Theologie in Zeiten der Krise - Begrüßung des Dekans und Festvortrag anlässlich des Patronatsfestes Albertus Magnus 2021

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Erfurter Dom

Begrüßung durch den Dekan Prof. Dr. Jörg Seiler

Prof. Dr. Jörg Seiler
Dekan Prof. Dr. Jörg Seiler

Liebe Festgemeinde, meine Damen und Herren, Exzellenzen, geschätzte Herren Bischöfe, Generalvikare, Regenten, die Sie unserer Theologie hier in Erfurt mit Hochachtung und Wertschätzung begegnen,

und auch Sie, alle Nicht-Exzellenzen, die Sie es nur selten schaffen, eigenes Tun und Sein herausragend zu finden oder amtlich zugesprochen zu bekommen,

liebe Studierende in Eurem eifrigen Bemühen, im Scheitern und Gelingen, in Eurem Lebens-Zutritt,

liebe Kolleg*innen in der Verwaltung der Fakultät – dem viel zu selten in seinem Funktionieren honorierten Rückgrat unseres gemeinsamen Tuns,

liebe Gäste aus Politik (Herr Drössler und Herr Grünhage) und aus kirchlichen Institutionen (dem Priesterseminar, den Ordinariaten, der Arbeitsstelle für missionarische Pastoral, dem Domkapitel, dem Katholischen Büro, dem Bildungshaus St. Ursula), die Sie uns zugegeben sind als Weggefährt*innen,

ebenso auf dem Weg mit uns: lieber Freundeskreis (Michael Gabel, Herr Friese, Frau Kesting), lieber Ehrendoktor, Kollege Ruh,

liebe Eltern der heute zu ehrenden Examenskandidat*innen und der jungen Kollegen, die Sie hier auf Besuch sind,

liebe Kolleg*innen im so (komisch) genannten Mittelbau, im Professorium, geschätzter Vizepräsident,

meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Festgemeinde,

ich heiße Sie als Dekan im Namen der Fakultät herzlich willkommen. Und Sie sind willkommen. Wir freuen uns über Sie alle, aus nah und fern, aus Erfurt und Tirol, aus Berlin und Dresden, aus Görlitz und Magdeburg.

Vergangenheit kommt mir als Historiker täglich entgegen. Und immer wieder frage ich mich, wer denn die Gestalten waren, die damals Wege gegangen sind, Spuren hinterließen und so aus dem damaligen Heute ein Ver-Gangenes grundlegten.

Da wir nun einmal im Dom sind: Es tauchen in mir Gestalten auf, die ich hier verorten will. Ehemalige Studierende, ehemalige Bischöfe, der heilige Christophorus und schließlich – in meinen Traumwandeln in heiligen Hallen – Friedrich Schiller.

Zunächst also eine 1. Szene: die Scharen spätmittelalterlicher und moderner Studenten, die hier zusammen mit Stiftsherren und Professoren den Raum lebendig hielten, Prozessionen um den Wolframleuchter herum inbegriffen, Prozessionen aus der Kilianikapelle und Gesänge aus der so genannten Clemenskapelle im Kreuzgang, die nie Justus und Clemens, sondern Maria als Patrozinium hatte, wie wir nun nach einem gründlichen Blick eines Mitarbeiters in die Quellen, ein erneutes Studium, wissen.

Liebe Studierende, liebe Kolleg*innen auf den verschiedenen Qualifikationszuschreibungen: dies ist unsere Geschichte, dies ist unser Ort und dies sollte fruchtbarer Teil unseres Lebens und der Begegnungsmöglichkeiten geteilter Lebenswege sein!

Wir stehen in einer Reihe voller quirliger Lebendigkeit in diesem und um dieses Haus Gottes herum. Auch in seiner Tradition aus der DDR. Und auch in den Schwierigkeiten all jener Zumutungen dieses Tempels Gottes, der wir sind als Kirche (vgl. 1Kor 3,16) – Zumutungen, die wir historisch, existenziell, kirchlich und theologisch noch längst nicht begriffen haben. Leben bringen Sie in unsere Fakultät heute – Sie, die 29 jungen Menschen, die Sie bei uns im Oktober zu studieren begonnen haben – eine im Vergleich zur bereits erfreulichen Anzahl im Vorjahr und im Vergleich zu anderen Ausbildungsstätten beachtliche Zahl. Wir freuen uns, dass Sie uns die Ehre geben, Sie feierlich begrüßen zu dürfen.

Eine illustre Gruppe. Und Sie machen es teilweise ja wie Ihre Vorgänger der Vergangenheit: Sie leben in Gemeinschaft im Priesterseminar, Leben teilend, Lebenswege erzählend, einander herausfordernd und inspirierend. Genau dies ist jener Teil „eifrigen Bemühens“ (= Studium) jenseits der akademischen Herausforderungen: dass Sie einander mitteilen, sich zumuten und dadurch Mut machen. Wir stellen mit all den kirchlichen Akteuren in Erfurt gemeinsame Mitteilungsräume her: An der Fakultät, im Priesterseminar, an der Universität, und etwa auch bei „Komm zu Pott“ dienstagmittags, wo Sie in der betenden Praxis vor dem Essen erfahren, dass das „Nicht vom Brot allein“ eben auch heißt: „aber auch mit dem Brot“.

Wir wollen diese Mitteilungsräume ausbauen. War das spätmittelalterliche Erfurt durch seine geistlichen Institutionen ein international anerkanntes Wissenszentrum, war zu Zeiten der SED-Diktatur das Philosophisch-Theologische Studium ein Hort eigen-sinnigen Lebens (mit all den Problemen des Absonderns und klerikalen Differenzierens, denen wir uns vermehrt zu stellen haben), so sollten nun wir mutig auf diesen Spuren im Heute des 21. Jahrhunderts voranschreiten:

Machen wir aus Erfurt ein theologisch profiliertes, spirituell fundiertes und durch Menschlichkeit begnadetes Lebensfeld!

Die Strukturen sind geschaffen: eine Theologie gegenüber extrem neugierige Universität, neu gestaltete Studiengänge als Ausdruck einer zeitsensiblen wie traditionsbewussten Theologie, ein Priesterseminar auf dem Weg zum geistlichen Zentrum in der Erfahrung der Gleichwertigkeit pluraler Berufungen und Lebensentwürfe, die Hochschulgemeinde als Begegnungsraum, amtskirchlich Berufene, denen Kommunikation auf Augenhöhe kein Fremdwort ist, ein komplexes und vor der Pluralität und Fluidität theologischen Denkens nicht kapitulierendes Kollegium und Nachwuchsmenschen, weltweit engagiert und wahrgenommen. Hiervon zeugen neue Forschungsprojekte und das Engagement von Kolleginnen im Rahmen der nationalen und weltweiten Synodenwege. Hier gehen wir insgesamt mit - bei aller Differenziertheit. Hier gestalten wir Zukunft, von der wir hoffen, dass sie einstmals als eine gute Vergangenheit, inspirierende Weggefährtenschaft gesehen werden wird. Ich vertraue auf die Einsicht aller Verantwortlichen und auch der Akteure ohne Verantwortung, von dieser Zukunft aus groß und hoffnungsvoll auf das Heute hin zu denken. Prägen Sie mit uns zusammen all das, was auf später hin nachhaltig Spuren hinterlässt.

2. Szene: Im Lichthof des Kreuzgangs: Eine kurze Zwiesprache mit den Bischöfen der näheren Vergangenheit: Joseph Freusberg, dem einst Magdeburger Hugo Aufderbeck und Hans-Reinhard Koch. Welche Wege Eurer Vergangenheit sind für uns heute hilfreich? Was sind Eure Erfahrungen? Pastorale Aufbrüche? Oder struktursichernde Maßnahmen? Würden Aufderbeck und Freusberg von der unmittelbaren Nachkriegszeit erzählen, heute 75 Jahre später? Davon etwa, wie sehr die damaligen Jurisdiktionsträger in Magdeburg und Görlitz ihre Mitbrüder, nicht zuletzt in München Kardinal Faulhaber, aufforderten, die aus dem Krieg heimkehrenden Priesteramtskandidaten wieder zurück in die „Ostzone“ zu schicken, wie es in den Quellen heißt, und nicht in München oder in Bayern zu belassen. Hätten sie Kenntnis über die Frustration des Paderborner Erzbischofs und seines Magdeburger Kommissars über den ehemaligen Breslauer Konviktsdirektor Karl Kastner, dem sie die „Anwendung schärfster moralischer Druckmittel“ bei der Bevorzugung Königsteins zuungunsten von Erfurt bei der Ausbildung der Theologen aus den ehemaligen „Ostgebieten“ vorwarfen? Vergangene Wege kirchlicher Akteure. Es waren auch bittere Wege. Sie haben Spuren hinterlassen. Mich bewegen die Quellen, seit ich sie vor 2 Jahren im Archiv fand. Ich denke seither entschiedener über die Notwendigkeit einer ostdeutschen Theologie, einer ostdeutschen Priesterausbildung. Mit diesem Nachdenken stehen wir hier in Erfurt in einer guten Tradition – theologisch und amtskirchlich, politisch und gesellschaftlich. 

3. Szene: Natürlich bei meinem vergangenheitsaffinen und gegenwartssensiblen Umhergehen im Dom: der heilige Christophorus. Ein Riese, ein Koloss. Wie viele Menschen haben ihn, den Nothelfer, angerufen und um Fürsprache gebeten angesichts von Seuche, Elend, von Naturkatstrophen. Er war für Menschen in Not sichtbares Zeichen im Außen und Innen von Kirchen. Ihn zu sehen, brachte Entlastung. Vergangene Zeiten, in denen sehende Zuversicht – also ein Sehen und Gesehenwerden, das von der Zukunft her hoffen macht — in und an Kirchen möglich / noch möglich war? Nur eine Vergangenheit? Ich meine: nein. Meine Bitte an den großen Träger des göttlichen Kindes: „Jetzt, wo Kinder wieder Opfer einer menschenzugelassenen Pest werden, erwirke bei Gott, du Starker, doch bitte dessen Schutz!“ Und wenn ich das bete und eine Kerze entzünde, so wird mir bewusst, wie schief der Begriff „Querdenker“ ist: Hier wird nicht gedacht, sondern polemisiert. Hier wird nicht mitgeteilt, sondern behauptet. Hier werden Lebensräume exklusiv und ausschließend beansprucht. Hier wird Menschlichkeit in Egowelten eingemauert und unspürbar gemacht. Hier wird Gemeinschaft in die Verfügungsgewalt unkommunizierten Eigeninteresses gestellt. Mir graut, wenn die Zukunft diese Vergangenheit als Vergehen ansehen wird. Gut, Nothelfer zu haben, besser: Nothelfer zu sein!

4. Szene: Beim Koloss macht sich Friedrich Schiller in mir hörbar, der natürlich das Marienstift hier kannte. Er zitiert mir aus seinem Drama „Die Räuber“: „Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus“ (Schiller, Die Räuber I,2). Ja, das hast Du damals positiv gemeint. Du, der Schwabe aus Marbach, schriebst das Drama im Blick auf die Inhaftierung deines Kollegen Christian Friedrich Daniel Schubart, unweit meiner Heimat Ludwigsburg auf dem Hohenasperg. Ein mutiges Stück, ein lautes Stück. Ich konfrontiere deine Vergangenheit jedoch mit unserer Gegenwart. „Freiheit“ war der Ruf der Friedlichen Revolution. Die Berufung auf freie Meinungsäußerung in Form von Sätzen wie „Man wird doch nochmal sagen dürfen“ dient heute jedoch allzu oft als Deckmantel, um fremdenfeindliches, antisemitisches, antiislamisches, homophobes und geschlechtidentitätsfeindliches Sprechen diskutabel erscheinen zu lassen. Doch rassisitisches, herabsetzendes und diskriminierendes Sprechen ist immer ein öffentliches Gift, ein Angriff auf die Würde und — wie ich als Christ von der Ebenbildlichkeit des Menschen her meine auch ein Angriff auf Gott —, selbst wenn es durch das hohe Gut der Meinungsfreiheit gedeckt sein sollte. Wie sehr wir als Zivilgesellschaft, als Kirche, als Theolog*innen, als Politiker*innen in Thüringen uns hiermit zu beschäftigen haben, zeigen die beunruhigenden Ergebnisse der vergangenen Bundestagswahl. Frustration, Fundamentalopposition, Trotz und Extremismus sind keine Alternativen, die Deutschland und Thüringen guttun. Da wir als Theolog*innen sehr bewusst Sprechen, Worte und Sprechakte reflektieren, da wir Gott als Freund des Lebens wissen, da wir Christus einzig vom Ansehen (im doppelten Sinn des Wortes: Hinsehen und Würde haben) des geschundenen Gegenübers und des Opfers in unserer heutigen Welt menschlich erkennen können, können wir Lebensfeindschaft nicht akzeptieren.

Ich denke, eine theologisch profilierte Fakultät, ein spirituell fundiertes Miteinander und ein durch Menschlichkeit begnadetes Lebensfeld darzustellen, zu fördern und immer dichter zu entwickeln — das ist der Weg unserer Berufung hier in Mitteldeutschland, der Weg der Berufung unserer Studierenden, der Weg der Berufung unserer Priesteramtskandidaten, der Weg unserer eigenen Berufung. Es ist die Verwirklichung einer Option zum Gehen, die Papst Franziskus von seiner ersten Rede in der Sixtinischen Kapelle an durchbuchstabiert hat. Ich denke, dass wir in Erfurt dies erkannt haben. Unser „Heute“ ist keine Vergangenheit, sondern ein Angebot und Zeichen aus Glauben heraus zum Leben und zum Lebendigen hin. 

Werden wir zu Kolossen der Hoffnung und des Lebens!

Damit schließt der Historiker und übergibt an Kollegen Zaborowski, der auf seine Weise die uns umtreibenden Fragen und Themen bedenken wird. Hierfür hat die Fakultät ihn 2019 zum Professor für Philosophie berufen. Ich danke für Ihr freundliches Mitgehen im Nachdenken über die Vergangenheit.

Festvortrag "Reden von Gott. Vom kirchlichen, gesellschaftlichen und universitären Sinn der Theologie. Oder: Warum wir mehr Theologie wagen sollten!" von Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski

Verehrte Herren Bischöfe, sehr verehrte Gäste aus nah und fern, aus dem kirchlichen, politischen, gesellschaftlichen und politischen Leben, liebe Studentinnen und Studenten, liebe Doktorandinnen und Doktoranden, liebe Absolventinnen und Absolventen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Freunde und Freundinnen der Fakultät, also in einem Worte: verehrte Festgemeinde,

es ist kalt heute hier im Dom, am Gedenktag des Hl. Albert – des doctor universalis, eines universal gebildeten Gelehrten, eines Theologen, Philosophen und Naturwissenschaftlers, eines Ordensmannes, Bischofs und Politikers, der sich mit allem Möglichen und übrigens auch mit Schneeflocken und der symmetrischen Struktur der Schneekristalle beschäftigt hat. Auch in der kalten Jahreszeit und nicht nur im Frühling oder Sommer zeigt sich für Albert die Harmonie der Schöpfung. Die Kälte, das mag heute ein Trost sein, hat also durchaus ihre Reize – und theologische Bedeutung.

I. Wozu Theologie?

Heute möchte ich jedoch nicht über die Harmonie der Schöpfung auch in eiskalten Zeiten sprechen, sondern über etwas anderes, das Albert, den wir als wohl einzigen Gelehrten den "Großen" nennen, auch am Herzen lag: die Theologie. Dabei möchte ich fragen: Wozu Theologie? Was ist also der Zweck, der Sinn der Theologie? Unter Theologie verstehe ich die vernünftige, reflektierte, argumentative Rede von Gott, also die akademische, universitäre Theologie, aber nicht nur. Theologie in diesem Sinne kann ja auch in anderen Zusammenhängen betrieben werden – dort, wo Christinnen und Christen etwa öffentlich über ihren Glauben Rechenschaft ablegen oder über Gott auch in außeruniversitären Kontexten nachdenken.

Allerdings könnte man sich fragen, ob es nicht andere, konkretere Fragen gibt, die sich heute, an diesem akademischen Festtag stellen – mitten in der vierten Welle der Corona-Pandemie, in Anbetracht von Querdenkern und Populisten, die nicht nur den wissenschaftlichen Konsens in Frage stellen, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, im Bewusstsein einer Klimakrise mit weltweiten Konsequenzen, angesichts der vielen Menschen auf der Flucht, die nur noch als anonyme "Flüchtlingsströme", aber nicht mehr als Menschen mit einer unverletzlichen Würde wahrgenommen werden, mit Blick auf die zahllosen Opfer spiritueller oder sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche? Überall Krisen. Gesellschaft und Politik – in der Krise. Christentum und Kirche – in einer Krise. Wissenschaft, Universitäten und auch theologische Fakultäten – in der Krise.

Der Krisenmodus wird zu einer permanenten Erfahrung: Man könnte in der Tat den Hl. Albert, dessen Zeit – das von uns oft idealisierte 13. Jahrhundert – von ähnlichen Krisen durchzogen war – eindringlich um Beistand bitten. Was also tun? Tatsächlich über den Sinn von Theologie nachdenken? Oder sollten wir – ein zunächst vielleicht gewagter Gedanke – gerade in den Krisen der Gegenwart über Theologie, die Gottesrede nachdenken? Nicht über eine Theologie, die immer schon Bescheid weiß, die Gott auf ein bequemes Objekt reduziert, einen geistreichen Gedanken, mit dem sie ihre Spielchen treibt. Aber vielleicht über eine andere Theologie, deren Bedeutung sich gerade in krisenhaften Zeiten neu zeigen kann und die – vielleicht – auch Charakteristikum und eine Chance des Theologie-Standorts Erfurt ist. Und so möchte ich drei Krisen – oder besser: drei Krisenkontexte, Krisenbereiche – kurz in den Blick nehmen, die uns heute sehr beschäftigen: die Kirche, die Gesellschaft und die Wissenschaft – um mit Blick darauf zu fragen: Wozu Theologie? In diesen drei Bereichen zeigen sich vergleichbare Spannungen, Tendenzen zu Extremen, die auf einen Verlust der Mitte hinweisen.

II. Kirche und Theologie

Ein berühmter Film von Rainer Werner Fassbinder heißt "Angst essen Seele auf". Das ist ein wahres Wort. Angst fesselt und lähmt. Angst führt nicht nur in der Gesellschaft oder beim einzelnen Menschen, sondern auch in der Kirche dazu, dass man das Eigentliche, das, worum es eigentlich geht, aus dem Blick verliert. Die "Seele" geht verloren und wird aufgefressen. Der ängstliche Mensch muss sich daher um eine neue Seele – oder besser: um einen Ersatz für seine Seele – bemühen. Je schwächer er innerlich ist, umso kräftiger muss er nach außen hin erscheinen. Aus diesem Grund liebt die Angst binäre Logiken, ein starres Entweder-Oder, Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien. Wer Angst hat, schottet sich ab. Neue Grenzen werden gezogen, alte Grenzen werden verstärkt. Dem Eigenen steht das Andere, dem Freund der Feind, dem Vertrauten das Fremde gegenüber. Der Blick richtet sich nicht mehr nach außen, sondern zunehmend nur noch nach innen. Man beschäftigt sich fast nur noch mit sich selbst und bemüht sich um eindeutige und klare Identität. Die Angst unterliegt zudem einer fatalen Logik der Verschärfung. Je unsicherer die Zeiten werden, umso ängstlicher wird man, und umso unsicherer erscheinen dann die Zeiten, was dazu führt, dass man noch ängstlicher wird. Ein wahrer Teufelskreis, dem man kaum entkommen kann. Von Aufbruch, Begeisterung, Mut, Zuversicht, Vertrauen, Offenheit für die Welt ist im Zeichen solcher Ängste wenig zu spüren.

Eine solche bis ins Mark reichende Angst durchdringt, so scheint mir, nicht nur die Gesellschaft – darauf werde ich später noch eingehen –, sondern auch die Kirche heute. Es gibt sie in der Kirche (wie auch in der Gesellschaft) in einer doppelten Gestalt. Zum einen in der Gestalt der Angst vor dem Neuen, vor notwendiger Veränderung, vor dem Abschied von liebgewonnenen, aber schal gewordenen Gewohnheiten. Es gibt die Angst der Zögernden und Zaudernden, die rückwärtsgewandt am liebsten die Geschichte anhalten würden. Dies ist die – durchaus auch verständliche – Angst derjenigen, die sich nach Heimat sehnen, sie in einer sich immer schneller verändernden Zeit aber kaum noch finden. Es ist aber auch die Angst seelenloser Verwalter oder unbeseelter Bürokraten, für die es Wahrheit nur in Form starrer, abstrakter Systeme und klarer Regulierungen geben kann. Nichts Neues, nichts Mehrdeutiges darf ihre Kreise stören. Kein Wind darf Veränderungen ankündigen und sie aus ihrer Ruhe reißen.

Es gibt diese Angst aber auch in ganz anderer, sprunghaft und hektisch voranschreitender Gestalt. Dies ist die Angst davor, einmal inne zu halten und still zu stehen, aus der Zeit zu fallen, etwas – den letzten Trend, die neueste Mode – zu verpassen oder nicht zeitgemäß genug zu sein. Es ist die Angst derjenigen, die manchmal nur noch etwas tun, damit etwas getan wurde – ohne dadurch sicherstellen zu können, dass sich wirklich etwas getan hätte. Es ist übrigens auch die Angst vieler, die Kirche und Glauben gleich ganz hinter sich lassen, weil die christliche Botschaft ihnen gänzlich aus der Zeit gefallen erscheint und zu einem Objekt der Vergangenheit geworden ist – einem Objekt, geeignet fürs Museum und vielleicht für den ein oder anderen noch sentimental begangenen Fest- und Feiertag.

Die Angst vor dem Neuen führt zum Bewahren um des Bewahrens willen, zu einer rührseligen Erstarrung in tradierten Formeln, Riten und Gebräuchen. Die anders gelagerte Angst vor dem Stillstand hält nicht einfach nur in Bewegung, sondern führt zu einer inneren Ruhelosigkeit, einem Bewegtsein um der bloßen Bewegung willen, einem idealistischen Aktivismus, der oft zu einer tiefen Erschöpfung, zu seelischen Burn-Out oder auch zu einem verzweifelten Zynismus führt – und dann sogar in eine Angst vor dem Neuen umkippen kann. In beiden Fällen – sei es die "passivistischer" Trägheit oder die aktivistische Zerstreuung – wird die Seele von innen heraus von den eigenen Ängtsen aufgefressen. Übrig bleibt eine leere Hülle, ein äußerer Schein, der von keinem Leben mehr erfüllt ist, ein ungedeckter Scheck, ein Gemäuer, das mehr und mehr zu einer Ruine wird.

In einer erschütternden Weise bedingen sich beide Tendenzen sogar – die Bewahrung um der bloßen Bewahrung willen und die Bewegung um der bloßen Bewegung willen. Sie sind wie ein unglückliches, seit langem verheiratetes Ehepaar, das nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander leben kann. Und es ist diese Dialektik, diese Spannung von Erstarrung und Erschöpfung, von Stillstand und Ruhelosigkeit, von Restauration und Revolution, die die gegenwärtige Kirche – nicht immer, nicht überall, aber zunehmend, gerade in globaler Perspektive – zu charakterisieren scheint. Dabei ist es nicht einfach so, dass man die verschiedenen "Lager" in der Kirche – die "Rechten" oder die "Linken", die "Konservativen" oder die "Progressiven" – einer der beiden Ängste klar zuordnen könnet. Nicht selten finden sich beide Ängste – und dann eben auch Betriebsamkeit und Lethargie – in ein und derselben Person.

Doch woher diese Ängste? Es gibt viele Gründe, auf die ich im Einzelnen nicht eingehen möchte. Vielleicht ist es gerade der Druck eines langjährigen Reformstaus, der zu diesen Extremformen, diesen – vereinfacht gesprochen – radikalen Spannungen von Restauration und Revolution geführt hat. Andere Gründe sind zu nennen für diese Spannungen, die wir alle kennen, und die sich nicht auf einen einzigen Nenner bringen lassen. Es stellen sich derzeit in der Tat viele drängende Fragen. Aber vielleicht gibt es noch eine tiefere Dimension, die seltener in den Blick gerät. Könnte es sein, dass diese Ängste auch darauf zurückgehen, dass gerade in der Kirche irgendwie der Glaube an Gott fraglich oder brüchig geworden oder sogar verloren gegangen ist? Das Gegenteil von Angst ist ja nicht einfach nur der Mut, sondern, wie Kierkegaard festgestellt hat, der Glaube. Doch woran glauben wir in unseren Ängsten noch? Woran können wir noch glauben? Glauben wir noch an einen lebendigen Gott, der uns in Anspruch nimmt – jeden Einzelnen je neu? Der in der Geschichte – im Hier und Heute – wirkt und mit uns in Beziehung tritt? Dessen Botschaft uns noch etwas zu sagen hat? Der uns verwirrt, irritiert, überrascht? Der uns fordert, herausruft, anspricht? Oder haben wir uns nicht schon längst gerade auch in der Kirche einen Gott nach unserem Bilde gemacht – einen Götzen oder ein Idol, das genau unsere Vorlieben teilt, ein parteilicher Gott, der zufällig auf unserer Seite steht?

Was ist jedoch mit dem göttlichen Gott, der sich aller Festlegungen entzieht? Dem nicht von Menschen gemachten Gott, der uns näher ist, als wir uns je selbst nahe kommen könnten, und der doch zugleich ein fremder Gott bleibt? Dem Gott, sich selbst entäußert hat und für uns und unser Heil Mensch geworden ist? Dem ganz anderen Gott, der allein heilig ist – und der all unsere menschlichen "Heiligtümer" in den Schatten stellt? Der Gott Abrahams, Israels und Jakobs, der Gott Jesu Christi, nicht der Gott der Philosophen, wie Blaise Pascal in einer "feurigen" Nacht – vielleicht etwas zu zugespitzt – formulierte, aber sicherlich auch nicht der Gott der Parteien und unserer menschlich, allzu menschlichen Interessen und Wünsche? Spielt dieser Gott noch eine Rolle? Hören wir noch auf ihn und sein Wirken in der Geschichte? Hören wir noch von ihm? Zeigt er sich nicht gerade in der Krise (und nicht trotz der Krise)? Was will er uns in genau dieser Situation sagen?

Vielleicht kommt hier die Theologie ins Spiel – nicht als eine lebensferne akademische Disziplin, sondern als existenzielles Wagnis, als geistliche Übung, als reflektierte Erfahrung, als intellektuelle Herausforderung: als Rede von einem göttlichen Gott, als Wort von diesem Gott her und auf ihn hin? Wäre ein Sinn von Theologie, von Gottesrede – in Erfurt und anderswo – dann nicht – an den göttlichen Gott zu erinnern und Glauben gegen die Angst zu setzen, gerade auch in einer Kirche, die so mit sich selbst beschäftigt sein könnte, dass sie den Ruf Gottes nicht mehr hören und die viel beschworenen Zeichen der Zeit gar nicht mehr deuten kann? Brauchen wir nicht gerade in der Kirche mehr intellektuell redliche, ehrliche, auch die eigenen Ungewissheiten und Zweifel ertragende Theologie – Gottesrede – als weniger – um den Ängsten in die eine oder andere Richtung etwas entgegensetzen zu können, um die fatale Dialektik von Erstarrung und Ruhelosigkeit unterbinden zu können, um eine neue Mitte zu finden? Theologie als Befreiung von den Ängsten und als Befreiung zu einem Glauben, der selbst frei macht. Theologie also als Werkzeug und Zeichen des Glaubens.

III. Gesellschaft und Theologie

Die gesellschaftliche Belanglosigkeit der Kirche kann kaum unterschätzt werden. Manchmal täuschen – vor allem in den westlichen Bundesländern – die äußeren, langsam verblassenden Zeichen äußeren Einflusses noch über diesen Bedeutungsverlust hinweg. Doch ist die Kirche – als Zeichen der Nähe Gottes – immer mehr zu einem Fremdkörper, einer Parallelkultur, einem manchmal noch groß inszenierten Theater geworden. Diese Krise ist zu einem beträchtlichen Grad auch selbstgemacht. Ein ängstlicher, seelenloser Glaube wird nämlich auch gesellschaftlich belanglos. Er spielt keine Rolle mehr. Darauf, dass das Salz, das wir Christinnen und Christen sein sollen, schal werden kann, hat übrigens schon Jesus hingewiesen. Dieser Bedeutungsverlust verschärft sich in einer Gesellschaft, die selbst von Ängsten durchzogen ist. Wir leben nämlich nicht nur in einer Kirche, sondern – wie bereits gesagt – auch in einer Gesellschaft der Ängste.

Die gesellschaftlichen Ängste sind den kirchlichen sehr ähnlich. Auch hier lässt sich eine Dialektik von politisch oft äußerst gefährlicher Rückwärtsgewandtheit und zielloser Aktivität feststellen. Im gesellschaftlichen Bereich erfahren wir nämlich oft eine Hoffnungslosigkeit, die uns manchmal voller Angst – vor den Folgen der Digitalisierung, der weltweiten Migration, der Klimakrise, der Corona-Pandemie, des demographischen Wandels, der Verschiebung globaler Mächte – erstarren lässt oder zu blindem Aktivismus führt – Hauptsache wir haben irgendetwas getan oder zumindest darüber gesprochen. Auch in der Gesellschaft finden sich Menschen, die eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat, verherrlichen, und andere, die alles in Frage stellen, was Menschen einmal etwas bedeutet und Heimat geschenkt hat. In der westlichen Welt erleben wir daher Spannungen wie seit langem nicht. Die Politik des reißerischen und menschenverachtenden Populismus ist genauso eine Folge der Angst wie die wirren und nicht weniger menschenverachtenden Ansichten der Querdenker oder eine irritierend breit rezipierte Kritik an unverzichtbaren Idealen der Aufklärung wie etwa dem moralischen Universalismus oder den allgemein geltenden Grundprinzipien der Vernunft. Auch in der Gesellschaft essen unsere Ängste unsere Seelen auf. Viele Soziologen machen genau darauf aufmerksam. Und ohne Seele schwanken wir hin und her – in zunehmend polarisierten Gesellschaften, die ähnlich wie die Kirche ihre innere Mitte, ihren Zusammenhalt verloren haben, aber sich, unabhängig vom politischen Lager, umso heftiger um "Identität" und die Abgrenzung von anderen bemühen. Ich deute von den Extremen her – es gibt sicherlich noch eine breite Mitte, aber wie schwach und gefährdet diese manchmal sein kann, zeigen nicht zuletzt auch die Entwicklungen in den USA.

Können wir, so müssen wir angesichts dieser Ängste und ihrer Folgen fragen, noch sagen, worum es uns eigentlich geht? Was uns eigentlich zusammenhält? Wer wir sind – jenseits der Funktionen, die wir erfüllen? Verbinden wir mit Worten wie Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden oder auch Bewahrung unserer natürlichen Umwelt noch eine konkrete Bedeutung oder sind all diese großen Worte zu nützlichen Floskeln im politischen Diskurs erstarrt?

Welche Hoffnung haben wir noch, wenn wir von der europäischen Idee hören oder der Einsicht, dass alle Menschen eine unverletzbare Menschenwürde haben? Was tun wir noch – in der Hoffnung, dass durch unser Handeln die Welt ein besserer Ort werden könnte?

Die Krisen der Kirche und die Krise der Gesellschaft verstärken einander. Wäre aber die Theologie – als immer auch hoffnungsvolle Rede von Gott, als Hoffnung auf einen Gott, der es gut mit uns meint, der sich in unserem Nächsten zeigt, nicht auch gesellschaftlich wichtig? Wäre es nicht Aufgabe einer solchen, Theologie, die Gottes Güte wider den Augenschein und die alltägliche Trostlosigkeit zur Sprache bringt, daran zu erinnern, dass Menschen sich nicht in ihren Funktionen erschöpfen und dass es radikal Neues unter der Sonne geben kann? Oder aus den prophetischen Traditionen der Gottesrede heraus darauf aufmerksam zu machen, was Gerechtigkeit gegenüber allen Menschen bedeutet oder worum es in unserem gemeinsamen Leben eigentlich geht? Könnte ein von einer solchen Theologie bestimmte hoffnungsfroher, seelenvoller Glaube nicht auch wieder neu die Gesellschaft verwandeln, Salz in einer ansonsten schalen Suppe sein – weil die Gemeinschaft der Gläubigen nicht mehr voller Ängste um sich selbst kreist, sondern um das, was man altmodisch, aber immer noch treffend das "Heil" des Menschen nennt?

Eine hoffnungsvolle Kirche könnte ganz neue Wege finden, Kirche in der Welt von heute zu sein. Sie müsste, das ist oft schon, etwa in den Ansätzen zu einem "Vorhof der Völker" betont worden, sich öffnen und eine gastliche, dem Anderen, dem fremden, dem fragenden, suchenden und zweifelnden Menschen zugewandte Kirche werden. Gerade hier kann die Theologie eine wichtige Rolle spielen – indem sie versammelt, Räume eröffnet, zwischen verschiedenen Positionen vermittelt, in verschiedene Sprachen übersetzt. Aber das reicht nicht. Es ist eine noch radikalere Bewegung erfordert, nämlich der Exodus aus der Sicherheit der Kirchengebäude und kirchlichen Blasen und Ghettos heraus in die Welt, in der wir ohnehin schon leben. Wer glaubt – und das ist uns oft noch gar nicht bewusst – sollte nicht nur Gastgeber sein, sondern auch "Gastnehmer" – ganz dem Vorbild Jesu folgend, der sich auf den Weg machte, um bei den Menschen zu sein.

Das aber ist ein größeres Wagnis. Denn es bedeutet anzuerkennen, dass der Andere nicht nur am Rande, jenseits der Schwelle steht, sondern in einem eigenen Zentrum, dass er nicht nur unserer Hilfe bedarf, sondern uns helfen kann, dass er nicht nur Ohren zum Hören hat, sondern auch einen Mund, mit dem er uns ansprechen kann. Gott ist nicht nur in der Kirche, sondern an ganz ungewöhnlichen Orten. Oder anders: Auch ganz ungewöhnliche Orte sind göttliche, theologische Orte, sind loci theologici, deren Bedeutung es von einer Theologie, die nicht nur zu sprechen, sondern auch zu hören gelernt hat, zu erschließen gilt.

Wir denken manchmal zu klein von Gott, als dass wir wirklich annehmen würden, dass er sich überall zeigen kann. So vieles kann zum Sakrament, zum Zeichen der Nähe Gottes werden – aber ganz besondere der Mensch selbst, der leidende, der kranke, der schwache Mensch. In ihnen Spuren Gottes zu finden, in ihrem Antlitz das Bild Gottes zu entdecken, allein das wäre schon ein Zeichen der Hoffnung in einer Gesellschaft der Ängste, die mehr und mehr um sich selbst kreist und trotzdem ihr Zentrum verloren hat?

Diese Hoffnung hat radikale Konsequenzen. In einer Zeit der Selbstoptimierung zeigt sie beispielsweise, dass der Mensch sich nicht selbst erlösen muss, dass er, nicht selbst zu einem perfekten Halbgott werden muss, da ja Gott tot sei, sondern dass der Mensch in all seinen Schwächen und Begrenzungen von Gott her sein darf. Hoffnung auf Erlösung statt verzweifeltes, aber letztlich scheiterndes Bemühen um Selbsterlösung. Und in einer Zeit, in der wir oft dem Schicksal des anderen, fremden Menschen – außerhalb von Europa, an den Grenzen Europas, aber auch in unseren eigenen Städten und Straßen – mit Gleichgültigkeit begegnen, erinnert uns diese Hoffnung daran, dass ein jeder Mensch sein soll, was er von Gott her und auf ihn hin ist: Ebenbild Gottes. Hoffnung kann uns befreien – von den Zwängen, die mit unseren Ängsten verbunden sind, aber auch zu einem wahren Menschsein mit- und füreinander.

Freilich kann weder die Theologie noch die Kirche alleine, ganz auf sich gestellt, einer Gesellschaft der Angst die Hoffnung wiedergeben. Aber es ist möglich und notwendig für Theologie und Kirche, um des Menschen willen die Stimme zu erheben, das alte, aber so aktuelle Wort von Gotts Menschenliebe zu wiederholen und in schwierigen Zeiten neue Bündnisse zu schließen – auch über die Grenzen zwischen glaubenden und nicht-glaubenden Menschen hinweg, mit allen, denen der Mensch ein Anliegen ist, gegen den Geist der Hoffnungslosigkeit, der unsere spätmoderne Welt durchzieht. Denn den Populisten und Technokraten, den Zynikern und Spöttern, den Gleichgültigen und Verhärmten, ja, der abgründigen, völlig hoffnungslosen Verzweiflung darf nicht das letzte Wort bleiben. Theologie also als Werkzeug und Zeichen der Hoffnung.

IV. Universität und Theologie

Auch die Wissenschaften und mit ihnen die Universität sind in einer Krise, die ich angesichts der Zeit und der Kälte nur sehr kurz beschreiben möchte – wohlwissend darum, dass dies mit Verkürzungen verbunden ist. Aber finden wir nicht auch im Bereich der Wissenschaft und somit in unseren Universitäten eine Dialektik von Absolutsetzung eines bestimmten Verständnisses von Wissenschaft und ihrer radikalen Infragestellung? Ein radikaler Szientismus, die Absolutsetzung eines bestimmten Verständnisses von Wissenschaft sagt uns etwa, dass unser lebensweltliches, alltägliches Selbstverständnis – Grunderfahrungen wie Freiheit und Verantwortung, Liebe und Freude, Schuld und Güte –, letztlich, aus der Sicht der Hirnforschung oder der Soziobiologie etwa, illusorisch sei oder dass es darum gehen müsse, den Menschen in seiner Endlichkeit und Gebrechlichkeit zu überwinden und dass auf diesem Wege zum post- oder transhumanistischen "neuen Menschen", die Theologie, die Gottesrede nur ein irritierender, altertümlicher Fremdköper sein könne. Eine bestimmte Form der Wissenschaft wird so zum Religionsersatz und erhebt totalitäre Ansprüche. Nichts kann ihrem Anspruch entgehen. Alles muss auf ihr Maß gebracht werden. Der Übermensch der Zukunft, der immer gesunde, perfekte, mit der Technik zunehmend vermählte Mensch, tritt an die Stelle Gottes.

Der relativistische Gegenpol zur szientistischen oder naturalistischen "Offenbarung" löst hingegen jeden Anspruch auf Wahrheit auf und deutet ihn, wenn nicht alles auf funktionale Zusammenhänge reduziert wird, als bloße Äußerung eines subjektiven Willens zur Macht oder allgemeiner, oft unbewusst bleibender sozialer oder psychischer Strukturen. Unter diesen Vorzeichen darf man von Wahrheit gar nicht mehr sprechen. Das wäre schon ein Vergehen gegen einen Zeitgeist, der überall Macht- und Herrschaftskonstellationen wittert.

Eine hyperfaktisch-positivistische und eine postfaktisch-relativistische Weltsicht stehen in den Universitäten der Gegenwart oft unvermittelt einander gegenüber. Auch diese Tendenzen mögen auf eine Angst zurückgehen, nämlich auf die Angst, die mit unserem Streben, unserer Liebe nach Wahrheit verbunden ist. Denn als endliche Menschen werden wir Wahrheit nie vollständig erreichen, besitzen oder begreifen. Macht uns dies nicht oft Angst? Ist Wahrheit nicht oft ein zu großes Wort, als dass wir ihm – oder gar der Wahrheit selbst – entsprechen könnten? Wollen wir uns nicht deshalb der Illusion hingeben, wir hätten die Wahrheit ein für allemal? Oder bezweifeln wir nicht deshalb die Bedeutung dieses Wortes überhaupt?

Dass wir Wahrheit nicht endgültig besitzen können, bedeutet jedoch nicht, dass es gar keine Wahrheit gäbe oder dass alle gleich gültig wäre oder nur als Ausdruck eines universalen Willens zur Macht zu verstehen sei. Wir können uns auf Wahrheit hin orientieren. Wenn es gilt, diese Orientierung auf Wahrheit hin, diese Liebe zur Wahrheit zu verstehen und lebendig zu halten, kann gerade die Theologie eine wichtige Rolle einnehmen. Denn sie bewahrt die antike philosophische Liebe der Wahrheit – das ist ja die Bedeutung von "Philosophie" – und radikalisiert sie noch, so dass sie manchmal heute zu einem der letzten Refugien der Wahrheit geworden ist. Denn sie zeigt, dass und wie es für endliche Menschen möglich ist, die Wahrheit, in der sich in ihren Augen immer auch Gott, der die Wahrheit selbst ist, zeigt, zu lieben – und ihr die Ehre zu geben.

Moderne Wissenschaft steht zu Recht unter der Prämisse eines methodologischen Atheismus. Sie geht vor, als ob es Gott nicht gäbe, und erreicht dabei großartige Erkenntnisse. Aber das ist ein Irrealis, der eine bloße Möglichkeit anzeigt. Wenn es Gott tatsächlich nicht gäbe, würde dann nicht auch die Wissenschaft sich radikal verändern – und hat sie das unter dem Vorzeichen eines praktischen Atheismus nicht auch getan? Kein anderer als Nietzsche hat diese Vermutung gehegt: Wenn Gott tot sei, könne die Wissenschaft nur selbst zu einer Pseudoreligion werden oder sich im Chaos radikaler Orientierungslosigkeit verlieren. Wäre daher die theologische Liebe zur Wahrheit, in der sich Gott zeigt, nicht ein Zeugnis, das gerade heute wichtig wäre? Und sei es ein Zeugnis in religiös indifferenten Kontexten als unbequeme Erinnerung, als Stachel, als Mahnung, dass wir Menschen wahrheitsliebend und wahrheitsfähig sind, dass es da jenseits der oft selbstreferenziellen Welt der Wissenschaften vielleicht etwas anderes geben könnte – Gott als das große Gegenüber zu allem, das ist – und dass daher der Horizont unserer Welt und unseres Wissens nicht eine letzte, sondern nur eine vorletzte Bedeutung hat. Auch das wäre eine befreiende Botschaft – befreiend von den Ängsten angesichts des Anspruchs der Wahrheit, aber auch befreiend zu einem Menschsein, dessen Würde darin liegt, dass wir auf Wahrheit hin orientiert sind. Wir müssen nicht die Wahrheit ein- für allemal besitzen, wir können es noch nicht einmal, aber wir dürfen, so kann eine Gottesrede zeigen, die Gott als der Wahrheit die Ehre tut, auf Wahrheit hin orientiert sein – weil sich die Wahrheit uns immer schon zugesprochen und geschenkt hat. Theologie also als Werkzeug und Zeichen der Liebe zur Wahrheit.

V. Wagnis Theologie

Die Theologie löst nicht alle Probleme. Sie lässt sich auch nicht funktionalisieren, denn dann würde sie verlieren, was ihr wesentlich ist: der Bezug auf einen Gott, der alle Funktionen, die er erfüllen mag, radikal übersteigt. Aber es hat Konsequenzen – kirchlich, gesellschaftlich, universitär –, ob wir von Gott sprechen oder nicht. Wozu also Theologie? Weil wir, wenn wir menschlich leben wollen und Gottes Anspruch einmal – und sei es nur kurz gewesen – erfahren haben, vielleicht gar nicht anders können. Weil die Rede von Gott – ob nun in akademischer oder in anderer Form – uns an Gott glauben, auf Gott hoffen und Gott lieben lässt. Weil die Krisen in Kirche, Gesellschaft und Universität auch darauf zurückgehen könnten, dass wir zu wenig Theologie – zu wenig Gottesrede – gewagt haben. In Anlehnung an Willy Brandt möchte ich sagen: Wir müssen mehr Theologie wagen!

Wohin geht also die Theologie, die wir wagen sollten? Auf Gott hin, weil sie von Gott her kommt. Das ist ganz schön abenteuerlich. Aber wäre das Leben nicht langweilig und traurig ohne dieses Abenteuer der Theologie, wäre es nicht voller Angst, seelenlos und eiseskalt ohne das Licht Gottes – oder ohne zumindest gelegentlich von diesem Licht zu träumen und von ihm zu sprechen?

Ein so abenteuerliches theologisches Sprechen wäre demütig, stammelnd, zweifelnd und manchmal auch verzweifelnd, wie wir es heute nicht anders können. Es würde Neues entdecken und Altes übersetzen, auf andere Menschen, ihre Erfahrungen und Traditionen hören und vor der Zukunft nicht zurückschrecken, sondern sich ihr innovativ und inspiriert – begeistert, geisterfüllt – stellen. Dieses Sprechen wäre orientiert, hingerichtet auf jenes Geheimnis, das wir Gott nennen und das unseren Ängsten ihre

Bedeutung nimmt. Und zeige diese Geheimnis, dieser nahe-ferne Gott sich in einem Sonnenstrahl, der die winterliche Kälte durchbricht – oder in einem Eiskristall, dessen Harmonie uns wie den Heiligen Albertus Magnus staunen, wundern, fragen, denken und vielleicht auch beten lässt.

Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski ist seit 2020 Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät.

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