Seit einigen Jahren rückt das Thema „Moral“ immer weiter in den Blickpunkt geschichtswissenschaftlicher Forschung. Verstärkt wird dies nicht zuletzt durch aktuelle gesellschaftliche Debatten, etwa zum nachhaltigen Konsum in Zeiten der Klimakrise oder zum angemessenen Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus. Zugleich sehen sich kritische Historiker*innen vermehrt Angriffen ausgesetzt, die ihre Forschung als „ideologisch” verurteilen. Wie sollen sie auf diese Attacken reagieren? Wie können sie sich in der politisch umkämpften Gegenwart auch in ihrer Forschung moralisch positionieren? Diese Fragen diskutierten Wissenschaftler*innen jetzt bei einem zweitägigen Workshop unter dem Titel „Moral History“, zu dem die DFG-Forschungsgruppe „Freiwilligkeit" gemeinsam mit der Professur für Wissenschaftsgeschichte an die Universität Erfurt eingeladen hatte. Zu welchen Ergebnissen sind sie gekommen? „WortMelder“ hat bei Meike Katzek, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar und Mitorganisatorin des Workshops, nachgefragt…
Die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Moral ist eine relativ unbequeme, wie unser Gast Benjamin Möckel von der Universität Göttingen zu Beginn seines Vortrags bemerkte. Der Vorwurf der „Moralisierung“ wiegt immer noch schwer, da eine historisierende Distanz Teil des akademischen Selbstverständnisses von Historiker*innen ist. Deshalb gilt das Rückprojizieren von gegenwärtigen Moralvorstellungen auf historische Akteure weithin als unangemessen „präsentistisch“. Gleichzeitig gehört es zum geistes- und sozialwissenschaftlichen Konsens, dass das Ideal der Objektivität – die Trennung des Forschersubjekts vom Forschungsobjekt – eben immer auch unerreichbares Ideal bleibt. Insbesondere die Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass auch die Bedeutung von Objektivität historisch kontingent ist und die Frage, wie Wissen produziert wird, nicht von Moraldebatten zu trennen ist.
Die Aufgabe von Historiker*innen gemäß dem Ansatz der ‚moral history‘ liegt aber zunächst in der hermeneutischen Erschließung der moralischen Wertevorstellungen und Weltanschauung der historischen Akteur*innen. Dieser Ansatz wurde im deutschen Forschungsfeld der Zeitgeschichte mit einem Aufsatz von Habbo Knoch und Benjamin Möckel 2017 methodisch umrissen. Hier geht es nicht nur um das Erfassen der expliziten Proklamationen moralischer Vorstellungen, sondern auch um die Erforschung der impliziten Moralvorstellungen, die Normen, Diskursen und Semantiken zugrunde liegen. Der Forschungsansatz fragt nach den Praktiken und Effekten von Moral: Was tun historische Akteur*innen mit Moral? Wie wird diese nach außen transportiert? Welche Effekte haben moralische Handlungen? Wie funktioniert eine Übersetzung von Moralvorstellungen zwischen Gesellschaftsbereichen wie der Politik, Religion, Wissenschaft etc.? Hier wird also ein umfangreiches Forschungsprogramm skizziert, das noch große Potenziale birgt.
Benjamin Möckel zeigte in seinem Vortrag anhand der modernen Konsumgeschichte in den USA und Großbritannien anschaulich, dass die Moralisierung von Konsum – wie wir sie heute z.B. beim Thema Nachhaltigkeit in Zeiten der Klimakrise wahrnehmen – kein neues Phänomen ist. Schon in der Abolitionismus-Bewegung im 18. Jahrhundert rückten Konsumentscheidungen und der Verzicht auf Güter, die durch Sklavenarbeit hergestellt wurden, als ein wichtiger Teil der Bewegung in den Fokus. Anhand der Boykottkampagne stellte Möckel eine „Rhetorik von Schuld und Komplizenschaft“ fest, die eine direkte Verbindung zwischen den Bedingungen der Produktherstellung und den Konsument*innen herstellte. Diese Dynamiken zeichnete Möckel dann ebenso in Konsum- und Boykottkampagnen im 20. Jahrhundert nach, z.B. in der Anti-Apartheid-Bewegung oder im Umwelt-Aktivismus, in denen aber ebenso eine „Sprache der Solidarität“ mit den Ländern des Globalen Südens festzustellen war. Zu betonen ist dabei allerdings, dass Konsumkampagnen nicht nur durch progressive politische Lager betrieben werden – denken wir z.B. an die antisemitischen Boykotte der 1930er-Jahre.
Deutlich wurde die enge Verknüpfung von Moral, Ökonomie und Freiwilligkeit. Wer sich frei entscheiden kann, dessen Handlungen können auch moralisch ausgedeutet werden. Allerdings haben auch Modelle wie „Konsumentenmacht“ und „Konsumentenverantwortung“ in ihrer Tendenz zur Individualisierung von Verantwortung nur begrenzte Möglichkeiten und können von dominanten Wirtschaftsakteuren ablenken. Beispielsweise geht das Konzept des „Ökologischen Fußabdrucks“ auf eine Kampagne des britischen Ölkonzerns British Petroleum zurück. Prozesse der Moralisierungen sollten deshalb immer im Kontext breiterer gesellschaftspolitischer Debatten und Transformationsprozesse situiert werden. Im zweiten Teil des Workshops diskutierten wir – der Wissenschaftshistoriker Alexander Stöger und moderiert von Jürgen Martschukat gemeinsam mit den Gästen – in der eher gegenwartsbezogenen Diskussionsrunde sowohl über die Geschichte der moralischen Ökonomien der Wissenschaft und der Geschichtswissenschaft im Besonderen als auch über die Frage, wie sich gegenwärtige politische Kontexte auf Moraldebatten auswirken.
Die Ausgangsfrage – was es bedeutet, ein „reflexives Moralsubjekt" in der Wissenschaft zu sein – war ebenfalls vom Ansatz der ‚moral history‘ informiert. Die schon erwähnten Knoch und Möckel schreiben, dass reflexive Moral ein essenzieller Teil der moralischen Ökonomien der Wissenschaft darstellt, z.B. in Form von Skepsis oder Kritik. Außerdem fungiert Wissenschaft als Mediator moralrelevanten Wissens und kann gesellschaftliche reflexive Aushandlungsprozesse informieren. Es zeigt sich, wie wichtig es ist, dass wir uns im akademischen Wissenschaftssystem auch über das Thema von Moral und Ethik verständigen, auch abgesehen davon, dass dies sowieso schon geschieht, wie z.B. in Form von DFG-Standards oder wenn es um Fragen der Verantwortung, Transparenz oder Diversität in Forschung und Lehre geht.
Gleichzeitig erleben wir gegenwärtig, dass spezifische Forschungsansätze öffentlich als „zu moralisierend“ bewertet werden. Teilweise erinnert es an den US-amerikanischen ‚war on wokeness‘, wenn einzelne, aber laute Stimmen in den kritischen Forschungsbereichen der Gender Studies oder postkolonialer Theorie einen ideologischen Aktivismus sehen, der vermeintlich die Debattenkultur zerstören, für Polarisierung sorgen oder sogar die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit bedrohen würde. Das Argument ist: Feministischer oder anti-rassistischer Aktivismus würde die wissenschaftliche Forschung zu stark moralisch aufladen und ihre Objektivität gefährden.
Diese Sorge ist tatsächlich ebenfalls nicht neu. In den 1990er-Jahren gab es in den USA eine akademische Debatte über genau solche Fragen und Vorwürfe – die sogenannten „Science Wars“. Hier wurde über die Rolle von Moral und Politik in der Wissenschaft gestritten. Die Kritiker – v.a. Naturwissenschaftler*innen, die sich gegen eine kritische Wissenschaftsforschung richteten – prangerten an, dass die kulturwissenschaftliche Kritik die traditionellen Werte der Wissenschaft wie Ernsthaftigkeit, Disziplin, Unvoreingenommenheit und Objektivität unterlaufen würde.
Selbstverständlich muss man hier vorsichtig sein und darf die damaligen und gegenwärtigen Debatten nicht einfach gleichstellen. Es gibt eine Reihe von Unterschieden – zuallererst die Konstellationen der angreifenden und angegriffenen Akteur*innen sowie nicht zuletzt die politischen Kontexte. Gleichzeitig zeigt der Vergleich die anhaltende Spannung zwischen der Verteidigung wissenschaftlicher und historischer Deutungsmacht auf der einen und moralischen Anforderungen wie kritischer Selbstreflektion oder auch demokratischen Werten des Pluralismus auf der anderen Seite. Außerdem – und das war ein wichtiger Aspekt der Diskussion, der auch aus der vorhergehenden Textlektüre von Herman Paul und Joan Scott klar wurde – bergen Moraldebatten („virtue-talk“) immer das Risiko von sozialer Exklusion und Delegitimierung.
Zudem machte Alexander Stöger deutlich, dass die historische Perspektive auf Moraldebatten in der Wissenschaft dabei helfen kann, die zeitweise affektiv stark aufgeladenen Debatten in Perspektive zu setzen: Historiker*innen sind durch ihre Ausbildung bereits hoch moralisierte Subjekte. Schon seit dem 18. Jahrhundert sind moralisch aufgeladene Tugenden, wie Neutralität, Gewissenhaftigkeit und Fleiß mit der Disziplin der Geschichtswissenschaft und der Arbeit der Historiker*in verknüpft. Das kritische Hinterfragen der eigenen Arbeit kann deshalb schnell in persönliche Kritik umschlagen. Die Geschichte zeigt, dass solche Moraldebatten immer wieder geführt wurden.
Gleichzeitig muss genau hingeschaut werden, durch welche historischen Entwicklungen unsere Debatten eigentlich informiert sind. Denn es wurde natürlich nicht über Jahrhunderte hinweg immer dieselbe Moraldebatte geführt. Das sehen wir schon daran, dass sich erst im 19. Jahrhundert unser heutiges Verständnis von Objektivität formiert, die das Erkenntnissubjekt und dessen Affekte und Tugenden ausklammert aus der Wissensproduktion. Hier stellt sich die Frage, ob heutige Streitigkeiten über eine „zu starke Moralisierung“ von Wissen und Wissenschaft nicht auch durch eine bestimmte Geschichte positivistischer Wissenschaftsphilosophie informiert sind.
Demgegenüber entwickelten sich im Kontext der sozialen Bewegungen Fragen der Objektivität seit den 1970er-Jahren zu hochpolitischen Gegenständen. Diese Debatten führen wir teilweise noch heute. Die Bestrebungen, einer diskriminierenden Tradition in der medizinischen Forschung entgegenzuwirken, ist ein gutes Beispiel für die existenzielle Dringlichkeit solcher Fragen. Die Erkenntnisse, dass lange die Spezifika von Frauengesundheit ignoriert wurden oder Rassismus gesundheitliche Ungleichheit prägt(e), sind gerade Erfolge von diesen als „zu moralisierend“ angeprangerten Forschungsansätzen. Folglich sind Perspektiven der Gender-Forschung oder postkoloniale Ansätze keine politisierten Partikularinteressen, sondern tragen dazu bei, zu einer – wenn man so will – stärkeren Form von Objektivität zu kommen. In anderen Worten: Bestimmte objektive Erkenntnisse können nur durch die Einbeziehung postkolonialer und geschlechteranalytischer Positionen erreicht werden.
Damit sollen Sorgen um eine sich verändernde akademische Kultur nicht beiseite gewischt werden. In der Diskussion kam hier interessanterweise die enge Verknüpfung von Moral, Ökonomie und neoliberaler Subjektivität auf. Denn gerade das Wissenschaftssystem als Arbeitsmarkt ist stark von Leistungsdruck, ökonomischer Prekarität und gleichzeitiger Austeritätspolitik durchzogen. Inwiefern wirken sich diese realen strukturellen Bedingungen auf die Debattenkultur in Seminarsituationen aus? Sind Tugenden wie Sorgfalt und Glaubwürdigkeit wirklich lehrbar, wenn im universitären Alltag oft Zeit und Kapazitäten fehlen? Inwiefern besteht das Risiko, dass Moralsubjektivität zu einer Währung auf dem akademischen Arbeitsmarkt wird („Wer ist tugendhafter?“), sodass das transformatorische Potenzial kritischer Perspektiven rein symbolisch bleibt?
Die Frage nach den institutionellen Rahmenbedingungen ist hier entscheidend. Dies wirft ebenfalls die Frage auf, wer oder was eigentlich die Entität ist, denen Historiker*innen und auch andere Forscher*innen sich gegenüber moralisch verantworten müssen. Die Studierenden? Die Universität? Die eigene akademische Community? Oder doch die Politik oder die Zivilbevölkerung?
Der Workshop zeigte, wie vielschichtig das Thema der ‚moral history‘ bzw. das Verhältnis von Moral und Geschichtswissenschaft ist. In der Bilanz blieben teilweise mehr offene Fragen als konkrete Antworten – aber auch das sind Tugenden der Wissenschaft: Ergebnisoffenheit und Neugier. Doch deutlich wurde, dass die historische Perspektive der ‚moral history‘ dabei helfen kann, eine Vielzahl von Beispielen und Kontexten bereitzustellen, die den aktuellen Debatten um Moral und ihrer gesellschaftlichen Selbstverständigung Reflexionstiefe verleihen können.
Ich danke Alexander Stöger, Jürgen Martschukat, Silvan Niedermeier, Stefanie Büttner und Ronja Hähnlein für die Zusammenarbeit und ihre Unterstützung sowie allen anwesenden Diskutant*innen für ihre anregenden Fragen und Beiträge.
(Text: Meike Katzek)
Meike Katzek ist seit Oktober 2024 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Erfurt. In ihrem Promotionsprojekt “Anti-Anti-Science” widmet sie sich der Historisierung von Diskursfigurationen, in denen sich wissenschaftliche Ideale und epistemologische Konzepte, wie Wahrheit und Objektivität sowie deren wissenschaftliche Theoretisierung, in akademischen und politischen Diskursen postdemokratischer Staaten – USA und BRD – am Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts mit politischen Positionen der Neuen Rechten verbanden.