nämlich wartet auf die Besucher noch das „Gästebuch“. Wer mag, darf sich „eintragen“. Heißt: einen bunten Fingerabdruck, für den jede Menge Stempelfarben zur Auswahl stehen, an der „Wir“-Wand hinterlassen. So geht man irgendwie mit dem Gefühl, dass an alle(s) gedacht wurde. Schön…
Andreasstr. 37 c, 2. Obergeschoss (Aufzug vorhanden)
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