Theologische Schlaglichter auf Corona: “Neue Verantwortung für die Schwachen”

Corona und die Folgen , Gastbeiträge
gefaltete Hände

Corona ist nicht gleich Corona für jeden. Für verschiedene Menschen und verschiedene Nationen stellt das Virus eine jeweils ganz eigene Bedrohung dar. Das deutsche Gesundheitswesen sei gut, aber es gelte Triage-Entscheidungen mit Altersrationierung unbedingt zu vermeiden, konstatiert die christliche Sozialethikerin der Universität Erfurt, Prof. Dr. Elke Mack. Sie erörtert drei ethisch sinnvolle Schritte, die der Staat in Reaktion auf das Virus ergreifen sollte und fordert nach der Rückkehr zu einer offenen Gesellschaft eine besondere gesellschaftliche Verantwortung für Schwache und Risikogruppen, beispielsweise “junge Menschen zur sozialen Hilfe verpflichten.”

Gastbeitrag von Prof. Dr. Elke Mack

Corona ist für manche Menschen unproblematisch und für manche ein tödlicher Virus. Gerade weltweit können wir vielen Erkrankten kaum helfen zu überleben. Allerdings ist es für die ethische Bewertung wichtig zu unterscheiden, warum das so ist.

Einige der Erkrankten sterben, weil ihre Lungen trotz technologischer Hilfe auf Intensivstationen durch die Virusentzündung versagen, weil sie zu alt sind, vorerkrankt oder einfach ein schlechtes Immunsystem haben. Hier würden wir sagen, dass dies ein trauriges Schicksal für die Betroffenen ist und das Virus bedauerlicherweise eine hohe Letalitätsrate mit sich bringt, die die Menschheit medizinisch noch nicht durch geeignete Medikamente oder Impfstoffe im Griff hat. Dies war in der Geschichte der Menschheit bei vielen Pandemien der Fall.

Prof. Dr. Elke Mack
Prof. Dr. Elke Mack

Bei anderen Patient*innen fehlen in nationalen Gesundheitssystemen schlicht und einfach ausreichend Herz-Lungen-Maschinen oder Beatmungsgeräte. Die Intensivstationen sind nicht groß genug und das ärztliche und pflegerische Personal kann, selbst wenn es will, den Patient*innen nicht mehr bieten. Das bedeutet, dass die Knappheit im Gesundheitswesen für diese Menschen den sicheren Tod erst herbeiführt. Wir hören von Krankenhäusern in Europa, die keine alten Patient*innen mehr aufnehmen, weil sie deren Überlebenschancen als zu gering erachten und den Jüngeren den Vorzug geben. Dies ist nichts anderes als Altersrationierung aufgrund mangelnder Gesundheitsversorgung, weil sie im Vorfeld nicht auf- und ausgebaut wurde. Und wir dürfen deshalb keine Ärzt*innen oder Pfleger*innen, die zu einer solchen Entscheidung gezwungen sind, verurteilen oder rechtlich belangen, jedoch Regierungen in westlichen Industriestaaten für diesen Zustand heftig kritisieren.

Stellen wir uns Entwicklungsländer vor, in denen es praktisch keine Intensivstationen mit Hochtechnologie gibt. Hier ist die Überlebenswahrscheinlichkeit für ältere und kranke Betroffene noch viel, viel geringer. Selbst wenn Entwicklungsländer gerne ihr Gesundheitswesen ausbauen wollten, so könnten sie es volkswirtschaftlich kaum schaffen, mit ihrem Bevölkerungswachstum mitzuhalten und ausreichende Ressourcen für die Ausbildung von Ärzt*innen und den Bau von Kliniken mit Hochtechnologie aufzuwenden. Die Knappheit bei öffentlichen Gütern gehört zur Armutsfalle dazu, der sie nur mühsam und langfristig entkommen werden. Größeres Unrecht und einen höheren Verstoß gegen Menschenrechte gibt es kaum, als das Elend auf der Welt, das rein quantitativ international behebbar wäre. Globale Solidaritätspflichten werden aufs äußerste vernachlässigt, was sich in Millionen von armutsbedingten Toten zeigt und angesichts der gegenwärtigen Pandemie noch viel krasser zur globalen Realität gehören wird. Nur in einigen Schwellenländern, die sich in die Globalisierung integriert haben und gleichzeitig soziale Strukturen mit egalitärem Anspruch aufgebaut haben, ist es gelungen, die absolute Armut zu überwinden und gesundheitstechnisch aufzustocken, was aber bei weitem noch nicht an die Gesundheitsversorgung der westlichen Industriestaaten heranreicht.

Aber unser Thema in Deutschland und Europa ist nicht der mangelnde Wohlstand, sondern das mangelnde Investment in gesundheitliche Strukturen, welches vorhanden sein könnte. Wenn wir gegen Pandemien vorgesorgt hätten, was Expert*innen seit Jahren angemahnt haben, stünden wir nicht vor dem Kollaps unserer Gesundheitssysteme. Nun, da es so ist, ist die eigentliche ethische Frage: Kann es in Situationen der Knappheit im Gesundheitswesen, die auch bei uns vorhanden sind, überhaupt Gerechtigkeit geben?

Denn eines ist auch ethischen Laien klar. Gerechtigkeit im Gesundheitswesen kann nicht ausreichend über rein marktwirtschaftliche Methoden hergestellt werden. Die USA verfügen zwar über die beste Hochtechnologie und die höchsten pharmakologischen Standards weltweit. Aber wenn der Zugang zu diesen, im eigentlichen Sinn, öffentlichen und meritorischen Gütern, nur vermögenden Privatpatienten mit der besten Krankenversicherung gewährt wird, jedoch die große Menge der US-Amerikaner leer ausgeht, würde das niemand als gerecht bezeichnen, der nicht eine utilitaristische oder sozialdarwinistische Weltanschauung hat.

Wirtschaftliche Prosperität ist wichtig für die Entwicklung von Gesundheitstechnologie und Gesundheitssystemen selbst. Aber eine ausreichende Investition für den allgemeinen Zugang zu dieser, auch für relativ arme Menschen, gelingt nur über gesellschaftliche Solidarsysteme, in denen Gesunde für Kranke zahlen, und ein soziales Krankenversicherungssystem ausreichend und rechtzeitig Investitionsmittel für genug Krankenhäuser, Betten und medizinische Technologie ebenso wie für die adäquate Bezahlung von Ärzt*innen und vor allem Pflegepersonal (!) bereithält.

Die Tradition der medizinischen Ethik antwortet nun auch auf Fälle, in denen dies versäumt wurde, weil die meiste Zeit der westlichen Geistesgeschichte ein Mangel im Gesundheitswesen zu verzeichnen war. Für den Fall, dass es proportional zu den bedürftigen Kranken und Verletzen zu wenige Ärzt*innen, zu wenig Pflegende, zu wenig Intensivbetten mit Beatmungsgeräten sowie Herz-Lungen-Maschinen gibt, existiert das Kriterium der Triage, bei dem es darum geht, unter Knappheit und in Zeitnot möglichst viele Menschenleben zu retten. Dieser terminus technicus bedeutet nicht etwa, dass in einem Vorzelt Coronainfizierte von anderen Kranken unterschieden werden, sondern die Einteilung der Erkrankten in mindestens drei Gruppen: Leichterkrankte, die man ihren Selbstheilungskräften überlassen oder warten lassen kann (1); Schwerer Erkrankte mit Überlebenschancen, die vordringlich zu behandeln sind und deshalb umgehend versorgt werden (2); Extrem schwer Erkrankte, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Vorerkrankungen geringe Chancen auf Überleben haben und bei der Triageentscheidung nachrangig behandelt werden. Im Extremfall werden letztere in großen Knappheitssituationen gar nicht behandelt und im besten Fall palliativ im Sterben begleitet (3). Es geht beim moralisch zu vermeidenden Übel um die letzte Gruppe, die das Nachsehen gegenüber anderen und aus Kapazitätsgründen keine gleichen Rechte hat und im Extremfall indirekt, durch Unterlassung medizinischer Hilfe, zum Sterben verurteilt ist.

Bislang ist es in der Coronakrise in Deutschland nicht zu einem derartigen bewussten Vorenthalten notwendiger medizinischer Behandlungen gekommen; also zu Situationen, in denen man sich nicht etwa wegen einem irreversiblen Sterbeprozess für einen verantworteten Behandlungsabbruch entscheidet, sondern in dem man die notwendige medizinische Behandlung gar nicht erst vornimmt. Die im März 2020 entworfenen klinisch-ethischen Kriterien der sieben Fachgesellschaften der deutschen Ärzte sind jedoch hierauf ausgelegt, dass auch für den Fall, dass nicht ausreichend Beatmungsgeräte oder Intensivbetten vorhanden sind, eine Priorisierung nach Intensität der Krankheit und Heilungschancen bei den Patient*innen vorgenommen werden kann. Diese Kriterien sind bei uns in Deutschland – auch im Einvernehmen mit dem Deutschen Ethikrat – nicht altersdiskriminierend, sondern rein medizinisch indiziert, jedoch immer noch nach Überlebenschancen gestaffelt. Jede Notwendigkeit einer Triage-Entscheidung eines Ärzteteams wäre deshalb immer noch eine Entscheidung für, aber auch gegen das Leben von Menschen, und in vielen Fällen eine Entscheidung über Tod und Leben, die aus Gründen der Einhaltung von Menschenrechten vermieden werden muss, soweit es irgendwie geht.

Insofern ist es mehr als ethisch geboten, dass die Einschränkung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland so lange aufrechterhalten wird, bis die Geschwindigkeit der Infektion so gedrosselt ist, dass die Verantwortlichen im Gesundheitssystem nicht zu Triage-Entscheidungen gezwungen sind. Insofern sind Kontaktverbote und der Lockdown des wirtschaftlichen Lebens ein unvermeidbarer erster Schritt in der Verantwortung des Staates, weil die Idee der schnellen Herdenimmunität der Gesellschaft sehr viel mehr Tote und sehr viele vermeidbare Todesfälle mit sich brächte.

Wenn nun allerdings das Gesundheitssystem mittelfristig ausreicht, um alle Neuinfizierten ausreichend zu versorgen, muss die Politik im Sinne des Gemeinwohls, im Sinne der demokratischen Grund- und Freiheitsrechte von Menschen, und zur Vermeidung von relativer Armut, von Insolvenzen bei Unternehmen, von hoher Arbeitslosigkeit und von Versorgungsengpässen, politische Lockerungsstrategien einer reflektierten, sukzessiven Rückkehr zum Normalzustand wie vor der Coronakrise beginnen – aber erst dann, im Sinne einer Priorisierung und als zweiten Schritt. Denn auch durch die beginnende wirtschaftliche Not von Arbeitnehmern und Arbeitgebern wird es Opfer der Coronakrise geben, die ein Recht auf Rücksichtnahme und Fürsorge durch Gesellschaft und Staat haben.

Diese Priorisierung der Maßnahmen – zunächst das Leben schützen, dann auch die soziale und wirtschaftliche Not lindern – führt zu einem dritten Schritt:

Solange das Virus aktiv bleibt, bedarf es vonseiten des Rechtsstaates einer erhöhten Verantwortung für die Schwachen, Alten und Vorerkrankten, die im Sinne des Lebensschutzes zutiefst vordringlich ist. Dieser Verantwortung würde man in einem Sozialstaat jedoch noch nicht durch eine reine Isolation dieser Bevölkerungsgruppe gerecht. Vielmehr müssten diese Hochrisikogruppen aufgrund ihrer hohen Letalität bei Covid-19 einen vorübergehenden Rechtsanspruch auf externe Versorgung und soziale Betreuung erhalten, solange das Virus auf der Welt ist und kein Impfstoff zur Verfügung steht. Es wäre in diesem Sinne denkbar, junge Menschen zur sozialen Hilfe zu verpflichten oder Fürsorge anzureizen, etwa durch ein Freiwilligenjahr oder die gesellschaftliche Belohnung von Solidarität (z.B. Einkaufsdienste, Essen auf Rädern, Ansprache in der notwendigen Distanz…). Pflege- und Altenheime müssten zu keimfreien und isolierten Hochsicherheitszonen werden, in denen das Pflegepersonal kein Risiko für die Heimbewohner darstellt.

Alle diese Maßnahmen kosten Steuergelder, sind aber der Würde dieser hoch gefährdeten Menschen geschuldet, die sonst einem extremen Risiko für Leib und Leben ausgesetzt wären. Denn das Grundgesetz, Artikel 1, gibt uns die klare Richtschnur für derartige Krisen: “Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Die Christliche Sozialethik schlussfolgert hieraus, dass gerade in dieser gesellschaftlichen Krise die Schwachen, Alten und Kranken des Würdeschutzes durch den Staat am meisten bedürfen. Bislang agieren die Verantwortlichen in unserem Staat und in den Bundesländern in dieser kritischen Situation als moralischer Akteure nicht schlecht. Wir wünschen sehr, dass sie ihrer hohen Verantwortung gegenüber den Menschen weiterhin gerecht werden und sollten als Zivilgesellschaft proaktiv mithelfen, sinnvolles staatliches Handeln zu unterstützen.

Theologie Aktuell

Dieser Artikel erschien zuerst auf "Theologie Aktuell", dem Blog der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Er ist Teil der Reihe "Theologische Schlaglichter auf Corona".

Über die Autorin

Elke Mack ist Professorin für Christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik an der Universität Erfurt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört u.a. die christliche Theorie der Gerechtigkeit.