Nachgefragt: „Warum stehen die Neuwahlen in Thüringen auf der Kippe, Prof. Dr. Brodocz?“

Gastbeiträge
Prof. Dr. André Brodocz

Bei der Thüringischen Landtagswahl 2019 hat es für die Fortsetzung der rot-rot-grünen Regierung nicht gereicht. Nach dem anschließenden Eklat um die Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) zum Ministerpräsidenten mithilfe von AfD-Stimmen und der daraus resultierenden Regierungskrise wird Thüringen seither von einer Minderheitsregierung mit Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten regiert – und auf Basis eines sogenannten Stabilitätspakts von Grünen, SPD, CDU und Linken. Um diese prekäre Situation möglichst schnell zu verlassen, verständigte man sich schließlich auf Neuwahlen für das Frühjahr 2021, die dann jedoch Corona-bedingt auf den 26. September 2021 verschoben werden mussten. Bedingung für diese Neuwahlen ist die Auflösung des Landtags. Dafür braucht es eine mehrheitliche Zustimmung der Abgeordneten. Diese aber steht nun sprichwörtlich „auf der Kippe“. „WortMelder“ hat bei André Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Uni Erfurt, nachgefragt, was da eigentlich genau los ist...

Warum ist die für Montag anstehende Auflösung des Thüringer Landtags eine Zitterpartie?
Angestrebt wird die Auflösung von der amtierende rot-rot-grünen Regierungskoalition und der CDU-Fraktion. Die Regierungsparteien und die CDU hatten sich auf eine befristete Zusammenarbeit sowie auf Neuwahlen in 2021 geeinigt. Zusammen verfügen diese vier Parteien über 63 Abgeordnete. Rechnerisch reicht dies für die Auflösung des Thüringer Landtags, für die nach der Landesverfassung eine Zweidrittel-Mehrheit benötigt wird, das sind 60 von 90 Abgeordneten. Allerdings haben vier Abgeordnete der CDU erklärt, dieser Auflösung nicht zuzustimmen. Damit wären es nur noch 59 statt der nötigen 60. Dennoch könnte der Antrag auf Auflösung mindestens 60 Stimmen bekommen, sobald ein Mitglied aus der FDP- oder AfD-Fraktion dafür stimmt.

Ist eine solche Zustimmung aus der FDP absehbar?
Aus den Reihen der FDP-Fraktion hat eine Abgeordnete erklärt, für die Auflösung zu stimmen. Sie ist selbst kein Partei-Mitglied mehr und strebt mit einer neuen Partei den Einzug in den Landtag an. Alle anderen Abgeordnete der FDP wollen sich enthalten. Damit wären es wieder die nötigen 60 Stimmen. Allerdings haben daraufhin zwei Abgeordnete der Linken erklärt, dass sie nicht für die Auflösung stimmen werden, wenn es dafür auch Stimmen von der FDP benötigt. Damit wären es wieder 58 Stimmen – also zu wenig.

Und wie will sich die AfD verhalten?
Die AfD hat noch nicht erklärt, ob sie der Auflösung zustimmen will oder nicht. Allerdings wollen alle anderen Parteien verhindern, dass der Landtag am Ende nur aufgelöst wird, weil es auch Stimmen aus der AfD gegeben hat. Genau hier beginnt jetzt das Problem: Für die Auflösung des Landtags gibt es derzeit keine sichere Zweidrittelmehrheit; zugleich ist es unsicher, ob der Landtag am Ende aufgelöst wird, nur weil es auch Stimmen aus der AfD-Fraktion gegeben hat. Solange die AfD ihr Abstimmungsverhalten offenlässt, bleibt diese Unsicherheit erhalten – vermutlich also bis zur Abstimmung.

Wie wollen die anderen Parteien aber sicher wissen, ob es nur mit AfD-Stimmen am Ende zu einer Zweidrittel-Mehrheit gereicht hat? Und wie wollen sie dies verhindern?
Dazu soll es zwei Abstimmungen geben. Zunächst soll – wie bei Abstimmungen über Gesetze – per Handzeichen abgestimmt werden. Anschließend soll es die Schlussabstimmung geben, also die eigentliche Abstimmung über die Auflösung. Allerdings haben wir es hier nicht mit einem Gesetz zu tun. Deshalb wollen die Regierungskoalitionen zunächst mit Zweidrittelmehrheit beschließen, dass sie mit diesem Abstimmungsverfahren ausnahmsweise von der Geschäftsordnung abweichen. Die Geschäftsordnung des Landtags lässt solche Abweichungen zu. Die AfD hat aber verfassungsrechtliche Bedenken. Der Wortlaut der Thüringer Landesverfassung zur Auflösung des Landtags sieht jedoch nicht im Detail vor, wie der Beschluss über die Auflösung herbeigeführt werden soll. Insofern scheint mir dieser Weg rechtlich gangbar – aber das wissen meine rechtswissenschaftlichen Kollegen sicher besser.

Bringt dieser Umweg aber auch die nötige Sicherheit?
Das sehe ich nicht. Jeder Abgeordnete ist in beiden Abstimmungen frei. Es kann also zunächst dafür und dann in der entscheidenden Abstimmung dagegen gestimmt werden. Ebenso kann zunächst dagegen gestimmt oder sich enthalten werden und dann in der entscheidenden Abstimmung dafür. Letzteres könnte eine Strategie der AfD sein. Dann wäre der Thüringer Landtag am Ende doch nur mit AfD-Stimmen aufgelöst. Dieses Risiko wird man eingehen müssen, wenn man den Landtag jetzt auflösen will. Das wissen auch die Mitglieder aus den Fraktionen von Linke, SPD, Grüne und CDU, für die dies der „worst case“ wäre. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass der Antrag zur Auflösung des Landtags noch am Montag zurückgezogen wird – denn dafür braucht es nur einen einzigen Abgeordneten unter den 30, die den Antrag eingebracht haben. Das Zittern wird also andauern.

Wäre diese Zitterpartie denn zu vermeiden gewesen?
Ja. Das Zittern beruht am Ende vor allem darauf, wie die AfD-Abgeordneten abstimmen. Auf keinen Fall wollen Linke, SPD, Grüne und CDU eine Auflösung des Landtags, die nur mit AfD-Zustimmung möglich geworden ist. So haben sie ihr eigenes Handeln davon abhängig gemacht, wie die AfD handelt – und die lässt ihr Handeln einfach offen und erzeugt so die Unsicherheit und das damit verbundene Zittern. Wer sich aber auf diese Weise selbstbestimmt vom Handeln anderen abhängig macht, verschafft genau diesem überhaupt erst Macht. Hier müsste man vielleicht noch einmal darüber nachdenken, ob dies eine kluge politische Strategie ist.

Inhaber der Professur für Politische Theorie
(Staatswissenschaftliche Fakultät)
C03 - Lehrgebäude 1 / Raum 0160