Nachgefragt: Wie sollte den aktuellen Widerstands- und Opfernarrativen der Querdenker und ähnlicher Gruppen begegnet werden, Herr Dr. Dorsch?

Gastbeiträge
Judenstern: historisch und ungeimpft

Sie tragen Judensterne und vergleichen sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank: In der Vergangenheit haben Mitglieder der Querdenker-Bewegung sowie andere Corona-Skeptiker und Gegner der Corona-Maßnahmen immer wieder Opfer und Widerständler des Dritten Reiches für ihre Zwecke genutzt. Das verhöhnt nicht nur die Opfer der Hitler-Diktatur, sondern verharmlost auch die Geschichte. In den (Sozialen) Medien hagelte es Spott. Doch Spott allein ist kein guter Weg, sich mit den Querdenkern auseinanderzusetzen, sagt Dr. Sebastian Dorsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Geschichte der Universität Erfurt und Mitbegründer der Initiative „Historiker*innen für ein weltoffenes Thüringen“. Doch was wäre ein guter Weg? „WortMelder" hat bei ihm und seiner Kollegin Melanie Lal nachgefragt: „Wie sollte den aktuellen Widerstands- und Opfernarrativen der Querdenker und ähnlicher Gruppen begegnet werden?“

„Das ist eine hochaktuelle und anregende Frage, die verschiedene Komplexe anspricht, die wir in unserer Initiative ‚Historiker*innen für ein weltoffenes Thüringen‘ (HiWelt) eingehender untersuchen. Zunächst aber: Die Frage ‚Wie sollte … begegnet werden‘ geht über den Bereich der wissenschaftlichen Analyse hinaus. Sie umfasst eine Handlungsanweisung (‚sollte‘) und eine Positionierung (‚begegnet‘) und adressiert damit auch das Verhältnis des Wissenschaftlichen zum Bereich des Politischen und Ethisch-Moralischen. Dieser Aspekt muss uns klar sein und aus einer (geschichts)wissenschaftlichen Perspektive heraus entsprechend behandelt werden.

Zunächst zum Komplex des Vergleichens: Der Vergleich ist in den Geschichtswissenschaften eine der am meisten verbreiteten, aber gleichzeitig eine intensiv debattierte Methode. Vergleichen hat welt-ordnende Funktionen wie beispielsweise bei Fragen nach dem Ich, Wir und den Anderen oder beim Unterscheiden von Gegenwart und Vergangenheit. Vermeintlich objektive Ergebnisse des Vergleichens wie 'die Nation', 'der Westen' oder 'unterschiedliche Entwicklungen' gilt es wissenschaftlich zu reflektieren. So stellt der einschlägige Bielefelder Sonderforschungsbereich 'Praktiken des Vergleichens' die zunächst einfach wirkende Frage: 'Was tun Akteure, wenn sie vergleichen?'[i]

Diese Frage leitet über zum nächsten Komplex: Was tun Querdenker*innen, wenn sie sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank vergleichen? Was tun sie durch das Tragen von 'ungeimpft'-Judensternen oder weißen Rosen? 'Jana aus Kassel' bspw. beginnt ihre mittlerweile durch YouTube berühmte kurze Ansprache vom 21. November bei Querdenken Hannover: 'Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde.' Sie sei '22 Jahre alt, genau wie Sophie Scholl, bevor sie den Nationalsozialisten zum Opfer fiel' und werde 'niemals aufgeben' sich für 'Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit einzusetzen'. Ein Mann kommt, hält seine Weste hin mit den Worten, dass er 'für so einen Schwachsinn keinen Ordner' mehr mache, das sei eine 'Verharmlosung des Holocaust'[ii]. Während 'Jana' verständnislos und emotional reagiert, wird der Mann von sechs Polizist*innen zur Seite begleitet.

 'Jana' fühlt sich wie Sophie Scholl, sieht sich mit ihrem Handeln im Widerstand wie diese, 'bevor sie den Nationalsozialisten zum Opfer fiel'. Schon eine kurze Analyse reicht, um zu zeigen, dass dieses Vergleichen hinkt. Während 'Jana' vom Rechtsstaat, hier sichtbar durch die Polizei, geschützt wird, konnte sich Sophie Scholl in ihrer historischen Situation nicht auf Grundrechte berufen, um öffentlich Reden zu halten, auf Demos zu gehen, Flugblätter zu verteilen oder gar Veranstaltungen anzumelden: Sechs Tage, nachdem sie mit ihrem Bruder Hans Scholl am 18. Februar 1943 beim Verteilen von Flugblättern der Widerstandsbewegung 'Weiße Rose' in der Münchener Universität entdeckt worden war, stand wie heute bei Wikipedia (mitsamt Link zur Originalquelle) nachzulesen, Folgendes in der Zeitung: 'Der Volksgerichtshof verurteilte am 22. Februar 1943 im Schwurgerichtssaal des Justizpalastes in München den 24 Jahre alten Hans Scholl, die 21 Jahre alte Sophia Scholl, beide aus München, und den 23 Jahre alten Christoph Probst aus Aldrans bei Innsbruck wegen Vorbereitung zum Hochverrat und wegen Feindbegünstigung zum Tode. Das Urteil wurde am gleichen Tag vollzogen.'[iii]

'Jana' hätte die Verschiedenheit der beiden historischen Situationen kennen können, sogar relativ einfach über den zitierten Wikipedia-Link. Aufklärung und das Anregen zum Nachdenken hängt also nicht nur von entsprechenden Angeboten ab – von denen es zahlreiche und sehr gute gibt[iv] –, sondern auch von der Akzeptanz zur Auseinandersetzung mit den Angeboten. Historisches Wissen ist unabdingbar für eine lebendige Erinnerungskultur. Und eine solche historische Aufgeklärtheit macht Vergleiche zwischen der Corona- und der NS-Zeit absurd.

Was also tut 'Jana', wenn sie vergleicht?

Sie stellt ihr Gegenüber – vermutlich den Staat, in dem sie lebt – in die Nähe des Gegenüber von Sophie Scholl, nämlich die NS-Gewaltherrschaft. Damit stilisiert sie sich und das bildlich hinter ihr stehende Querdenken als 'Opfer'. Die Untersuchung ist somit beim nächsten Aspekt der Eingangsfrage angelangt, den Opfernarrativen der Querdenker*innen. Wir wissen aus zahlreichen historischen Analysen, dass Widerstands- und Opfernarrative eine entlastende Funktion haben: Gegen etwas zu sein, ist argumentativ leichter als für etwas zu sein, von etwas betroffen zu sein, ist leichter als Verantwortung zu übernehmen. Der Historiker Martin Schulze Wessel sprach davon, dass für die sogenannte post-heroische Zeit seit dem 2. Weltkrieg eine zunehmende 'Hinwendung zum passiven Opfer'[v] feststellbar ist: Im Zentrum steht immer weniger der (meist männliche) Held, der sich für etwas opfert (sacrifice), sondern das passive Opfer (victim), das in eine bestimmte Konstellation gezwungen wurde. Diese Denkfigur weiterführend postuliert eine Tagung von 2018, dass der 'gegenwärtige ‚Opferkult‘ […] das Opfer vor jeglicher Kritik' schütze. 'Es lege den Menschen auf die Objektposition fest und befreie ihn von der Pflicht zu Eigenverantwortung. Opfer sind stets auf die in der Vergangenheit liegenden Ereignisse reduziert und fixiert, was Zukunftspläne und -entwürfe unnötig oder unmöglich macht.'[vi]

Da die nationalsozialistische Gewaltherrschaft als schlimmste der deutschen Geschichte erinnert wird, ist es wie bei den Querdenker*innen im Sinne des eben Ausgeführten naheliegend, sich als Opfer ebendieser Diktatur zu stilisieren. Vereinfachte, dichotome 'Wir Opfer-Ihr Täter'-Weltbilder verfügen, das zeigt nicht zuletzt die historische Forschung zum Komplex Nation und Nationalismus, über enormes Integrations-, aber auch über enormes Ausgrenzungs- und Gewaltpotential. Wir wissen, dass Sprache menschliches Denken und Handeln formt, sprachliche Gewalt also manifesten Gewaltakten einen Ermöglichungsraum schaffen kann. In diesem Sinne arbeiten die Historiker*innen für ein weltoffenes Thüringen für einen sensiblen Umgang mit Sprache und eine kritische Produktion von Wissen (vgl. weiter Resolution). Um die Opfernarrative zu reflektieren, empfiehlt sich aus wissenschaftlicher Perspektive die hier exemplarisch gezeigte „wissensbasierte Auseinandersetzung“[vii].

Auf einer anderen Ebene ist der politisch motivierten zunehmenden Unterwanderung der Querdenker*innen durch (rechts)extreme Kräfte zu begegnen. Die Leugnung des Holocausts beispielsweise ist im bundesrepublikanischen Rechtsstaat ein Straftatbestand, die Verharmlosung des Holocausts unter bestimmten Bedingungen ebenfalls. Entsprechend sind sie mit den Mitteln des Rechtsstaats zu verfolgen. Manche Kommunen haben in einem ersten Schritt das Tragen von 'Ungeimpft'-Judensternen verboten. 'Mit diesem in jeder Beziehung inakzeptablen Vergleich relativieren diese Demonstrationsteilnehmer das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen an den Juden in absolut unerträglicher Weise'[viii], so der Wiesbadener Bürgermeister Oliver Franz.

Da hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung vorliegen, erhob das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg als erstes in Deutschland 'Querdenken 711' und seine regionalen Ableger im Land am 9. Dezember 2020 zum Beobachtungsobjekt. Verfassungsschutzpräsidentin Beate Bube erklärte: 'Gezielt werden extremistische, verschwörungsideologische und antisemitische Inhalte mit einer legitimen Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vermischt.'[ix] Der amtierende Vorsitzende der Innenministerkonferenz Georg Maier (Thüringen) konstatierte am 11. Dezember auf der IMK-Abschluss-Pressekonferenz 'neue Formen des Extremismus, Stichwort Verschwörungstheorien'[x], die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit infrage stellen. V.a. rechtsextreme Gruppen sehen über Querdenken die Möglichkeit, in weitere Gesellschaftsschichten einzusickern, sie finden Anschluss an Menschen, die besorgt sind'[xi].

Es ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, diesen letztgenannten Menschen zu verdeutlichen, mit wem sie zusammenarbeiten, auch wenn dies zunächst 'nur' eine gemeinsame Demonstration ist. Als HiWelt sehen wir uns in der Verantwortung, hierzu einen Beitrag zu leisten."

Quellen:

[i] www.uni-bielefeld.de/sfb1288/

[ii] https://www.youtube.com/watch?v=jJzloVidwVQ

[iii] https://de.wikipedia.org/wiki/Sophie_Scholl

[iv] Vgl. hierzu auch Annegret Schüle, Leiterin der Gedenkstätte Topf & Söhne. Die Ofenbauer von Ausschwitz und Erstunterzeichnerin der HiWelt-Resolution, in einem Interview mit Radio F.R.E.I.: https://www.radio-frei.de/index.php?iid=podcast&pPAGE=3&ksubmit_show=Artikel&kartikel_id=8542

[v] Martin Schulze Wessel: Einleitung, in: Erik Franzen / Martin Schulze Wessel (Hg.): Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, S. 1.

[vi] Opfernarrative in transnationalen Kontexten / Victim Narratives in Transnational Contexts. In: H-Soz-Kult, 11.04.2017, <www.hsozkult.de/event/id/event-83638>.

[vii] Sebastian Dorsch, Mit-Initiator von HiWelt, im Spiegel-Artikel „Krude NS-Vergleiche von rechts. Wie sag ich's dem radikalisierten Onkel?“, unter: www.spiegel.de/geschichte/krude-ns-vergleiche-von-rechts-wie-sag-ich-s-dem-radikalisierten-onkel-a-0354f429-7cae-426f-8ea5-e5b89fafa223

[viii] www.wiesbaden.de/medien/rathausnachrichten/PM_Zielseite.php?showpm=true&pmurl=https://www.wiesbaden.de/guiapplications/newsdesk/publications/Landeshauptstadt_Wiesbaden/141010100000386395.php

[ix] https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/querdenken-711-wird-beobachtet-1/

[x] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=N7gJ1OSisDU

[xi] https://www.youtube.com/watch?v=N7gJ1OSisDU

Abb. unter Verwendung von: Ferdinand Vitzethum, Copyrighted free use, via Wikimedia Commons

Sebastian Dorsch
Dr. Sebastian Dorsch
Mitglied, Fachrichtung "Lateinamerikanische Geschichte, ZeitRäume einer Metropole"
(Erfurter RaumZeit-Forschung)