"Wir haben verstörende Beweise für die akute Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen gefunden"

Einblicke
Teaserbild Prof. Dr. Elke Mack

Eine neue Studie, die jetzt unter dem Titel "Sexkauf" erschienen ist, kommt zu dem Schluss, dass die deutschen Regelungen für das Prostitutionsgewerbe nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Eine der Autorinnen ist Elke Mack, Professorin für Christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik an der Universität Erfurt. Sie beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren als Wissenschaftlerin und in beratenden Institutionen mit der Situation von Prostituierten in Deutschland. „WortMelder“ hat mit ihr über die Studie gesprochen...

Frau Prof. Mack, gibt es offizielle Zahlen dazu, wie viele Menschen in Deutschland als Prostituierte arbeiten? Eigentlich besteht ja eine Meldepflicht, oder?
Schätzungen der Innenbehörden des Bundes und der Länder besagen, dass es rund 250.000 bis 400.000 Prostituierte in Deutschland gibt, fast ausschließlich Frauen. Davon sind derzeit weniger als zehn Prozent gemeldet (knapp 24.000), jedoch nur unter 100 offiziell sozialversichert. Hieran lässt sich erkennen, dass die Meldepflicht gemäß Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) unterlaufen wird und ein riesiges Dunkelfeld existiert. Bei diesem gehen hiermit befasste Staatsanwälte und Polizeivertreter davon aus, dass es im Wesentlichen durch Menschenhandel und Organisierte Kriminalität bestimmt wird.

Wie ist denn die Lage der Prostituierten in Deutschland nach Ihrer Beobachtung?
Rund 95 Prozent der Prostituierten in Deutschland leben in Umständen, in denen ihre Grund- und Menschenrechte beständig bedroht und verletzt werden. Dies sind überwiegend Migrantinnen, fast alles Frauen aus ärmsten Verhältnissen, bildungsarm, ohne andere berufliche Perspektive. Sie leben in gesundheitsbedrohlichen Verhältnissen, oft unter Zwang und machen nach Aussagen der Innenbehörden ihre Tätigkeit überwiegend nicht freiwillig. Aus diesen Gründen habe ich mich gemeinsam mit einem Völkerrechtler und einem Verfassungsrechtler als Ethikerin in den vergangenen Jahren wissenschaftlich mit diesen Menschen beschäftigt und jetzt das Buch „Sexkauf – eine rechtliche und rechtsethische Untersuchung der Prostitution“ mit dem Nomos Verlag publiziert. Wir haben qualifizierte und hierzu kompetente Staatsanwälte, Polizeipräsidenten, Medizinier (v.a. Gynäkologen), Psychotherapeuten (Trauma-Spezialisten), Sozialarbeiter*innen und Betroffene zu Wort kommen lassen und haben verstörende Beweise für die akute Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen gefunden, die uns sogar von Freier-Seite in repräsentativen Freier-Foren (S. 206–213) bestätigt wurden. Prostituierte halten die tägliche, multiple, oft gewaltsame Penetration durch Männer einfach nicht aus (bis zu 20 Freier am Tag). Sie nehmen fast immer schweren körperlichen Schaden und weisen laut Studienlage in hohem Maße posttraumatische Belastungsstörungen analog zu Folteropfern und Kriegskombattanten auf. Das bedeutet, dass der deutsche Rechtsstaat die fundamentalen Grundrechte von Prostituierten nicht garantiert, weil es sich seit dem Prostituiertengesetz von 2001 um ein legalisiertes System ohne wirksame Rechtsstaatkontrolle von Freiern und Zuhältern handelt, das mittlerweile einen weltweiten Sexkäufermarkt bedient. Auch nach Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes im Jahr 2017 hat sich daran nach unseren Ergebnissen substanziell nichts geändert.

Bei Ihrer Untersuchung sind Sie nun zu dem Schluss gekommen, dass die hiesigen Regelungen für das Prostitutionsgewerbe verfassungswidrig sind. Inwiefern?
Zum einen haben wir die internationale Gesetzgebung recherchiert, die überwiegend prohibitiv ist, zum anderen das einschlägige Völkerrecht, die internationale Gerichtsbarkeit und alle internationalen Studien zur Prostitution, die uns verfügbar waren. Bereits hier konnten wir nachweisen, dass es einen Zusammenhang von Menschenhandel und Prostitution gibt, der auf ein rassistisches, klassistisches und sexistisches System in genere hindeutet. Internationale Studien belegen, dass die meisten Menschenrechtsverletzungen in legalisierten und nicht ausreichend regulierten Prostitutionssystemen vorkommen und es eine Rechtsstaatsillusion ist, man könne die Würde von Menschen in der Prostitution von Seiten des Staates ausreichend schützen.

Die Garantie der Würde menschlicher Personen gilt jedoch nicht nur juristisch, sondern auch ethisch als wichtigstes Prinzip zum Schutz von Menschen. Sie ist immer dann verletzt, wenn es zur Verobjektivierung und Instrumentalisierung von Menschen kommt, so dass sie ihre Selbststeuerung und Autonomie aufgeben müssen. Gerade im körperlichen Bereich ist die Fremdbestimmung die höchste Degradierung, die sich ausmachen lässt, und die gemäß Axel Honneth bis zum psychischen Tod führen kann. Ich konnte im rechtsphilosophischen Teil unter Hinzuziehung der Verfassungsrechtsauslegung in Deutschland nachweisen, dass sich genau eine solche Entwürdigung in der Prostitution tagtäglich für die Prostituierten ereignet. Denn Prostituierte müssen grundsätzlich auf ihr Recht auf Selbstbestimmung im sexuellen Akt verzichten – zugunsten der asymmetrischen Wahrnehmung durch Dritte, die eine einseitige Selbstbefriedigung kaufen und oft in rücksichtsloser oder gewaltsamer Weise wahrnehmen. Hier hilft auch keine vordergründige juristische Annahme einer vermeintlichen Freiwilligkeit im Vorfeld, die Prostitution zivilrechtlich legal machen würde. Denn auf die fundamentalere Garantie der Würde kommt es für die Menschen an, ob sie von Seiten des Staates gewährleistet ist. So wie ich meiner eigenen Versklavung im Rechtsstaat nicht zustimmen kann, sollte ich meiner eigenen sexuellen Instrumentalisierung durch Dritte auch nicht zustimmen dürfen, ohne dass der Staat einschreitet. Es scheint mir, dass im Rahmen der Prostitution nach wie vor ein Tabu der näheren Betrachtung in der deutschen Gesellschaft vorliegt, genauso wie in der Sexualgesetzgebung. Ich fordere die kritische Öffentlichkeit auf, nicht nur einfach eine sexpositive Haltung einzunehmen, sondern genau zu differenzieren, wo Sex ein Instrument der Entwürdigung und der gewaltsamen Unterdrückung sein kann – analog zu Vergewaltigung in der Ehe – und wo sie erfüllend und Glück bringend ist.

Das verfassungsrechtliche Gutachten hat Kollege Prof. Dr. Rommelfanger aus dem Verfassungsrecht vorgenommen. Er hat die Verfassungswidrigkeit gemäß Art. 1 GG nachgewiesen, in dem er rechtlich aufzeigt, dass die beiden Prostitutionsgesetze die Würde der menschlichen Person nicht schützen und auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzen. Insofern ist der Staat zu einer Totalrevision der Prostitutionsgesetzgebung verpflichtet, damit die Würde der Prostituierten durch seine eigene Gesetzgebung gewährleistet wird.

Die Welt der Prostitution ist sicher für viele Menschen und in vielerlei Hinsicht eine, die im Verborgenen liegt. Wie sind Sie denn bei Ihrer Untersuchung vorgegangen, wie haben Sie Einblick bekommen?
Wir haben selbst Betroffene aus der Prostitution befragt und sogar im Vorfeld an unserer Studie mitwirken lassen ebenso wie Sozialarbeiter*innen aus dem Feld. Darüber hinaus haben wir die erfahrensten Polizeibeamten, die für die Aufdeckung von Menschenhandel zuständig sind und waren, zu Wort kommen lassen. Außerdem haben wir Staatsanwälte, die Prozesse gegen Organisierte Kriminalität in der Prostitution geführt haben und die Strukturen der deutschen Prostitution genau kennen, befragt. Das Dunkelfeld könnte nicht größer sein, und die Aussagekraft der Bundelageberichte ist nicht aussagekräftig; das haben wir immer wieder von Seiten der eigenen Innenbehörden bestätigt bekommen. Das Problem ist, dass zu wenige deutsche Frauen freiwillig in die Prostitution gehen, so dass es einen ökonomischen Anreiz zum illegalen Schleppertum von armen, nicht widerstandsfähigen Frauen aus dem Ausland in die Prostitution gibt, die dann in der Abhängigkeit von Zuhältern und Bordellbetreibern stehen. Dies lässt sich in einem legalen System kaum verhindern, das in vielen Bundesländern kaum kontrollierbar ist, weil es generell nicht mehr unter das Strafrecht fällt.

Anders als beim Thema Menschenhandel, das ja leider oft im Zusammenhang mit Prostitution eine Rolle spielt, ist die „Sexarbeit“ in Deutschland aber inzwischen legal. Zahlreiche Menschen haben dafür gekämpft – nicht zuletzt, um die Situation von Prostituierten zu verbessern. War die Liberalisierung aus Ihrer Sicht ein Fehler?
Die Liberalisierung vor über 20 Jahren war zwar gut gemeint, ist aber hinsichtlich ihrer humanitären Zielsetzung vollständig gescheitert. Denn es war und ist eine Illusion, dass es saubere, sichere, gewaltfreie und achtsame Prostitution gäbe. Wir haben uns allerdings mit der klassischen Prostitution beschäftigt, die auch Körpereinsatz und sexuelle Penetration von Frauen oder queere Menschen durch Männer beinhaltet. Ich halte es für eine euphemistische begriffliche Verwirrung, unten den Begriff „Sexarbeit“ alles zu subsumieren, und dann Dinge, die keinen intimen Körpereinsatz von Menschen erfordern, in dem sie ausgeliefert sind oder gewaltsam überwältigt werden könne, als Vorwand für eine generelle Legalisierung her zu nehmen. Nicht einmal die Bundesagentur für Arbeit vermittelt in die Sexarbeit, ebenso wie mehrere Gerichte bestätigt haben, dass es sich hier nicht um einen „normalen Beruf“ handelt, der zumutbar wäre. Wir müssen als Wissenschaftler*innen unterscheiden, was fundamentale Rechtsverletzungen sind und was nicht und wo sie vorkommen. Moralisch oder unmoralisch ist für mich in diesem Grund- und Menschenrechtskontext keine Kategorie. Wir haben als Ethiker von Kant her eine alte Regel: Das Recht muss dort ansetzen, wo die Freiheit des einen endet und durch die Freiheit des anderen verletzt wird. Rechtsrelevant sind Interaktionen, in denen eine Person die andere, exklusiv zu ihren Zwecken, instrumentalisiert und entwürdigt. Und das ist in der klassischen Prostitution definitiv und nachweislich der Fall.

Was müsste denn Ihrer Ansicht nach geschehen, um die Lage von Prostituierten wirklich zu verbessern?
Wir sollten Täter und potenzielle Opfer unterscheiden. Das ist das Wichtigste. Wir sollten uns dann klar machen, dass Prostitution nach wie vor zu 95 Prozent eine Interaktion ist, bei der Männer den Körper von Frauen benutzen um ihrer eigenen Befriedigung willen. Die queere Prostitution ist eine Randerscheinung, aber ebenso tragisch für die Betroffenen. Wir sollten uns deshalb ganz nüchtern eingestehen, dass die einseitige und asymmetrische Wahrnehmung von Sex versklavend, entwürdigend und entmenschlichend für die Betroffenen ist und sie deshalb unter die Kategorie der sexuellen Gewalt eingeordnet werden muss. Letztere kann durch den Rechtsstaat trotz noch so gut gemeinter Schutzgesetze in der Prostitution nicht ausgeschlossen werden. Wenn es sich deshalb um eine Rechtsstaatsillusion handelt, im Rahmen der Prostitution Gewalt und Entwürdigung auszuschließen – worauf alle Indizien, Studien und Beweise hindeuten -, dann darf der Staat Prostitution nicht für ein legales Gewerbe erklären und Bordelle für die Weltnachfrage erlauben.

Die zivilisatorische Erkenntnis, die viele andere Rechtsstaaten um uns herum hieraus gezogen haben, besteht darin, nicht Prostitution per se, sondern die Wahrnehmung von Prostitution zu bestrafen. Dies ist das sogenannte Nordische Modell der Prostitution, das es in verschiedenen Varianten gibt. Es tritt dann eine erhebliche Humanisierung, Kontrolle und Entkriminalisierung ein, so dass Menschenhandel versiegt, die Morde, Gewaltakte und Körperverletzungen gegenüber Prostituierten abnehmen und Prostituierte durch den Rechtsstaat menschliche, soziale und berufliche Alternativen und Ausstiegshilfen erhalten. Zuhälter und Freier hingegen werden effektiv bestraft, so dass sich viele Freier als Nachfrager zurückziehen und die Organisierte Kriminalität in diesem Feld zu wenig Profite macht, als dass es weiterhin von Interesse wäre. Genau dies wünschen wir drei Autoren uns zugunsten der Menschenwürde der Prostituierten. Wenn es trotz vorliegender Beweise und logischer Zusammenhänge keine parlamentarische Mehrheit für ein solches Modell gibt, müsste wenigstens ein Viertel des Deutschen Bundestags eine Normenkontrollklage gegen das ProstG und ProstSchG beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Die notwendigen Argumente, den Würdeschutz der Prostituierten ernst zu nehmen, liegen nach unserem Buch für die Bundestagsabgeordneten vor. Denn hier handelt es sich um die Ärmsten der Armen, die unseren Schutz verdienen. Daran bemisst sich das zivilisatorische Niveau einer liberalen Gesellschaft und eines demokratischen Rechtsstaates.