Wählen ab 16 – eine gute Entscheidung?

Einblicke
Ein Wähler macht sein Kreuz.

Im kommenden Jahr finden in Thüringen Kommunal- und Landtagswahlen statt. Sie geben Anlass zu einem immer wieder viel diskutierten Thema: Das aktive Wahlrecht ab 16 Jahren. Bei Wahlen auf Kommunal- und Landesebene ist Jugendlichen in diesem Alter die Stimmabgabe in einigen Bundesländern bereits gestattet. Auch die Ampelkoalition einigte sich im aktuellen Koalitionsvertrag auf die Absenkung des Wahlalters bei Wahlen zum Europäischen Parlament und zum Deutschen Bundestag. Befürworter wie Gegner liefern sich hierzu immer wieder teils hitzige Debatten darüber, ob Jugendliche schon reif genug sind, um zu wählen. Diese Frage hat nun Dr. Anna Lang untersucht. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Sozial-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Frage, wie Menschen Entscheidungen treffen und ab wann sie dazu fähig sind, dies reflektiert zu tun. In unserem Interview erklärt sie uns, was sie in ihrer Studie herausgefunden hat und wann Jugendliche aus Sicht der Entscheidungspsychologie reif genug sind, an politischen Wahlen teilzunehmen.

Frau Dr. Lang, was ist aus Entscheidungspsychologischer Sicht eigentlich eine „richtige“ oder „gute“ Wahlentscheidung?
Es gibt natürlich nicht die eine richtige Wahlentscheidung. Wahlentscheidungen sind Präferenzentscheidungen, das heißt, was eine gute Entscheidung ist, hängt von den individuellen Präferenzen ab. Im Idealfall hat die Wählerin bzw. der Wähler Präferenzen in Bezug auf unterschiedliche politische Themen, wie Außen-, Sozial- oder Steuerpolitik und wählt die Partei, die ihr oder ihm am nächsten ist. Beispielsweise eine Wählerin, die ein Tempolimit auf Autobahnen gut findet, die möchte, dass AKWs früher abgeschaltet und der CO2-Ausstoß höher besteuert wird, hätte bei der jüngsten Bundestagswahl „gut“ gewählt, wenn sie bei den Grünen ihr Kreuz gemacht hätte. Wenn sie die FDP gewählt hat, hat sie eine „schlechte“ Entscheidung getroffen, da deren Positionen weit weg von ihren eigenen sind. 

Ziel Ihrer Studie war es, herauszufinden, ob 16- bis 17-jährige Jugendliche eine ebenso normativ „richtige“ Wahlentscheidung treffen wie Erwachsene, die in Deutschland mit Vollendung des 18. Lebensjahres wahlberechtigt sind. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dieser Frage wissenschaftlich auf den Grund zu gehen?
Das ist ja ein Thema, das eigentlich vor jeder Wahl immer wieder hochkocht. Häufig wird argumentiert, dass man 16-Jährigen auch noch nicht erlaubt, Auto zu fahren oder einen Mietvertrag zu unterschreiben. Aus entscheidungspsychologischer Sicht sind das alles sehr unterschiedliche Szenarien. 16-Jährige treffen in manchen Situationen schlechtere Entscheidungen als ältere Menschen. Zum Beispiel, in Verkehrssituationen, und dann vor allem, wenn noch andere Jugendliche anwesend sind. Daraus kann man aber nicht schließen, dass sie weniger gut wählen würden. Dafür sind die Entscheidungssituationen zu unterschiedlich. Ich möchte gern helfen, diese Debatte sachlicher zu gestalten und dafür braucht es empirische Evidenz.

Und wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?
Ich habe kurz vor der jüngsten Bundestagswahl ungefähr 500 16- bis 17-Jährige nach ihren Präferenzen gefragt und wie sie wählen würden, wenn sie dürften. Dasselbe habe ich bei einer erwachsenen Vergleichsgruppe gemacht, also bei 18- bis 75-Jährigen. So kann ich vergleichen, ob der Anteil der normativ richtigen Wahlen, also der Wahlen im Einklang mit den individuellen Präferenzen, bei den 16- bis 17-Jährigen geringer ist als bei den älteren. Das war aber nicht der Fall. Die 16- bis 17-Jährigen hätten genauso häufig „richtig“ gewählt wie die älteren Wähler*innen.

Dass Jugendliche nicht genug Wissen, Reife und Erfahrung hätten, ist eines der Hauptargumente der Gegner*innen des Wählens ab 16. Welche Rolle spielen diese Faktoren tatsächlich bei der normativ „richtigen“ Wahlentscheidung?
Keine besonders große. Richtig ist, dass Leute, die sich selbst als politisch interessiert beschreiben und auch Leute, die viel politisches Wissen haben, tendenziell bessere Wahlentscheidungen treffen. Aber der Zusammenhang ist eher moderat. Es ist also nicht so, dass alle Leute, die politisch interessiert sind, gute Wahlentscheidungen treffen und alle Leute mit weniger politischem Wissen, schlechte Wahlentscheidungen. In der Entscheidungspsychologie gibt es viel Forschung die zeigt, dass Menschen auch dann gute Entscheidungen treffen können, wenn sie wenig Wissen haben oder wenig Zeit investieren, um sich zu entscheiden, zum Beispiel, weil sie gute Strategien nutzen.

Es gibt gesellschaftliche und politische Themen, die für viele erst mit zunehmendem Alter relevant werden, beispielsweise das Renteneintrittsalter oder Änderungen im Pflegegesetz oder Erbrecht. Haben Sie Hinweise darauf gefunden, dass die individuelle Relevanz dieser Themen Einfluss auf die Wahlentscheidung als solche hat?
Was für den einen Wählenden ein wichtiges Thema ist, kann für den anderen völlig unerheblich sein. Es ist auch klar, dass es Alterstrends gibt. Jüngere Leute finden andere Themen wichtiger als ältere und haben auch andere Einstellungen dazu. All das fließt bei der „Berechnung“ der „richtigen“ Wahlentscheidung aber mit ein. Methodisch ist das also alles kein Problem. Wichtig finde ich, sich vor Augen zu halten, dass es ja auch Themen gibt, die nur junge Leute betreffen. Zum Beispiel, wenn über bildungspolitische Themen, also über Schulen und Universitäten, entschieden wird. Das betrifft meist nur junge Leute, die noch im Bildungssystem stecken. Oder zum Beispiel klimapolitische Themen. Denn der Klimawandel wird das Leben junger Leute viel mehr beeinflussen als das der älteren.

Also im Klartext: Sind Ihrer wissenschaftlichen Expertise zufolge 16-jährige Jugendliche reif genug, um eine für sie richtige bzw. reflektierte Wahlentscheidung zu treffen?
Leider gibt es zu dieser Frage insgesamt wenig Forschung. Neben meiner eigenen Studie gibt es noch eine Handvoll weiterer aus anderen Ländern. Insgesamt deuten die meisten davon darauf hin, dass 16- bis 17-Jährige genauso gut entscheiden würden wie ältere Menschen. Aber natürlich ist die Absenkung des Wahlalters eine politische Entscheidung, bei der auch noch andere Überlegungen eine Rolle spielen. Wir brauchen einfach mehr Forschung zu dieser Frage. Und auch bei einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre kann man sich ja dann fragen: Was ist mit den 14- bis 15-Jährigen?

Sind die Ergebnisse Ihrer Forschung auch auf andere demokratische Länder übertragbar?
Die Ergebnisse nicht, aber die Methode. Es gibt Untersuchungen, die über verschiedene Demokratien hinweg vergleichen, wie hoch der Anteil der „richtigen“ Wahlen ist. Da gibt es sehr starke Unterschiede zwischen den Ländern, weil die politischen Systeme unterschiedlich sind, beispielsweise die Anzahl der Parteien.

Im Wahlrecht kennt man nicht nur das aktive Recht, also das Recht, selbst wählen zu dürfen. Es gibt aber auch das passive Wahlrecht, das Recht gewählt zu werden. Hier gilt für die deutschen Bundestags- Landtags- und Kommunalwahlen mindestens die Volljährigkeit. Wäre es aus Sicht der Entscheidungspsychologie sinnvoll, auch hier über eine Altersanpassung nachzudenken?
Darüber kann man sicherlich nachdenken. Mich interessiert diese Frage in meiner Forschung allerdings nicht so sehr, weil sie gesellschaftlich weniger relevant ist. Wie viele 16- bis 17-Jährige würden denn tatsächlich ein politisches Amt übernehmen wollen? Ich denke, dass sind eher wenige. Ich möchte jetzt erst mal die Wahlqualität bei den Thüringer Landtagswahlen untersuchen und da am liebsten schon bei 14-Jährigen. Und was ich auch spannend finde, ist herauszufinden, welche Rolle sozialer Einfluss und Medienkonsum spielt. Es ist auch ein häufiges Argument, dass junge Leute sich leicht beeinflussen lassen, zum Beispiel durch soziale Medien. Aber in Bezug auf Wahlentscheidungen gibt es dazu überhaupt noch keine Forschung. Das möchte ich ändern.

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Habilitandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Sozial-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie
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