„Das Wort an die Gemeinde“: „Predigthilfen“ der katholischen DDR-Kirche

Forschung & Wissenschaft
Eine Hand, die in einer aufgeschlagenen Bibel blättert
Prof. Dr. Norbert Clemens Baumgart
Prof. Dr. Norbert Clemens Baumgart

Eingangs sei an die 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) sah ein Aufwerten und breiteres Einbeziehen der Bibel in den Gottesdiensten vor. Zum Advent 1969 wurde eine neue Perikopen-Ordnung für die Gottesdienste, die Regelung zu ihren Bibelabschnitten, in Kraft gesetzt. Deren Drei-Jahres-Zyklus für die Sonn- und Feiertage enthält mehr Lesungen aus dem Neuen Testament als die alte Ordnung und bezieht das Alte Testament breiter ein. Gottesdienstteilnehmer*innen vernehmen von nun an umfassender die Heilige Schrift. Unter denen, die an Sonn- und Feiertagen predigten, waren neuartige Anleitungen zu einer Bibel-bezogenen Verkündigung im Sinne des Konzils gefragt.

Die Nachfrage wurde im deutschsprachigen Raum durch einige Predigtreihenwerke bedient. In der DDR gab der katholische St. Benno-Verlag Leipzig „Das Wort an die Gemeinde“ heraus. Der Untertitel der DDR-Reihe gibt ihr Anliegen und ihren Anlass wieder: „Predigthilfen zu den Lesungen der neuen Perikopenordnung.“ Die Hilfen der DDR-Reihe bestehen aus drei Teilen: 1. exegetische Erschließungen des Bibeltextes, 2. daran angelehnt theologische und kirchengeschichtlich orientierte Meditationen sowie 3. Predigtskizzen. Die Skizzen am Schluss wollen keine Predigt ersetzen, sondern nur Anregungen bieten. Die DDR-Reihe enthält zudem Beiträge, welche über die Predigtpraxis reflektieren oder Aspekte und Relevanz des Alten Testamentes behandeln.

Dabei hatte es sich die katholische Kirche in der DDR zunächst gar nicht zugetraut, ein Predigtreihenwerk stemmen zu können. Man hatte beantragt, eines der westdeutschen Predigtreihenwerke als Lizenzausgabe in der DDR nachdrucken zu dürfen. Der Antrag wurde abgelehnt. So stand es für die katholische DDR-Kirche an, mit möglichst eigenen Kräften eine Reihe auf die Beine zu stellen. Mein Beitrag geht auf diese eigenen Kräfte ein.

Für das Zustandekommen der DDR-Reihe „Das Wort an die Gemeinde“ war ein langer Atem nötig. Westdeutsche und österreichische Verlage vermochten ihre Zuarbeiten für die Predigten relativ zügig herauszubringen. Der St. Benno-Verlag musste unter den widrigen DDR-Verhältnissen langfristiger planen und vorgehen. Das Erscheinen seiner Predigthilfen benötige neun Jahre und währte von 1971 bis 1979. Zu verzeichnen sind zwei Bänden pro Jahr, insgesamt 18 Bänden, die in Summe 6644 Seiten zählen.

Das DDR-System zwang die Leipziger Reihe dazu, zwischen ihren Autor*innen eine kleine Unterscheidung vorzunehmen, auf die zu achten lohnt. Zwar enthalten die 18 Bände hier und da Predigthilfen und Beiträge, die von Autor*innen im Westen verfasst oder die von diesen dem ostdeutschen Verlag überlassen wurden. Ab und zu konnten sogar jemand aus dem Westen und jemand in der DDR an einer Predigthilfe arbeiten. Doch das jeweilige „Autorenverzeichnis“ der 18 Bände zählt weiniger Namen als das Inhaltsverzeichnis. In jedem Autorverzeichnis ist zu den Namen die Anschrift gesetzt. Alle Adressen lagen im Gebiet der DDR. Wer kein*e Bürger*in der DDR war, wurde nicht in das Verzeichnis der Autor*innen aufgenommen. Deren Postadressen sucht man in der Reihe vergebens. Das jeweilige Autorenverzeichnis blendete die Unterstützenden aus dem Westen aus und sollte den Schein erwecken, die Reihe wäre gänzlich Made in GDR. Ironischerweise dokumentiert so jedes Autorenverzeichnis übersichtlich diejenigen Autoren, welche hauptsächlich die Reihe getragen hatten. Vornehmlich arbeiteten sie in der Seelsorge.

Bezeichnend für die DDR-Reihe ist, dass auch ihr „Herausgeber“[1] Karljosef Lange hauptamtlich in der Gemeindearbeit tätig war. In eine Verlagsarbeit hatte Lange sich nicht eigens einarbeiten können und auch nicht in die Predigtlehre, die Homiletik. Karljosef Lange wirkte als Priester des Erzbistums Paderborn in dessen damaligen Ostteil, in Bernburg – heute Bistum Magdeburg. Als Herausgeber war er stets damit befasst gewesen, Autor*innen für die Reihe zu gewinnen. Sprechend sind die Vorworte, die Lange für die Reihe verfasst hat. Im ersten Band von 1971 lud er zur Mitarbeit an der Reihe ein. Im sechsten Band von 1973 präzisierte er, an wen in der DDR die Einladung erging: „Jeder, der im Verkündigungsdienst der Kirche steht, kann eine Perikope bearbeiten.“ Im selben Band von 1973 schaute er auf erste Erfahrungen zurück und sprach von „Autoren jeden Alters und jeder Richtung“, die bis dato gewonnen werden konnten. Lange schrieb 1973 weiter: „Wenn von allen Seiten Beiträge kommen, dann kann sich die augenblickliche Vielstimmigkeit kirchlicher Lebensäußerungen auch in unserer Edition ein gedämpftes Echo verschaffen.“ Warum redete Lange nur von einem gedämpften Echo? Alle beim Verlag eingereichten Manuskripte hatten die kirchliche und die staatliche Zensur zu durchlaufen und Zensor*innen beiderlei Couleur hatten nach ideologischen Vorstellungen oder Vorgaben in die Vorlagen eingegriffen. Aus Langes privaten Aufzeichnungen geht hervor, dass er 1973 primär die restriktiven Auflagen vor Augen gehabt hatte, die für das Erteilen der kirchlichen Druckerlaubnis einzuhalten waren. Im letzten Band von 1979 zog Lange ein Resümee. Zum Rekrutieren von DDR-Autor*innen hielt er dabei fest: „[…] bis zum Schluß war es schwierig, überhaupt eine ausreichende Anzahl von Mitarbeitern zu gewinnen.“ Im Resümee konturierte Lange sehr aufschlussreich die Konditionen, unter denen DDR-Autor*innen gearbeitet hatten: „Wir sind ja fast ausnahmslos nicht als professionelle Homiletiker ans Werk gegangen, sondern als Prediger in der normalen Seelsorgspraxis; wenn man so will: als homiletische Amateure, die keine Gelegenheit hatten, sich speziell für diese Aufgabe zu qualifizieren […] Natürlich merkt man den Beiträgen an, daß sie neben der täglichen Seelsorgsarbeit, manchmal sogar unter Zeitdruck verfaßt wurden.“ Sprach Lange hier von „Wir“, konnte er das mit gutem Grund tun. Der Herausgeber hatte selber an 14 Predigthilfen mit- und drei allein ausgearbeitet.

„Theologie aktuell“ hat im April 2022 über ein jüngstes Forschungsprojekt zur DDR-Reihe berichtet, dessen Ergebnisse demnächst im Echter-Verlag publiziert werden. Marlen Bunzel und Martin Nitsche, die in Erfurt im Alten Testament promoviert haben, leiten und koordinieren das von ihnen interdisziplinär angelegte Projekt und kommen mit dem Projekt einer in den biblischen Forschungen wieder verstärkt in den Fokus gerückten Fragestellung nach: Wie verlief die Rezeption, das Aufgreifen der Heiligen Schrift unter konkreten Zeitumständen – in diesem Fall während der Bedingungen des DDR-Sozialismus? Das Projekt schält zudem heraus, dass und wie die Reihe eine beachtliche Quelle zum DDR-Katholizismus der 70er Jahre darstellt. Das soeben Skizzierte gibt eines von den Profilen der Reihe wieder und geht auf meinen Part im Projekt zurück. Dieses Profil lässt sich unter drei Blickwinkeln, die m.E. heutzutage naheliegen, auswerten und vertiefen:

1. Auffällig ist, dass auf das, was nach dem Konzil mit Blick auf das Predigen gefragt war, in der katholischen DDR-Kirche vor allem Praktiker*innen geantwortet haben. Eine Großzahl unter den DDR-Autor*innen predigte wöchentlich und/oder arbeitete in der Seelsorge. Die Herausgabe der Reihe hatte in der Kirche zwischen Ostsee und Thüringen insbesondere diese Gruppe dafür mobilisiert, an einer kirchlichen Kernaufgabe zu arbeiten und Erarbeitetes zu Papier zu bringen. Die Reihe berief sich bei ihrem Programm auf den Berliner Homiletischen Kongress. Dieser war der erste Kongress seiner Art im deutschsprachigen Raum gewesen.[2] Er fand im Februar 1969 in der (Ost-)Berliner Hedwigs-Kathedrale[3] statt und die Abfolge seiner Referate spannte einen konzeptionellen Bogen für die Predigtarbeit. Die Reihe sollte diesen Bogen in „Predigthilfen“ ummünzen. Autor*innen der Reihe hatten nicht nur ihre Erfahrungshorizonte aus der Gemeindearbeit, sie stellten sich auch dem anspruchsvollen Konzept, wie eine Verkündigung vorbereitet werden kann. Leider wird sich kaum noch etwas Aussagekräftiges dazu erheben lassen, inwieweit sich auch die Benutzer*innen der Reihe auf das Programm eingelassen haben. Auf der Hand liegt jedenfalls, dass unter dem Personal in der Pastoral ein neues Arbeiten am Predigen Fuß gefasst hatte.

2. Im exegetischen Teil der DDR-Predigthilfen wurden die Bibeltexte auf einem Niveau ausgelegt, das sich auf dem damaligen Stand in den Bibelwissenschaften bewegte. Im Rahmen des Projektes konnten noch einige von denen interviewt werden, die vor vier, fünf Jahrzehnten für die Reihe tätig waren. Die DDR-Autorin Maria Geburek schaute dabei auf ein gemeinsames Anliegen zurück und sagte: „Es war die Zeit nach dem Zweiten Vatikanum, in der die formkritische Methode auch in der Katholischen Kirche nun ernst genommen wurde. Unser Anliegen war es, nach einer adäquaten Sprache bei der Verkündigung der biblischen Botschaft zu suchen. Wir wollten die biblische Botschaft sozusagen ‚dem Volk‘ zugänglich machen […] Der wichtigste Teil war deshalb für uns der exegetische.“ Der Interviewausschnitt gibt den Stellenwert wieder, den Autor*innen ihren Exegesen eingeräumt hatten. In der Reihe wurden nach den Exegesen zu den biblischen Texten Linien bis in die Gegenwart gezogen, die zum Anregen beitragen wollten. Ein für die DDR-Reihe spezifisches Beispiel kann das illustrieren:[4] Das alttestamentliche Buch Ezechiel umkreist das babylonische Exil Israels und die im Buch mit dem Exil verbundenen Problemstellungen wurden auf die Diasporasituation der Kirche bezogen. Bei diesem Anwenden ließen sich Themen und Fragen des Glaubens zur Sprache bringen, die sich aufgrund der Position der DDR-Gemeinden, in einer Minderheit zu sein, aufdrängten. Wo der Schuh besonders gedrückt hatte, reißen beiläufige Bemerkungen an: Die Minderheit wurde in der DDR zusehends immer kleiner. Dieses Anwenden differenzierte so gut wie gar nicht zwischen den Ursachen für das Kleiner-Werden der katholischen Kirche in der DDR und der brachialen Exilierung des Gottesvolkes Israel im 6. Jh. v. Chr. Davon abgesehen ergab eine Tiefenbohrung zu den Exegesen der Perikopen aus dem Buch Ezechiel, wie professionell sie durchgeführt worden waren und dass sie größtenteils Fachliteratur aus dem Westen herangezogen hatten, die bekanntlich nur etwas zeitverzögert auch in der DDR zugänglich war. Andere Exegesen in der Reihe sind – wie etliche Stichproben ergaben – ebenso in Forschungen zur Bibel eingebettet gewesen. Dem „Anliegen“ der Autor*innen, von dem Maria Geburek sprach, kam der Aufbau der Predigthilfen günstig entgegen. Der Aufbau sah vor, ein Fundament für alles Weitere in den Hilfen zu legen: Was ein Sonn- oder Feiertag aus der Bibel präsentiert, war als erstes exegetisch und bibeltheologisch zu durchdringen. Darauf hatte ersichtlich auch das in der Reihe vertretene Personal der DDR-Kirche im Aufwind durch das Konzil besonderes Gewicht gelegt.

3. Im Projekt stand es an, einer Zusammensetzung innerhalb des Personals nachzugehen. Für die Reihe wurden nur vier Frauen aus der katholischen Kirche der DDR tätig: Erika Buhl aus Frankfurt/Oder (10mal), die erwähnte Maria Geburek aus Leipzig (zweimal), Eva Maria Schlosser aus Magdeburg (dreimal) und Sr. Ursula Schwalke vom Benediktinerinnenkloster Alexanderdorf im Erzbistum Berlin (viermal). Ihnen stehen 178 Männer der DDR-Kirche gegenüber, die – in der Reihe nicht eigens vermerkt – vor allem Priester waren. Doch unter denen, die in der DDR-Kirche die Seelsorge trugen, war der Anteil an Frauen wesentlich höher als der in der Reihe. Den vier genannten Frauen ist u.a. eines gemeinsam: Sie hatten die Möglichkeit erhalten, sich am Erfurter Studium zu qualifizieren, an der einzigen katholisch-theologischen Hochschule in der DDR. Die Hochschule war für die Ausbildung von Priesteramtskandidaten genehmigt und 1952 errichtet worden. Erst nach einigen Anläufen und zu überwindenden Widerständen wurde es ab dem Wintersemester 1962 Frauen erlaubt, an den Lehrangeboten der Hochschule teilzunehmen.[5] Deren Zulassungen wurden eng begrenzt, womöglich um dem Staat keinen Anlass zum Eingreifen zu bieten. Jedenfalls mussten Frauen, um in Erfurt studieren zu dürfen, bereits aus einem kirchlichen Dienst kommen und für einen Dienst in der Kirche vorgesehen sein. Die Begrenzung schlug sich in Zahlen nieder, wie ein Vergleich zeigt: In den ersten zwölf Jahren (1962-1974) durften nur 23 Frauen in Erfurt ihr Studium aufnehmen, während im gleichen Zeitraum pro Jahr weit mehr Männer das Studium antraten. Katholische Frauen in der DDR hatten eine geringe Chance gehabt, durch eine Ausbildung in wissenschaftlicher Theologie gefördert zu werden, was mitursächlich für die Frauen-Männer-Quote in der Reihe war. Marlen Bunzel hat die sich bietende Gelegenheit beim Schopfe gefasst, mit noch drei der weiblichen Autorinnen der Reihen sprechen zu können, und sie mit ihren Erinnerungen sowie als beeindruckende Theologinnen im Projekt vorgestellt. Wie gezeigt, waren sie eine kleine Minderheit auf von Männer- und Priesterkreisen dominierten Terrains.

Das sind nur drei, kurz angerissene Blickwinkel auf die DDR-Reihe „Das Wort an die Gemeinde“. Sie bietet eine äußerst reichhaltige Fundgrube, sei es für die Phase nach dem Konzil, für die Kirche im DDR-System, für deren Bibellektüre, ihr Ringen ums Predigen und für Vieles mehr. Zum Glück verstaubt die Reihe nicht. Zu verdanken ist das jungen Forscher*innen rund um den Erfurter Standort für Theologie, die die Relevanz der DDR-Reihe entdeckt haben und mit einem mehrköpfigen Team aufzeigen

 

[1] Nach der Titelei aller Bände.

[2] Zum Kongress Thomas Grießbach, Das Evangelium unverkürzt verkünden. Das integrale Homiletik- und Predigtverständnis bei Alfred Bengsch (Veröffentlichungen des Missionspriesterseminars St. Augustin 54), Nettetal 2002, 174–178.

[3] Eingeladen hatte der Berliner Kardinal Alfred Bengsch. Er war 1957 bis 1959 Dozent für Dogmatik und Homiletik im Neuzeller Priesterseminar gewesen; hierzu Stefan Samerski, Alfred Bengsch. Bischof im geteilten Berlin, Freiburg i. Br. u.a. 2021, 38–43.

[4] Bei diesem Beispiel beziehe ich mich auf den Beitrag zum Projekt von Cornelia Aßmann, die ebenfalls in Erfurt zum Alten Testament promoviert hat.

[5] Hierzu Josef Pilvousek, Theologische Ausbildung und gesellschaftliche Umbrüche. 50 Jahre Katholische Theologische Hochschule und Priesterausbildung in Erfurt (EThSt 82), Leipzig 2002, 171–181.

Prof. Dr. Norbert Clemens Baumgart ist Inhaber des Lehrstuhls für Professur für Exegese und Theologie des Alten Testamentes 

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