Zwischen Fußballfieber, Inflation und Lebenslust –mein Auslandssemester in La Plata, Argentinien

Titelbild für Blogbeitrag "Ich bin dann mal weg" mit Studentin Julia

Julia studiert Internationale Beziehungen und Geshcichtswissenschaft im Bachelor an der Universität Erfurt. An der Universidad Nacional de La Plata (UNLP) in La Plata (Argentinien) hat sie ein Auslandssemester verbracht. Und hat sich dort nicht nur auf die landestypische Leidenschaft zum Fußball eingelassen, sondern auch sonst auf Land und Leute. Und hat sich dabei in das Land verliebt. Warum, erzählt sie hier...

Als ich mich vor etwas mehr als einem Jahr für ein Auslandssemester an der Universidad Nacional de La Plata (UNLP) bewarb, hatte ich absolut keine Vorstellung davon, was auf mich zukommen würde und wie sehr mich dieses halbe Jahr sowohl persönlich als auch akademisch bereichern würde. Um ganz ehrlich zu sein: Ich wusste noch nicht einmal, dass es sich bei La Plata nicht um ein Viertel in der Hauptstadt Argentiniens, Buenos Aires, handelt, sondern um die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Ups... La Plata liegt, je nachdem welches Verkehrsmittel man nutzt, circa eine bis zwei Stunden vom Zentrum Buenos Aires entfernt (und es kostet euch weniger als einen Euro mal kurz in die Hauptstadt zu "hüpfen"). Ganz sooo falsch lag ich dann also doch nicht.

Im Nachhinein bin ich auf jeden Fall unglaublich glücklich an der UNLP in La Plata gelandet zu sein und würde die "Stadt der Diagonalen", eine Stadt voller Geschichte, Kultur und Studierenden allen an einem Auslandssemester in Lateinamerika Interessierten ans Herz legen. La Plata ist zwar eine Großstadt und hat dementsprechend viel zu bieten, vermittelt aber durch die vielen Parks und das sehr definierte Zentrum eher die Atmosphäre (die "onda", wie man in Argentinien so schön sagt), einer Kleinstadt. Die Menschen hier sind einfach unglaublich offen und freundlich, was dazu beitrug, dass ich mich in La Plata immer sehr wohl und sicher gefühlt habe.

Kirche

Aber es ist nicht nur die Stadt La Plata, sondern es ist das Land Argentinien und es sind die Menschen, die mich begeistern.

Wenn mich jemand fragt, was ich an Argentinien bzw. an Argentinier:innen am meisten mag (eine Frage, die überraschend oft gestellt wird – von Argentinier:innen), ist meine Antwort klar. Es ist weder das Asado, noch der Mate oder der Fernet an sich, aber all diese sehr typisch argentinischen Dinge haben damit zu tun: Argentinier:innen teilen. Und zwar alles.

Vielleicht hat es mit der sehr1 instabilen ökonomischen Lage und der hohen Armutsrate im Land zu tun, vielleicht ist es einfach ihre Art, aber alles wird geteilt: Das Asado am Wochenende, der Mate, der Fernet, die Lebensgeschichten. Und zwar nicht nur mit Freund:innen und Familie, sondern mit dem Verkäufer im Gemüseladen, der Frau von der Apotheke, dem Pärchen an der Bushaltestelle oder den Mitstudierenden. Es kommt durchaus vor, dass man nur kurz eine Gurke kaufen möchte und erst nach einer halben Stunde den Laden verlässt; mit Gurke und der Information, dass die Nichte der Cousine der Freundin des Gemüseverkäufers vor vier Jahren und zwei Tagen mal in Deutschland war. Und wenn man mal zu wenig Geld für den Einkauf eingesteckt hat (was bei den ständig steigenden Preisen schon mal passieren kann), bieten die Verkäufer:innen oft an, dass man das fehlende Geld einfach später vorbeibringen kann.

La Plata ist zudem eine absolute Studierendenstadt. Die UNLP und insbesondere die Faculdad de Humanidades y Sciencias de la Educación (FaHCE) sind für ihre hervorragende Lehre und Forschung bekannt und ziehen Menschen aus dem ganzen Land an, was zu einer jungen, bunten Stadt führt, in der jede:r eine Nische findet. Die FaHCE ist außerdem ein sehr politischer Ort; überall hängen Plakate, die für verschiedene politische Ansätze und Organisationen werben. Auch wenn das Plakatgewirr zu Beginn ein wenig überfordernd ist, mit der Zeit – und ausführlichen Erklärungen Mitstudierender – versteht man immer mehr und lernt den Mikrokosmos argentinischer Politik an der Fakultät zu schätzen.

UNLP Außenansicht
UNLP Flur mit Plakaten
UNLP Außenansicht

Das Semester an der FaHCE hat zweifelsohne meinen akademischen, aber auch meinen persönlichen Horizont erweitert. Das Studium an der UNLP, ganz abgesehen davon, dass dort auf Spanisch studiert wird, ist anstrengend und herausfordernd. Vielleicht herausfordernder als in Erfurt. Die Systeme und Anforderungen unterscheiden sich in jedem Fall sehr. Ich besuchte vier Kurse, die jeweils vier Stunden in der Woche umfassten, was einen stattlichen "Workload" bedeutete. Der Unterricht war aber unglaublich spannend; das Verhältnis zwischen Dozent:innen und Studierenden ist in Argentinien deutlich entspannter als in Deutschland und es war sehr bereichernd, Inhalte aus einer anderen, nicht-europäischen Perspektive vermittelt zu bekommen. Das Semester hat mich intellektuell gefordert und mich meine Sicht auf Dinge reflektieren lassen. An dieser Stelle aber ein kleiner Tipp: Wenn ihr nicht aus irgendwelchen Gründen vier Kurse belegen müsst – macht es nicht. Besucht zwei oder drei Kurse, konzentriert euch auf diese und genießt euer Sozialleben ;-).

Fußballspiel im Stadion in La Plata

Um uns die Umstellung auf das argentinische System zu erleichtern, stellte das Internationale Büro der FaHCE uns internationalen Austauschstudierenden sogenannte estudiantes guias, an die Seite. Die guias sind argentinische Studierende, die uns den Campus und das Leben in La Plata erklären sollten. Einige von ihnen werden im folgenden Semester dann nach Deutschland kommen um hier zu studieren. Das System funktionierte in einigen Fällen besser und in anderen weniger gut, in meinem Fall jedoch war mir meine estudiante guia eine große Hilfe. Außerdem formte sich aus den guias und den internationalen Studis eine Gruppe, die zumindest zu Beginn viel unternahm und half, Kontakte zu knüpfen. An eines der Treffen in einem der vielen süßen Cafés La Platas kann ich mich besonders gut erinnern. Insbesondere, da es damit endete, dass ich spontan in einem der zwei Fußballstadien der Stadt landete und mit neu gewonnenen argentinischen Freund:innen ein Spiel des "Lobo", des Wolfes, aka des Vereins "Gymnasia y Esgrima La Plata" anschaute. Der Tag endete schließlich in einer Bar und als ich im Taxi nach Hause saß, fühlte ich mich zum ersten Mal so richtig angekommen. An dieser Stelle noch ein Tipp: Auch, wenn ihr keine großen Fußballfans seid, es lohnt sich auf jeden Fall einmal in Argentinien ins Stadion zu gehen!

Ich für meinen Teil beschloss, mich der allgemeinen argentinischen Liebe zum Fußball hinzugeben und begann sogar selbst zu spielen. Die entspannte Partie jeden Samstagabend wurde zu einem festen Bestandteil meines Lebens hier und aus Mitspieler:innen wurden Freund:innen. Abgesehen von Fußball gibt es in La Plata jedoch noch viele weitere Möglichkeiten, Sport zu machen und Menschen kennenzulernen. Viel findet im Freien und sehr niedrigschwellig statt; auf den verschiedenen Plazas werden von Tangokursen über Salsa-Partys und Zumba bis hin zu Zirkeltraining die verschiedensten Aktivitäten angeboten.

An einem sonnigen, warmen Tag Mitte Dezember füllten sich die Plazas La Platas sowie ganz Argentiniens jedoch aus einem anderen Grund: Es war der 18.12.2022 und "La Scaloneta", wie die Argentinier:innen das Nationalteam von Trainer Lionel Scaloni liebevoll nennen, hatte soeben nach einem nervenaufreibenden Finale gegen Frankreich Millionen Argentinier:innen ihren größten Traum erfüllt: den Weltmeistertitel. Bereits während der Gruppenphase und anschließend in Achtel-, Viertel- und Halbfinale lag Spannung in der Luft. Die allgemeine WM-Euphorie war deutlich zu spüren und nach jedem Sieg strömten mehr Menschen auf die Straße, um zu feiern. Es ging dabei nicht unbedingt nur um Fußball; es ging um Stolz, Leidenschaft und geteiltes Glück. Es strömten nicht nur Fußballfans auf die Straßen, sondern alle. Der WM-Sieg der argentinischen Mannschaft war ein Lichtblick, ein Moment ungehemmter Freude inmitten einer langanhaltenden Krise. Und alle feierten diesen Moment gemeinsam; Argentinier:innen buchstäblich jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder sozialen Schicht tanzten, sangen und umarmten sich. Die Stimmung, die an diesem 18. Dezember im ganzen Land herrschte, ist schlichtweg nicht zu beschreiben. Es war wunderschön.

Feier über den WM-Sieg der „La Scaloneta“ (argentinisches Nationalteam) am 18.12.2022

Wunderschön, genau wie dieses ganze, absolut riesige, diverse, tolle Land voller Kontradiktionen; geplagt von einer dauerhaften ökonomischen Krise, Inflation und Massenarmut, in dem zugleich die offensten, freundlichsten und lebensbejahendsten Menschen leben, die ich je getroffen habe.

Falls es euch beim Lesen noch nicht aufgefallen ist: Ich habe mich komplett in Argentinien verliebt und ich bin mir sicher, wenn ihr dem Land eine Chance gebt, wird es euch genauso gehen.

See in den Bergen in Argentinien
Wasserfall Argentinien
Landschaft Argentinien

Glossar

Asado

Das Wort asado stammt von dem Verb asar ab, was so viel bedeutet wie braten. Asar a la parilla bedeutet grillen, was das asado zu einer Grillmahlzeit oder auch einer gegrillten Speise macht. So die Übersetzung. Das Asado ist aber mehr, es ist ein Ritual, das die Argentinier:innen ausmacht – das Essen ist dabei nur der Vorwand, zum asado gehören Freunde, Familie und unzählige Geschichten2.

Fernet

Fernet ist ein absolut typisch argentinisches Getränk, das man auf jeder Party, in jeder Bar und in jedem Kiosk des Landes findet. Der Bitterlikör kommt ursprünglich aus Italien und wird in der Regel mit Cola gemischt getrunken. Oft aus einer durchgeschnittenen 2-Liter-Flasche, weil es sich so besser teilen lässt.

Mate

Mate ist eine Infusion, die Argentinier:innen buchstäblich zu jeder Uhrzeit und in jeder Situation trinken können. Das Getränk wird in einem speziellen Becher von einer Person serviert und in der Runde herumgegeben. In der Vorlesung, auf der Plaza, am Strand und auch sonst überall.

Onda

Heißt übersetzt "Welle". Verwendet wird das Wort eher im Sinne von „vibe“, im Deutschen am ehesten vielleicht vergleichbar mit „Ausstrahlung“.
Beispielsatz: ¡Qué buena onda, el chabón! --> Richtig cool drauf, der Typ!

Plaza

Ein öffentlicher Platz.


1 sehr sehr instabil. Stand 13.01.2023 fast 95% Inflation. Das bedeutet: immer größer werdenden Berge an Bargeld mit sich herumtragen und dass die Empanada in deinem Lieblings-Take-Away jede Woche teurer wird. Zumindest in Pesos – da der Euro weitestgehend stabil bleibt, steigt auch der Wechselkurs ständig an.

2 Diese Definition habe nicht ich mir ausgedacht, sondern ihr findet sie hier, zusammen mit einem wirklich goldigen Text (auf Spanisch) und sogar einer Anleitung für euer nächstes Asado.