"Für entgangene Bildung zahlt am Ende die gesamte Gesellschaft"

Corona und die Folgen , Gastbeiträge
Homeschooling

Seit Monaten haben Schüler keinen Präsenzunterricht mehr gehabt. Sie lernen zu Hause – im sogenannten Home-Schooling. Die einen mit mehr, die anderen mit weniger Unterstützung durch Eltern und Lehrer. Und auch wenn die Corona-Maßnahmen langsam gelockert werden und für manche Klassen Präsenzunterricht wieder greifbar wird, bleibt die nahe Zukunft ungewiss, weitere Schulschließungen bleiben nicht ausgeschlossen. Welche Konsequenzen wird das langfristig für die Schülerinnen und Schüler haben? Und welche Ideen gibt es, mögliche Defizite beim Lernen wieder auszugleichen? Der Berliner Bildungsforscher und ehemalige Professor an der Universität Erfurt, Marcel Helbig, beispielsweise hat in verschiedenen Interviews eine Verlängerung des Corona-Schuljahrs ins Spiel gebracht. Kann das funktionieren? „WortMelder“ hat bei Johannes Bauer, Professor für Bildungsforschung und Methodenlehre an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Erfurt, nachgefragt…

Prof. Dr. Johannes Bauer
Prof. Dr. Johannes Bauer

„Die Frage zu beantworten, ist gar nicht so leicht. Wir haben einerseits noch viel zu wenig Befunde über die Auswirkungen der Schulschließungen, andererseits ist das Ganze natürlich aktuell auch eine politische Diskussion. Aber zunächst ist dem Kollegen Helbig in seiner Analyse der Problemlage voll und ganz zuzustimmen. Sie spiegelt Stellungnahmen wieder, mit denen einschlägige Wissenschaftsverbände bereits im ersten Lockdown auf die Bedrohungen hingewiesen haben, die aus den Einschränkungen von Erziehungs- und Bildungsangeboten auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen resultieren – und die  im Übrigen nicht nur die Schulleistung betreffen, sondern die gesamte soziale, kognitive und emotionale Entwicklung.

Wir sehen im Augenblick, dass die schwierige Corona-Situation Kinder und Jugendliche sehr unterschiedlich hart trifft und damit die Schere im Bildungssystem weiter öffnet. Kinder, die ohnehin gut sind und ein unterstützendes Umfeld haben, kommen auch mit dem Home-Schooling klar. Manche erwerben dabei sogar noch ein paar zusätzliche Fähigkeiten, zum Beispiel eigenständig zu lernen, oder verbessern ihre Medienkompetenzen. Andere wiederum beteiligen sich kaum, sind für die Lehrkräfte nur schwer greifbar und verlieren den Anschluss an die Klasse.

Insofern gibt es sicher keine Lösung, die für alle gleichermaßen passfähig ist. Wir werden nach dem Lockdown sehr genau hinsehen müssen, auf welchem Stand sich die Schülerinnen und Schüler befinden und dann gezielte Fördermaßnahmen ergreifen müssen. Hierfür sind die geforderten sogenannten Lernstandserhebungen sicher eine wichtige Ausgangsbasis. Und dann werden wir schauen müssen, wie man solche Fördermaßnahmen in den laufenden Schulbetrieb integrieren und wie man sie personell abdecken kann. Sicherlich muss man dafür auch Zeitspielräume schaffen - vermutlich wollte Marcel Helbig mit seinem jüngsten Vorschlag, das Schuljahr bis in den Dezember zu verlängern, darauf hinweisen. Aber selbst wenn es organisierbar wäre: Es genügt nach meiner Auffassung nicht, lediglich die Schulzeit zu verlängern – ob nun einmalig bis Dezember oder indem alle ein Jahr wiederholen. Darauf zu hoffen, dass zusätzliche Zeit ohne gezielte Förderung hilft, die entstandenen Defizite zu kompensieren, ist illusorisch, denke ich.

Man wird sich viel mehr der Debatte um eine zeitweise Fokussierung auf die Kernfächer stellen müssen. Und dabei muss unser Ziel sein, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler die Bildungsstandards in unseren zentralen Leistungsbereichen erreichen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Kosten entgangener Bildung betreffen nicht nur die einzelnen Biografien, sondern werden für die Gesamtgesellschaft spürbare Konsequenzen haben.“